Nachdenklich sah sie durch das große Wohnzimmerfenster nach draußen. Der beständige Nieselregen der letzten Tage war größeren Tropfen gewichen, die gemeinsam mit den wenigen bereits gelb verfärbten Blättern von immer stärker werdenden Windböen durch den Garten getrieben wurden.
"Wenn das so weitergeht, stürzen noch ein paar Bäume um", sagte sie seufzend und sah ihren Mann an, der ihr gegenüber saß.
Sie hatten den verregneten, windigen Sonntag dazu genutzt, endlich mal wieder gemeinsam zu kochen und gemütlich miteinander zu Abend zu essen. Das ruhige, stete Licht, das die Kerzen im Wohnzimmer verströmten, bildete einen starken Gegensatz zum Tosen außerhalb der sicheren Mauern des Hauses.
"Ja, das stimmt", pflichtete er ihr nach einem Blick über die Schulter zu. Dann verzog er missmutig das Gesicht. "Das heißt wohl, dass der gemütliche Abend ins Wasser fällt."
Immer ging er gleich davon aus, dass seine persönliche Tagesplanung beeinträchtigt werden würde! Natürlich verstand sie ihn, aber andererseits klang es in ihren Ohren auch oft wie ein Vorwurf - obwohl es sicherlich keiner war. Sie verkniff sich eine Verteidigung, die ihr sofort auf der Zunge gelegen hatte, besann sich auf den geplanten Filmeabend und lächelte dann. "Hey, sieh es nicht so pessimistisch. Wir machen immer das Beste aus allem!" Mit einem Blick auf den Teller grinste sie und fügte an: "Sogar aus vergessenen Zutaten!"
Jetzt lachte er. Sie liebte dieses laute, ehrliche Lachen einfach. Wenn er gute Laune hatte, gab es niemanden, der ihn auch nur ansatzweise übertreffen konnte.
"Das stimmt! Aber ich mag Lasagne auch vegetarisch, das ist gar nicht so schlecht. Mir ist da meistens eh zuviel Fleisch drin. Na komm - kuscheln wir uns aufs Sofa!"
Beide waren sie froh, endlich eine Spülmaschine zu besitzen, die ihnen den lästigen Abwasch nach dem Essen abnahm. Die gewonnene Zeit nutzten sie gerne für Filme oder Serien - so auch heute. Mit einem Nachtisch, schokolierten Früchten, kuschelten sie sich auf dem Sofa unter eine flauschige Decke und genossen einen Film, während der Sturm draußen immer stärker wurde. Selbst, als sie zu Bett gingen, nahm die Intensität des Windes draußen noch weiter zu.
Sie hatten erst wenige Stunden geschlafen, als ein dringliches Piepsen sie aus dem Schlaf riss.
"Scheiße", fluchte sie und warf einen Blick auf das Display des Meldeempfängers. "Sturmschäden - das kann alles Mögliche sein!"
Eilig zog sie Hose, T-Shirt und Socken an und stürmte in den Flur zu den Schuhen.
"Pass auf dich auf", murmelte ihr Mann, der schon wieder halb eingeschlafen war.
"Versprochen!" Mit diesen Worten eilte sie hinaus, in die kurzzeitige Sicherheit des Autos, das sie trocken zum Gerätehaus brachte.
Es waren noch nicht viele Kameraden vor Ort, so dass sie genügend Zeit hatte, die Uniform in der Umkleide rasch, aber vollständig anzuziehen - sogar den Reißverschluss der Stiefel schloss sie, was sonst meist im Fahrzeug auf der Einsatzfahrt passierte. Dann besetzte sie mit sechs weiteren Kameraden die Mannschaftskabine eines Löschfahrzeugs.
"Ok, Leute!", rief der Gruppenführer über das Prasseln des Regens und das Dröhnen des Motors hinweg.
Äußerlich ließ sie sich nichts anmerken, aber innerlich lächelte sie. Es hatte lange gedauert, ihn von der Anrede 'Leute' statt 'Männer' zu überzeugen, aber scheinbar war es ihm langsam in Fleisch und Blut übergegangen. Natürlich hatte er erklärt, dass sie doch mitgemeint sei, doch mitgemeint und wirklich angesprochen zu sein waren wirklich zwei verschiedene Dinge.
