„Manchmal wünsche ich, dass ich dir nie begegnet wäre!“ Tanja nahm die Blicke in ihrem Rücken war. Der Kellner, der sich zu ihr umdrehte, das gespielte Hüsteln der Frau am Tisch neben ihnen.
„Tanja!“, zischte auch er und ließ die Speisekarte sinken. Selbst das tat er mit unglaublicher Eleganz. „Lass uns das zu einem anderen Zeitpunkt besprechen.“
„Und wann?“, fragte sie. Sie sah ihm nicht in die Augen, sondern starrte mit nassen Augen den Dornfelder in ihrem Glas an. Ihr Gesicht spiegelte sich im Rand. War wirklich sie das? Wo war das Mädchen, die Frau, die sie einst gewesen war? Verloren. Gebrochen. Tränen. Sie rannen ihr über die Wangen, verfingen sich gleich blassen Perlen in den Strähnen ihrer kunstvollen Hochsteckfrisur.
„Sobald ich von meiner Geschäftsreise zurück bin, Liebling.“ Er würde dieses Gespräch nicht vergessen. Es war ein Punkt seiner Liste, den er abzuhaken hatte. Vielleicht würde er sich sogar eine Bemerkung in seinen dunkelblauen Terminkalender eintragen und sich einen freien Abend dafür suchen.
„Nein.“ Tanja war selbst erstaunt über die Widerstandskraft in ihrer Stimme. Ihre Hand langte über den Tisch und legte sich auf seine rechte Hand. Sie konnte den Ehering spüren. Gold für eine schwarze Beziehung voller Lügen. „Ich hätte dich damals gebraucht, Sebastian. Heute ist es zu spät.“
„Wenn ich dich verstehen soll, musst du dich klarer ausdrücken, Liebling.“ Oh, wie sie es hasste, wenn er ihr gegenüber seine Juristensprache rausrückte.
„Vor einem Jahr, Schatz.“ Das Essen auf ihrem Teller wurde kalt. Sorgfältig drapierte Häppchen verloren ihre Wärme. Gleichgültig. Ihr Herz war seit einem Jahr zu Eis zerstarrt. Nur hatte sie erst jetzt den Kopf weit genug gehoben, um es zu sehen.
„Liebling“, wiederholte er, „Bitte sage mir doch, was dich beschäftigt.“
„Hast du mir denn damals zugehört?“, fragte sie leise. „Hast du meine Tränen gesehen?“
Sebastian lächelte. „Liebling, jetzt…“
„Hör auf damit!“ Ruckartig ließ sie seine Hand los. „Ich kann es nicht mehr hören.“ Tanja senkte den Kopf. „Ich wünschte, ich hätte nein gesagt, als du um meine Hand angehalten hast. Ich wünschte, ich hätte auf meine Mutter gehört.“ Eine einzige Träne platschte auf ihren Teller und ertränkte den an den Rand geschobenen Olivenkern. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich wünschte, ich wäre stark genug gewesen, dir zu widersprechen.“ Sie hatte es gespürt…Und doch Ja gesagt. Hatte den größten Fehler ihres Lebens begangen und sich eingeredet, dass es die richtige Entscheidung gewesen wäre.
„Tanja. Jetzt beruhig dich doch erst einmal. Sieh mal, die Leute gucken schon.“
„Lass sie gucken“, fauchte sie und verspürte dennoch keine Genugtuung, sondern nur Leere. „Es ist mir gleich, Sebastian. Ich will nur noch raus hier.“
„Das Essen, Liebling. Wir können doch dabei reden.“ Er nahm ihre Hand.
Der kleine Junge am Nachtbartisch sah zu ihnen, das Essen, dem er sich zuvor mit großer Hingabe gewidmet hatte, war vergessen. Wie groß seine Augen waren, wie hübsch seine blonden, feinen Kinderlocken.
„Nein!“ Sie entriss ihm seine Hand und schleuderte dabei ihr Glas mit Wein um. Rot tränkte die weiße Tischdecke.
„Du hast deine Tabletten vergessen, Liebling, nicht wahr? Es wird dir besser gehen, wenn du sie genommen hast.“
Blind starrte sie ihn an. „Damit lässt sich bei dir alles erklären. Zahlen. Fakten.“
„Natürlich, Liebling.“ Er breitete mit einer eleganten Geste seine Hände aus und sah sie an. „So funktioniert die Welt.“
„Nein.“ Tanja schüttelte den Kopf. „Wenn sie so funktionieren sollte, woher kommt dann der Schmerz?“
„Du warst depressiv, Schatz“, erklärte er. Erklärungen. Immer. „Ich habe mich so gefreut, dass es dir wieder besser geht und dass wir heute endlich einmal wieder ausgegangen sind. Ich liebe dich und es macht mich…“
„Aber weshalb?“, unterbrach sie ihn. „Weshalb war ich depressiv?“
„Du hast eine schwere Phase durchgemacht, Liebling. Das ist okay. Aber es ist es Zeit, nach vorne zu sehen und neu zu beginnen.“
„Nach vorne sehen? Ich kann nicht, Sebastian. Es war ein Fehler.“
Der Stuhl schabte unangenehm gegen das Parkett, als sie ihn zurückschob.
„Leb wohl, Sebastian.“ Ihr Ehering fiel auf den Tisch, rollte hinab und irgendwo unter die Tische.
„Was?“ Er war so verdutzt, dass auch er seine Zurückhaltung vergaß. Man wies einen Sebastian von Hofe nicht vor allen Leuten ab.
„Du übertreibst! Es war ein Haufen Zellen. Eine biologische und zeitliche Notwendigkeit. Wir beide wussten, dass es das Beste war.“
Noch einmal wandte sie sich um, blickte ihn an, dem Mann, an den sie ihr altes Sein geschmiedet hatte.
„Es war unser Kind. Ein Kind, dessen Herzschlag ich gespürt habe.“ Und sie hatte es getötet. Hatte ihm zugestimmt, als er ihr gesagt hatte, dass sie kein Kind gebrauchen konnten.
„Unser Kind“, flüsterte sie, während sie sich blind vor Tränen abwandte und hinausstolperte.
Jetzt verstand sie es und wünschte sich, dass es sie schon damals getan hätte.
Sie wünschte sich, dass sie jetzt ihren Sohn oder ihre Tochter in den Armen anstatt die Erinnerung an weiße Wände und den Arzt mit seinem freundlichen, verständnisvollem Lächeln haben würde. Sie hatte es getötet. Leben. Warum nur? Tränen. Tränen auf weißem Schnee.