"Ein was?" Verblüfft starre ich sie an.
"Ein Panoptikum", wiederholt sie geduldig. "Ein Wachsfigurenkabinett."
"Was, bei den Göttern, soll das denn sein?" Neugierig hebe ich den Oberkörper und stütze mich auf einen Ellbogen, um sie besser ansehen zu können.
Sie sitzt im Schneidersitz ganz in meiner Nähe und grinst belustigt.
"Jetzt sag nicht, du hast davon noch nie gehört! Das ist eine echte Sehenswürdigkeit!"
Mit einer ungeduldigen Handbewegung winke ich ab. "Mag ja alle sein, aber was genau soll das sein? Wachsfiguren? Was zeigen die?"
Sie lacht ungläubig. Ihre Augen blitzen vor Amüsement. "Du hast wirklich noch nie davon gehört? Was gibt es in deiner Heimatstadt denn für Sehenswürdigkeiten?"
Genervt verziehe ich die Mundwinkel und sehe sie auffordernd an, und glücklicherweise spannt sie mich nicht weiter auf die Folter.
"Ist ja schon gut", sagt sie versöhnlich. "Im Wachsfigurenkabinett werden gegen ein Eintrittsgeld aus Wachs gefertigte Kopien von Personen ausgestellt. Die werden dann mit passender Kleidung und den nötigen Ausrüstungsgegenständen versehen und in Pose gebracht. Manchmal werden ganze Szenen aus ihrem Leben nachgestellt, manchmal stehen sie einfach nur da, damit die Leute wissen, wie sie überhaupt aussehen und sich ein Bild von ihnen machen können. Und sie sind wirklich gut gemacht! Selbst, wenn man richtig nah ran geht, erkennt man meist erst im allerletzten Moment, ob es sich um eine Figur oder einen Menschen handelt." Dann lacht sie plötzlich. "Stell dir vor - es soll sogar einen Wächter geben, der sich gern unter die Figuren mischt und stocksteif dasteht, bis die Besucher bei ihm angekommen sind - nur, um sich dann urplötzlich zu bewegen und sie zu erschrecken!"
Die Vorstellung lässt auch mich grinsen, doch ich bin immer noch verwirrt.
"Aber warum sollte man sich diese Figuren anschauen gehen?"
"Oh, da gibt es unterschiedliche Gründe. Manche wollen einfach wissen, wie der Fürst eigentlich aussieht - für den unwahrscheinlichen Fall, ihm auf der Straße zu begegnen. Andere genießen den Schauer, der ihnen beim Betrachten einer bestimmten Folterszene über den Rücken läuft. Nun, und wieder andere ... sagen wir so, eine der wirklich attraktiven weiblichen Wachsfiguren steht immer mal wieder praktisch unbekleidet in der Ausstellung." Wieder prustet sie los.
Nachdenklich lege ich mich wieder hin, verschränke die Arme hinter dem Kopf und betrachte sinnierend den Sternenhimmel über uns. Die von ihr genannten Gründe sind einleuchtend, aber wirklich nachvollziehen kann ich sie nicht.
"Aber ..." Ich breche ab, denke nochmals über meine Frage nach. "Ich verstehe es nicht. Warum sollte man Geld dafür bezahlen, solche Figuren zu betrachten? Der Fürst hält eine öffentliche Audienz, gruseln kann man sich bei Geschichtenerzählern auch, und nackte Frauen ... nun, für das Eintrittsgeld kann man sich die vermutlich auch irgendwo anders ansehen, sogar bewegt."
Ratlos hebt sie die Schultern. "Ich weiß es auch nicht. Ich war mal drin, aus Neugier, weil alle davon reden. Der handwerkliche Aspekt ist wirklich beeindruckend, aber abgesehen davon kann ich es nicht unbedingt weiterempfehlen."
Ich werfe ihr einen schelmischen Seitenblick zu. "Soso, du ziehst mich auf, dass ich es nicht kenne, dabei ist es gar nicht sehenswert? Schämst du dich denn gar nicht?"
Mit gespielter Empörung schlägt sie in Richtung meines Oberarms, doch ihre zuckenden Mundwinkel verraten sie. Mit Leichtigkeit blockiere ich ihren Schlag und lächle. Solche Kabbeleien machen Spaß mit ihr, und ich bin froh, dass wir uns inzwischen so gut kennen.
