Sommer 1979
Auf nackten Füßen schleiche ich mich leise aus dem Haus, hinten durch die Tür in unseren Garten. Das kleine Kästchen halte ich fest an mich gedrückt. Sobald meine Füße den warmen Wiesenboden berührt haben, renne ich los. Renne durch den Rosenbogen, springe über die kleine Buchsbaumhecke, lasse den Garten hinter mir und laufe über das Stoppelfeld und komme schließlich außer Atem an der alten knorrigen Eiche an. Die Zweige hängen tief und unter dem Blätterdach bin ich vom Haus aus nicht mehr zu sehen.
Hier ist mein Refugium, hier finde ich Schutz.
Erschöpft lehne ich mich an die alte Eiche und setze mich schließlich im Schneidersitz auf den trockenen warmen Boden. Mein weißes Kleid streiche ich glatt und klappe dann mein braunes Kästchen auf...
Ein roter Stift und ein kleines grünes Büchlein mit bunten Blumen liegen darin.
Ich blätter die beschriebenen Seiten um und fange an, eine neue weiße Seite zu füllen:
Wieder hast du es getan. Hast mich auf deinen Schoß gezogen und mir komische Sachen ins Ohr geflüstert. Deine Hände sind unter mein Kleid gegangen und haben mein Höschen zur Seite geschoben...
Ich wische mir eine Träne aus dem Gesicht und schaue in die leuchtende Baumkrone. Dieses Buch ist mein Geheimnis und wenn ich größer bin, dann werde ich mutig sein und diese schmutzigen Sachen, werden kein Geheimnis mehr bleiben.
"Marie", höre ich meine Mutter aus dem Garten rufen. Vor Schreck rutscht mir mein Buch aus dem Schoß. Schnell stehe ich auf, streiche mir meinen Rock glatt und schiebe das Büchlein unter meine Jacke.
Während ich zurücklaufe, zieht sich mein Magen wieder zusammen und ich fange an zu frieren. Ich weiß genau, warum sie mich ruft. Am liebsten möchte ich weglaufen, soweit mich meine Füße tragen, aber dazu fehlt mir der Mut.
Außer Atem renne ich durchs Gartentor, während meine Mutter schon ungeduldig wartet.
"Meine Güte, Marie. Immer muss ich dich suchen und nach dir rufen. Los, hol Vater von der Kneipe ab. Klaus hat angerufen, dein Vater hat mal wieder zu tief ins Glas geschaut. Beeil dich, ja?!"
Widerwillig drehe ich mich um und laufe ins Dorf. Mein Magen zieht sich noch mehr zusammen und meine Lippen fangen an zu zittern. Wie ein großer Stein drückt sich mein Buch an meine Brust. Das Geheimnis wiegt schwerer von Tag zu Tag.
Vor der Kneipe bleibe ich stehen. 'PANOPTIKUM' steht in verblassten Buchstaben über der Tür. Letztes Jahr konnte ich noch nicht so gut lesen, was es bedeutet weiß ich zwar immer noch nicht, aber für mich sind diese Buchstaben der Vorhof zur Hölle.
Die Tür öffnet sich und mein Vater tritt schwankend heraus.
"Na, da isse ja...meine Klene", lallt er und streicht über meine Wange. Den Rest des Weges nehme ich nichts mehr richtig war. Ich weiß, was mir gleich bevorsteht.