Es war nur ein Traum. Mit rasendem Herzen, aber immerhin weder schweißgebadet noch keuchend schlage ich die Augen auf und starre ins Dunkel.
Ich warte, bis mein Herzschlag sich wieder beruhigt hat. Doch an Schlaf ist nicht mehr zu denken - mein Kopf ist wach, egal, was mein Körper davon hält, und beginnt sofort wieder damit, um die Ereignisse der letzten Wochen, insbesondere der letzten Tage zu kreisen.
Ich weiß nicht, wie ich das alles weiter ertragen soll.
Verzweifelt schließe ich die Augen, versuche, mich auf eine schöne Erinnerung zu konzentrieren, die letzten Tage einfach auszublenden. Doch egal, an was ich denke, es führt immer wieder zu einem der Ereignisse, die mich so hart getroffen haben.
'Reden hilft', behauptete Lutisana.
Vielleicht helfen Selbstgespräche dann ja auch?
Möglicherweise ist jetzt, mitten in der Nacht, völlig ungestört von allen und allem anderen, der richtige Zeitpunkt, alles zu durchdenken?
Eigentlich will ich nicht darüber nachdenken, weitermachen, als sei alles in Ordnung, in der Hoffnung, dass der Schmerz verblasst. Aber das funktioniert schon seit Tagen nicht.
Also gut.
Was waren die einzelnen Schläge, die mich erwischt haben?
Es begann damit, dass ich mich einer Gruppe angeschlossen habe. Ich war bislang immer alleine unterwegs gewesen, habe selbst entschieden, was ich wann wie mache. Musste mich nicht abstimmen und diskutieren. Meine Meinung wurde nie ignoriert. Natürlich, ich habe so auch interessante neue Ideen entwickeln können. Aber es war mir wirklich schwergefallen, mich zu integrieren, mich unterzuordnen. Und noch immer spüre ich, dass die anderen etwas zusammenhält, das sich mir entzieht.
Freundschaft und Vertrauen. Es hat lange gedauert, bis ich so weit war, den anderen diese Gefühle entgegenbringen zu können. Vermutlich ist es das, was mir jetzt immer noch diese Fremdheit vermittelt. Durch die lange Zeit, die ich brauchte, sind meine Bande nicht so fest wie die der anderen. Ich beneide sie darum. Das tut weh.
Dann Alfons. Mein Esel ist seit so vielen Jahren mit mir unterwegs gewesen, war mein Freund, mein Kamerad. Er ist mir überall hin gefolgt, hat mich nie im Stich gelassen. Nie. Er war der Einzige, auf den ich mich immer verlassen konnte.
Ihn zurückzulassen, wenn auch in guten Händen, fühlte sich an, als ließe ich einen Teil von mir selbst zurück. Er fehlt mir schrecklich.
Und dann er ...
Ich war bis vor wenigen Wochen überzeugt, dass ich einfach nicht für die Liebe gemacht bin. Noch nie habe ich mich verliebt, noch nicht einmal verstanden, wie andere so in Schwärmerei für jemanden verfallen konnten, den sie doch gar nicht wirklich kannten. Das Konzept war mir derartig fremd, dass ich mich selbst nicht verstanden habe, als es mich dann erwischte.
Aber ich Ignorant hatte mich nie mit so was beschäftigt ... Ich war völlig überfordert von den Situationen, in die ich immer wieder gestolpert bin, habe mich selbst nicht mehr verstanden, und seine Aktionen sowieso nicht. Ich war so froh, dass er einfach irgendwann die Führung übernahm ... aber ich habe es ihm nie gesagt. Dass ich froh bin, meine ich. Ich habe ihm auch nie gestanden, dass ich mich in ihn verliebt habe.
Wenn ich das getan hätte, wäre dann alles anders ausgegangen oder hatte diese seltsame Beziehung ohnehin nie eine Chance? Er behauptete so oft, wir würden uns zu sehr unterscheiden.
Vielleicht hat er Recht.
Aber noch kann ich es einfach nicht glauben. Ich wünschte, es gäbe irgendeine Chance, ihn zurückzugewinnen. Doch es gibt keine.
Vielleicht wird es besser, wenn ich ihn nicht mehr jeden Tag sehe. Wenn wir getrennte Wege gehen und einander nie wiedersehen.
Nie wieder ...
Vielleicht war er meine einzige Chance, mich zu verlieben. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt - und wie lange sie noch andauert? Vielleicht muss ich mich glücklich schätzen, diese Gefühle überhaupt einmal empfunden zu haben? Ist es besser, etwas zu kennen und zu verlieren, als es nie gekannt zu haben? Ich weiß einfach nicht, wie die Antwort auf diese Frage lautet ... im Moment wünschte ich, ich hätte Liebe nie kennengelernt!
Aber vielleicht sehe ich das später einmal anders.
Ich hoffe es.
Aber ihn verloren zu haben ist das schmerzhafteste Gefühl, das ich je hatte.