Dann werde ich wieder ernst. "Wie werden die Figuren denn hergestellt? Ich meine, handwerklich. Man kann eine Person ja nicht einfach aus dem Gedächtnis kopieren, oder?"
"Hm." Nachdenklich streicht sie über ihre kurzen Haare, während ihr Blick sich in der Ferne verliert. Sie nimmt sich Zeit für die Antwort. "Ich glaube, das ist ganz unterschiedlich. Einige Personen gestatten den Herstellern, einen Abdruck ihres Gesichts anzufertigen und Maß zu nehmen, ähnlich wie Schneider. Bei anderen ... ich weiß es nicht. Vielleicht suchen sie sich für die geschichtlichen oder mythischen Charaktere ja Personen, die ihrer Vorstellung ungefähr entsprechen, und nehmen von ihnen einen Abdruck?"
"Vom ganzen Körper?", frage ich wieder grinsend. Die Vorstellung scheint mir allzu interessant.
Sie lacht. "Wäre jedenfalls sehr spannend. Dann würde es sich mal lohnen, alle Figuren auszuziehen. Wer weiß, wie der Fürst nackt aussieht?"
Diesmal stimme ich in ihr Lachen ein. "Stell dir vor, wie das wäre - das Fürstliche Leibregiment, das die Figuren bewachen muss, damit niemand dem Herrscher an die Wäsche geht! Eigentlich eine hervorragende Idee!"
Die Vorstellung bringt uns beide so sehr zum Lachen, dass wir uns nach kurzer Zeit Tränen aus den Augen wischen und zu Atem kommen müssen.
Ich räuspere mich und bemühe mich wieder um Ernst. "Schmilzt das Wachs im Sommer nicht?", erkundige ich mich weiter.
Kopfschüttelnd verneint sie. "Es ist irgendeine spezielle, geheime Rezeptur. Man munkelt, dass die Zutaten ausschließlich durch den Schmuggel in die Stadt gelangen können."
Das lässt mich aufhorchen. Ich drehe mich ihr zu, bette den Kopf auf einen Arm und sehe sie interessiert an.
"Das hört sich spannend an. Weißt du Näheres?"
Bedauernd seufzt sie. "Leider nicht. Es wäre zu schön, mehr zu erfahren. Ich hätte den Herstellern gern das eine oder andere verkauft ... da lässt sich bestimmt ein gutes Geschäft machen!"
Mir geht es mehr um die Informationen. Es ist immer gut, die Geheimnisse anderer Leute zu kennen. Wissen ist wahrhaftig Macht, sei es, um von besagten Leuten Gefälligkeiten zu erbitten oder die Informationen gegen andere einzutauschen.
"Sollte ich je in die Stadt zurückkommen, werde ich mir das Kabinett anschauen", erkläre ich.
Überraschung zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. "Ich denke, es interessiert dich nicht?"
Ich lächle vielsagend. "Du hast behauptet, es sei eine Sehenswürdigkeit. Und wer bin ich, deinem Wort zu misstrauen? Handwerkskunst zu bestaunen ist kein schlechter Zeitvertreib ..."
"Ich glaube dir kein Wort", erwidert sie neckend. "Du bist ein verdammter Dieb. Was genau willst du mitgehen lassen? Das Rezept für das Wachs? Oder doch eher die Kleidung der einen oder anderen Figur?"
Vieldeutig hebe ich die Schultern und schenke ihr einen unschuldigen Blick.
Noch habe ich mich nicht entschieden, welcher Herausforderung ich mich annehmen will.
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Die Handlung dieser Geschichte findet während des (leider noch unveröffentlichten) dritten Abenteuers meines Rollenspielcharakters Talfan statt. Wer mehr über ihn erfahren möchte, kann hier bei seiner Hintergrundgeschichte anfangen:https://belletristica.com/de/books/16195-talfan-desidero-von-vascagni/
Diese Geschichte entstand im Rahmen der SiXTY-MiNUTES-Challenge. Die Beiträge der anderen Teilnehmer sind hier gesammelt: https://belletristica.com/de/books/16378-sixty-minutes-linksammlung/chapter/63916-sm-010-22-09-2019 - Lesen lohnt sich!