„Einfahrt Linie 16 von Gleis 2“, tönte eine automatisierte Frauenstimme über die Plattform der U-Bahnstation.
Mika lehnte sich an einen Pfeiler und zog noch einmal tief an seiner Zigarette, bevor er sie auf dem Boden ausdrückte. Ein frischer Herbstwindstoß zerzauste die langen, schwarzen Haare, die ihm im Gesicht hingen. Er trat an die Bahnplattform heran und blickte über seine rechte Schulter. Der alte, silberne Zugwagen der U-Bahn rauschte an ihm vorbei, gefolgt von zahllosen Fenstern und Türen. Kreischend kam sie zum stehen, und eine Doppeltür schwang vor ihm auf. Mika ging die Stufen vor der
Wagontür hinauf und suchte sich einen Fensterplatz in einer leeren Vierersitzgruppe. Durch das Fenster sah er, wie die Uhr am Bahnsteig 5:30 schlug. Die Sonne begann langsam, den Himmel gelblich-rot zu färben, und einige Leute nahmen verschlafen in anderen Sitzgruppen der Bahn platz. Er war nicht verschlafen, oder müde. Er war die ganze Nacht wach gewesen, in seinem Bett, die Zimmerdecke anstarrend.
Er lehnte seinen Kopf an die Fensterscheibe, während Bäume, Häuser und Straßenlaternen zu einem fast unsichtbaren Flimmern vor den Gipfeln des Gebirges verschwammen. Station um Station strichen vorüber und die Bahn wurde leerer.
„Station Sieben. Endstation“, tönte dieselbe Frauenstimme nach einiger Zeit schließlich. Mika hob den Kopf, blickte noch einmal aus dem Fenster und stand auf.
Seine Füße waren nass. Er blickte herum. Die Haltestelle war umgeben von Wasser, beinahe wie ein Meer. In drei Richtungen war nichts zu sehen außer der hellblauen Weite, die sich bis zum Horizont erstreckte. Und die Schienen der Bahn, die von dort aus scheinbar ins nichts zu verlaufen schienen, bis
hinter den Horizont in eine unbekannte Welt. Hinter sich sah er in der Ferne noch das Festland, friedlich und verträumt, wie es vom licht der aufgehenden Sonne angestrahlt wurde. Er ging einen Schritt vorwärts, auf das Wasser zu und in es hinein. Es war nicht besonders hoch, es reichte ihm gerade einmal bis zu den Knöcheln. So ging er noch einen Schritt. Das Wasser wurde auch hier nicht tiefer. So ging er noch einen Schritt. Und noch einen. Mika machte viele Schritte, ging nun schon in einem zügigen Tempo den Weiten entgegen, weiter und weiter weg vom Festland.
Die Sonne stand schon höher, als er stoppte. Eine Insel war zu sehen, sie erhob sich vor ihm aus dem Meer. Mika rieb sich die Augen. Es war ein bizarrer Anblick, die Insel sah städtisch aus. Sie sah aus, wie seine Heimat. Er konnte klar den Eingang zum Stadtpark erkennen, die kahlen, grauen Häuserblocks, die sich links und rechts des Parks entlangreihten, und er erkannte zwei Personen. Kinder, viellleicht Jugendliche.
Mika rannte auf die Insel zu, bis er klarer erkennen konnte, das es sich wohl um jugendliche handelt, vielleicht um die 14. Er kam näher, die Schrift des Parkeingangsschilds war nun lesbar. Und er erkannte das Gesicht einer der Jugendlichen. Er würde es unter tausenden Gesichtern wiedererkennen. Das war das Gesicht seiner besten Freundin, zu einer Zeit, mittlerweile einige Jahre her. Und er erkannte... sich selbst. Zumindest seinen Hinterkopf.
„Ich bin Smilla. Und du bist?“, fragte das Mädchen den Jungen.
„M... Mika“, erwiderte dieser, leise und unsicher.
Er erkannte die Szene. Als ob eine längst begrabene Erinnerung wieder zum Vorschein kam, begannen seine Augen zu leuchten. Er trat zu den Kindern, wollte unbedingt dabei sein, wie er Smilla kennenlernte.