Nein, das stimmt nicht ganz. Das schlimmste Gefühl ist, dass die Götter sich gegen mich gewandt haben. Nein, nicht gegen mich - dafür interessieren sie sich wohl nicht genug für mich. Dass sie mich benutzen wie eine wertlose Marionette.
Ich habe ihnen mein Leben gewidmet. Ich habe meine Weihe mit Freude empfangen. Ich habe ihnen immer treu gedient, ihre Wünsche erfüllt, alles akzeptiert, was sie mich erleben ließen, selbst meinen grausamen Vater. Ich habe ihnen immer vertraut.
Sie sehen uns Menschen wie ihre Kinder, hat man mich gelehrt. Und ich habe es geglaubt.
Sie wollen uns helfen, auch, wenn es im Moment nicht danach aussieht. Ich habe es geglaubt.
Sie schenken uns Trost. Mir haben sie das zahllose Male.
Und jetzt das.
Sie zwingen mich in eine Richtung, in die ich nicht gehen will, nehmen mir jede Möglichkeit, selbst zu entscheiden. Und als ich etwas beschließe, das ihren Plänen zuwider läuft, bestrafen sie mich. Und nicht nur mich.
Das ist das Schlimmste. Dass sie nicht nur mich bestraft haben, indem sie ihm seine Gefühle für mich entrissen. Oder ist ihm die ganze Sache egal? Kann er einfach weitermachen, als hätte es die Intimität zwischen uns nie gegeben?
Ich hoffe es für ihn. Ich will, dass die einzige Person, die ich liebe, glücklich ist. Oder es zumindest wird.
Aber ich wage es nicht, darum zu beten.
Die Götter benutzen mich nur noch. Was, wenn ich um etwas bitte, und dann etwas tue, das ihnen nicht gefällt? Sorgen sie dann dafür, dass das Gegenteil eintritt? Ich kann das um seinetwillen nicht riskieren!
Werden sie mich fallenlassen, sobald wir diese vermaldeite Prophezeiung erfüllt haben, ich keinen Nutzen mehr für sie habe? Bin ich dann nichts als eine intensiv verwendete, gebrochene Puppe, die auf den Abfallhaufen geworfen wird?
Was ist mein Leben dann noch wert?
Sie haben mir immer Halt gegeben, Zuversicht, eine Aufgabe, etwas, wofür es sich zu leben lohnte. Sie waren meine einzigen Vertrauten.
Ich weiß, dass sie mich opfern würden, um den Rest der Welt zu retten. Ich weiß auch, dass das richtig ist. Aber die Gleichgültigkeit, die sie mir gegenüber an den Tag legen, verletzt mich tiefer, als ich es für möglich gehalten hätte.
Marionette.
Selbst Phex, meinem Hauptgott, kann ich nicht mehr völlig vertrauen. Ja, er will mir helfen, er tut, was er kann - aber er wird sich nicht gegen den Willen der anderen elf Götter auflehnen. Er wird mich heimlich unterstützen, aber er wird mich nicht offen verteidigen.
Niemandem bin ich so viel wert, dass er mich verteidigen würde. Nur Alfons. Und der ist nicht da.
Ich habe nie jemanden nahe an mich herangelassen, weil ich nicht verletzt werden wollte. Jetzt bin ich allein - und das ist meine Schuld.
Wäre ich mein Problem mit Nähe doch nur früher angegangen. Ich hätte gelernt, mich in Gruppen einzufügen, Beziehungen zu haben, mit einem gebrochenen Herzen umzugehen, hätte mehr als nur meinen Esel, der mich uneingeschränkt liebt, und nicht nur die Götter, auf die ich vertraue. Aber jetzt ist es dafür zu spät.
Und all diese Erkenntnisse in den letzten Tagen.
Ich lasse mir meine Emotionen nicht anmerken, so, wie ich es schon immer gehandhabt habe. Wer mich betrachtet, sieht nur den zähen, ausdauernden, kämpferischen angeblichen Händler beziehungsweise Phexgeweihten, wenn er um mein Geheimnis weiß.
Aber ich weiß nicht, wie lange ich diese Fassade noch aufrecht erhalten, wie lange ich noch funktionieren kann.
Ich fürchte, wenn noch ein weiterer Schlag mich trifft, zerbreche ich.
Und davor habe ich Angst.
Das ist es.
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Die Handlung dieser Geschichte findet während des (leider noch unveröffentlichten) dritten Abenteuers meines Rollenspielcharakters Talfan statt. Wer mehr über ihn erfahren möchte, kann hier bei seiner Hintergrundgeschichte anfangen: https://belletristica.com/de/books/16195-talfan-desidero-von-vascagni/
Diese Geschichte entstand im Rahmen der SiXTY-MiNUTES-Challenge. Die Beiträge der anderen Teilnehmer sind hier gesammelt: https://belletristica.com/de/books/16378-sixty-minutes-linksammlung/chapter/64430-sm-011-25-09-2019 - Lesen lohnt sich!