"Wir haben zwei gestürzte Bäume auf der Bundesstraße - bei einem ist ein Fahrzeug involviert. Mehr wissen wir nicht." Es konnten also auch noch Personen im Fahrzeug sein oder Öl austreten. Die ohnehin nervöse Stimmung wurde noch angespannter.
Am Unfallort erwartete sie zu ihrer Erleichterung der schockierte, aber unverletzte Fahrer. Er war frontal auf einen soeben gestürtzten Baum geprallt, der Airbag hatte ihn vor Schlimmerem bewahrt.
Die kommende Stunde sperrten sie in strömendem Regen die Straße, sicherten das Öl aus dem Unfallfahrzeug, zerkleinerten den immer noch windgepeitschten Baum mit Kettensägen und schleiften dessen Einzelteile an den Straßenrand. In Uniform war die Arbeit außerordentlich schweißtreibend, doch die herumfliegenden Blätter, Zweige und sogar Äste, die sie in unregelmäßigen Abständen trafen, bewiesen immer wieder, wie nötig der Schutz vor dem Sturm war - insbesondere die Helme mit den heruntergeklappten Visieren waren Gold wert.
Der Einsatz blieb nicht der letzte in dieser Nacht. Ein unter Wasser stehender Keller sowie ein weiterer Baum, der auf die Gleise zu stürzen drohte, hielten die Kameraden bis acht Uhr morgens auf den Beinen und verlangten ihnen Kraft und Geduld ab. Doch selbst der Sturm schien am Morgen endlich der Erschöpfung zu erliegen.
Als sie um halb neun in ihre Wohnung stolperte, war sie unglaublich müde. Doch es war eine gute, postive Mattigkeit.
"Hey!" Lächelnd schloss ihr Mann sie in die Arme. "Ich hab auf dich gewartet. Ich bin stolz auf dich, weißt du das?"
Diese Worte waren Balsam für ihre Seele. Natürlich tat sie, was sie tat, für die Menschen in ihrer Gemeinde, doch die persönliche Anerkennung und Unterstützung, die sie von ihrem Liebsten dafür bekam, tat unglaublich gut. Ein wenig hatte sie Angst gehabt, dass er mit ihrem Hobby, ihrer Freizeitbeschäftigung und der damit einhergehenden ständigen Abrufbereitschaft nicht klarkommen würde, doch er hatte sich als ihr Fels in der Brandung erwiesen. Manchmal war er verärgert, ja - aber er motivierte sie immer wieder, wenn sie zweifelte.
"Ich muss los", erklärte er bedauernd und gab ihr einen Kuss. "In der Küche ist noch aufgeschnittenes Brot - iss was, hm?" Erst, als sie es ihm versprach, verließ er das Haus.
Immer noch lächelnd genoss sie die heiße Dusche, die ihr wieder ein wenig Kraft zurückgeben sollte, bevor auch sie ging.
Der Gedanke ließ ihre Laune sinken. Sie durfte sich leider nicht ausruhen. Ihr Chef würde so schon verärgert sein, weil sie nicht pünktlich um acht Uhr zur Arbeit erschienen war, wenn sie sich jetzt auch noch zwei Stunden schlafen legte, würde er ganz ausrasten. Die Gemeindeverwaltung stellte zwar eine Bescheinigung aus, dass sie im Einsatz gewesen war und erstattete ihrem Arbeitgeber die von ihr versäumte Arbeitszeit, doch leider war da keine Ruhezeit mit drin. Wenn sie in ihrer Freizeit Feuerwehr spielte, war das ihr Privatvergnügen und kein Grund, nicht zur Arbeit zu erscheinen. Sie wusste, dass er nur einen Grund suchte, sie zu entlassen - unzuverlässige Arbeiter brauchte er nicht, das hatte er auf die eine oder andere Art schon häufiger deutlich gemacht.
So erging es leider vielen Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehren.
Ihr Mann regte sich immer über ihren Chef auf. "Was erwartet der, dass passiert, wenn bei euch mal die Firma brennt?", pflegte er dann aufgebracht zu fragen.
Natürlich hatte er Recht. Aber es würde ihr nichts nutzen. Sie musste sich entscheiden, was ihr wichtiger war - die Feuerwehr oder dieser Job.
Aber eigentlich hatte sie das bereits. Frisch geduscht steckte sie den Meldeempfänger wieder an den Gürtel und machte sich auf den Weg. Wenn der Chef sich unbedingt aufregen wollte, sollte er das tun - sie hatte heute schon einem weit schlimmeren Sturm getrotzt.