Doch als sie ihn bemerkten, kicherten sie nur und rannten weg.
Mika stand nur da. Es war ein seltsamer Ort, doch aus irgendeinem Grund machte ihm die Begegnung mit seinem jüngeren Selbst nichts aus. Es fühlte sich richtig an.
Mika zündete sich noch eine Zigarette an, und entschied sich zu einem Spaziergang im Stadtpark.
Große, alte Weiden spendeten den verwinkelten, kleinen Wegen Schatten und Schutz, und er setzte sich, an einen Weidenstamm gelehnt, hin. Vor ihm war eine Parkbank. Erst jetzt fiel ihm auf, dass auf der Parkbank zwei Menschen saßen. Es waren wieder dieselben Menschen. Smilla und er selbst saßen auf der Bank, aber es hatte sich etwas geändert. Sie sahen älter aus. Trauriger.
„Geh einfach!“, schluchzte Smilla durch Tränen hindurch, den Blick abgewandt.
„Ich weiß, dass du das nicht so meinst! Was ist los?“, bohrte der immernoch etwas jüngere Mika und versuchte, Smilla zu umarmen.
„Vergiss es...“, erwiderte sie flüsternd. Es war zu leise, als dass er es, aus der Entfernung hätte hören können. Doch er erinnerte sich noch sehr gut an die Worte. Niemals könnte er sie vergessen.
Smilla stand auf und rannte weg, in die Tiefen des Parks, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Der jüngere Mika blieb allein auf der Parkbank zurück. Seine Augen waren leer, sein Blick ins Nirgendwo gerichtet.
Mika stand auf, um sein jüngeres Selbst zu trösten. Der Anblick allein reichte aus, um ihm das Herz erneut zu zerbrechen. Doch als der jüngere Mika ihn bemerkte, stand er auf und rannte weg.
Mika setzte sich auf die Parkbank und atmete. Sein Kopf war leer, sein Herz fühlte sich an, als würde es bersten. Ein Geruch stieg ihm in die Nase. Ein leichter, bitterer Geruch, mit ein klein wenig Süße. Mika wurde sofort aus seinen Gedanken gerissen. Dieser Geruch war wie kein anderer.
Er drehte sich um. Hinter ihm stand eine offene Tür. Sie war an nichts befestigt, hinter ihr war nichts zu sehen außer der Weite des Parks, doch wenn er durch die Tür blickte, sah er einen Raum. Er stand auf und näherte sich. Je näher er kam, desto klarer wurde ihm: hinter der Tür lag sein Zimmer. Langsam, mit einer Übelkeit, die er schon lang nicht mehr gefühlt hatte, trat Mika ein. Er erkannte seinen Kleiderschrank, Schreibtisch, sein Bücherregal, und sein Bett. Eine Person lag in seinem Bett.Erlag in seinem Bett. Er, nicht jünger, nicht älter, sondern wie er jetzt war, in diesem Moment. Mika trat näher an sich heran. Der Geruch wurde intensiver, Mika wurde schlecht. Durch die dünnen Wände hörte er das Weinen einer Frau.
Das Weinen seiner Mutter. Er blickte auf sein Selbst im Bett. Es war bleich, beinahe schneeweiß und starr. Der bittere Geruch stieg im stärker in die Nase. Der Geruch von Toten.
Mika schrie, stolperte zurück und rannte aus der Tür hinaus. Er schlug sie mit Gewalt hinter sich zu und fiel zurück. Er war wieder im Wasser. Flaches, knöchelhohes Wasser überall. Vor ihm Stand die Tür, fest geschlossen und frei über dem Wasser schwebend. An der Tür war eine Notiz festgemacht.
Mika stand zitternd auf und las.
„Danke für alles. Du warst ein guter Freund, aber ich muss jetzt ohne dich weiter. Alles Gute und ein glückliches Leben. Smilla.“
Darunter stand etwas geschrieben, unordentlich hingekritzelt, aber er
erkannte seine eigene Handschrift.
„Goodbye“