„Nein, lass mich in Ruhe!“ Zornig lief sie von ihm fort, bald war ihre Gestalt nur noch ein ferner Schatten zwischen den Bäumen.
Ludwig hielt inne.
„Hannah!“
„Du hast es versprochen.“ Laut schall ihre Stimme aus dem Wald.
„Es tut mir leid.“ Ludwig starrte auf seine Füße. Die schwarzen Lackschuhe waren fast neu – genauso wie der Anzug.
„Hannah!“, rief er erneut. Keine Antwort. Ludwig richtete den Blick auf den Wald, wo sie verschwunden war. Er wusste, dass sie nicht hinauskommen würde. Nicht sie. Niemals Hannah.
Er rannte los.
„Hannah!“
Wasserspritzer befleckten seine Hose, als er über die nasse Wiese rannte. Gestern hatte es geregnet. Gestern. Noch gestern hatten sie nach der Entlassungsfeier abends zusammen gesessen und sich betrunken. Sie waren so glücklich gewesen, sie war so glücklich gewesen und jetzt hatten sie sich wieder gestritten.
„Hannah!“
Er lief zwischen die Bäume des Waldstücks, in dem sie früher so oft spazieren gegangen waren.
„Lass mich in Ruhe.“ Natürlich fand er sie dort. Ludwig legte den Kopf in den Nacken und starrte zu seiner Freundin hoch. Sie starrte hinab, zornig, enttäuscht. Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Du hast es versprochen“, flüsterte sie.
„Hannah, dein Kleid.“
„Was ist damit?“, fauchte sie, „Der Abend ist doch sowieso ruiniert.“
„Hör mal, es tut mir leid!“ Etwas platschte über ihm auf die Blätter. Leise begann der Regen zu prasseln. „Ich weiß, dass ich es verbockt habe.“ Er sah zu ihr hinauf. „Lass die Leiter runter.“ Es war Jahre her, dass sie das Baumhaus am Rand des Waldes errichtet hatten. Mit der Zeit waren die Wände eingestürzt, doch die Plattform war immer noch erhalten – und mit ihr die Strickleiter.
„Nein.“ Sie ließ die Beine hinunterbaumeln. Ihr Kleid hatte sie bis auf die Knie hochgezogen, sodass er sehen konnte, dass sie darunter nur Unterwäsche trug. Die Füße waren nackt. Sie musste doch frieren in dem dünnen, schulterfreien Ballkleid, aber sie sagte nichts.
„Hannah“, bat er. „Bitte.“ Er schmeckte den Regen auf seiner Zunge.
„Nein“, wiederholte sie. Hannah. Es war einfach Hannah. Kein anderes Mädchen hätte so reagiert und genau deshalb liebte er sie.
„Hör mal, lass uns zu mir fahren.“ Ludwig klimperte mit dem Autoschlüssel in der Hoffnung, dass sie das zur Vernunft bringen würde. „Wir fahren zu mir und holen sie.“
„Es ist zu spät.“ Den Blick hatte er schon lange senken müssen, so unangenehm war der Regen, der ihm in die Augen lief. Doch er wusste, dass sie nun auf ihre Unterlippen beißen und den Kopf zur Seite legen würde.
„Hannah“, meinte er leise, „Du siehst wunderschön aus.“
„Was?“ Ein Lachen erklang.
„Du bist wunderschön“, wiederholte er und legte erneut den Kopf in den Nacken. Ihr langes blondes Haar klebte nass an ihrem Gesicht und ihren Schultern. Den Mund hatte sie leicht verzogen, so wie nur sie es konnte.
„Okay“, meinte sie plötzlich und beugte sich vor. „In Ordnung.“ Die Strickleiter entrollte sich. Mit einem leisen Klacken stieß sie gegen den Baumstamm. Ludwig griff nach ihr und hielt sie fest, damit Hannah hinunter steigen konnte.
Hannah. Sie griff nach seiner Hand und lächelte ihn an.
„Aber nur wenn wir jetzt sofort zu dir fahren und sie holen.“
„Natürlich.“ Erleichtert ließ er ihre Hand los und legte ihr seinen Mantel um. Sie war kleiner als er und der Mantel ihr zu groß, dennoch störte sie sich nicht daran.
„Fahren wir danach wieder zum Ball?“, fragte sie fröhlich. „Du hast mir doch einen Tanz versprochen.“
„Natürlich“, entgegnete Ludwig.
Hannah.
Eine winzige, vergessene Kleinigkeit konnte für sie ein Weltuntergang sein, aber zugleich konnte sie klitschnass auf einem Abiball tanzen.
Er liebte sie.
Ein roter Schuh.
„Kann ich ihn haben?“, meint er leise.
Der Polizist sieht sich um. Es ist niemand da, der sie beobachtet, niemand, der sich um seine Gefühle kümmert.
„Ja.“
Ludwig hat Handschuhe an, denn es ist kalt diesen Winter. So kalt, dass Eisschollen auf der Elbe treiben.
Vorsichtig fährt er mit den Fingern über den Schuh. Von dem Absatz, mit dem sie schon vor zwei Jahren ihre Schwierigkeiten gehabt, bis zu der Schnalle, die so sehr geliebt hatte. Die Farbe ist abgeblättert und das Leder stinkt. Einen Monat habe er vermutlich im Wasser gelegen, meint der Polizist soeben.
Ludwig entgegnet nichts.
Er starrt nur auf den Schuh, ihren Schuh. Blind, ohne etwas um sich herum wahrzunehmen. Dann hebt er unendlich langsam den Blick und tritt die Böschung hinab. Das Wasser der Elbe fließt langsam an dieser Stelle, unendlich langsam. So langsam wie auch seine Schritte sind. Erstarrt. Der Polizist folgt ihm. Seine Schuhe knirschen auf dem Kies. Einige Steine kullerten ins Wasser, wo sie versinken. Geräusche, die er nicht erträgt.
„Sind Sie sich sicher?“, fragt er.
„Ja.“ Ludwig starrt den Schuh an. Er erinnert sich daran, wie sie ihn gemeinsam ausgewählt hatten und an ihren Zorn, als er den Karton am Ballabend zu Hause vergessen gehabt hatte.
Er weint nicht. Zwei Jahre hat er um sie geweint. Vielleicht sind bereits alle Tränen vergossen. Vielleicht. Vielleicht, wenn er damals anders gehandelt, etwas anderes gesagt hätte. Vielleicht. Doch mündet dieses Vielleicht nur in diese eine unabdingbare Tatsache, dass sie tot ist. Ihr Körper liegt irgendwo dort unten in der Elbe oder ist angespült worden. Vielleicht trägt sie noch den anderen Schuh. Ihren Schuh. Den roten Schuh.
Hannah.