»Dat moacht zweifünfzig.«
Ich spürte seinen stechenden Blick, der mich ungeduldig im Rückspiegel musterte. Die braunen Augen suchten Blickkontakt mit mir.
»Fräulein? Zweifünfzig!«
Das verschlissene Leder knarzte, als sich der Fahrer zu mir drehte. Sein linker Zeigefinger klopfte auf den Taxameter. Zuerst erinnerte mich das Geräusch an die ersten Regentropfen, die gegen eine Zeltwand prasselten. Aber weil ich weiterhin stumm aus der Frontscheibe starrte, verwandelte sich das Klopfen zu einem lauten Hagelschauer.
»Fräulein!«
Seine kalten Finger legten sich auf meinen Unterarm. Die unerwünschte Berührung riss mich aus meinen Gedanken. Ich machte regelrecht einen Satz zur Seite. Nur die kleine Reisetasche verhinderte, dass ich gegen die rechte Hintertür prallte.
»Tschuldigung«, nuschelte ich.
Kopfschüttelnd kramte ich in meiner Handtasche. Ohne wirklich darauf achtzugeben, zog ich zwei Scheine aus der Geldbörse und reichte sie dem Fahrer.
»Kloaner hoast as net?«
Meine Augen senkten sich auf die zwei gelben Euroscheine, die er zwischen dem Daumen und Zeigefinger eingeklemmt hatte. Das Papier raschelte, als er anfing, mit den Scheinen vor meinem Gesicht zu wedeln.
Entschuldigend hob ich die Schulter und verzog meine Mundwinkel zu einem vorgetäuschten Lächeln.
Brummend drehte er sich um.
In diesem Moment umspielte ein mir nur allzuvertrauter Duft meine Nase.
Prada L’homme Intense
Da waren sie wieder, die Erinnerungen!
Kopflos öffnete ich die Tür und sprang aus dem Taxi.
»Passt schon.«
Noch bevor der Taxifahrer sich für das großzügige Trinkgeld bedanken konnte, hatte ich die Tür mit einem lauten Knall zugeworfen. Die Reisetasche an meine Brust gedrückt, stand ich für einige Atemzuge auf dem Gehsteig und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Und obwohl ich den Kopf in den Nacken gestreckt hatte, verdeckte mein langer Pony die rechte Gesichtshälfte. Mir fiel es gar nicht mehr auf, dass ich durch den neuen Haarschnitt wie ein Zyklop aussah, nur das mein frei sehendes Auge nicht in der Mitte der Stirn saß.
Bei jedem Schritt, der mich näher an die gläserne Hausfront brachte, jagte mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter.
Pnööööp, Pnööööp.
Entgeistert blicke ich auf die auf dem Thesen stehenden Glocke. Ich hätte mit allem gerechnet, aber nicht mit einem Signal, das sich eindeutig nach einem alten Trabi anhörte.
Aus Spaß an der Freude drückte ich ein weiteres Mal auf den Knopf. Dieses Mal ließ ich den Finger so lange drauf, bis das Pnööööp erstarb.
Schritte kamen näher. Ich erkannte im Spiegelbild der Glasscheibe den Inhaber des Autohauses.
»Sie wünschen?«, erklang seine kräftige Stimme, die seine Schrittgeräusche mühelos übertönte.
Obwohl tiefe Falten seine Stirn kräuselten, erschien in seinem Gesicht ein breites Lächeln. Mit ausgestreckter Hand kam er die letzten Meter auf mich zu geeilt.
»Ah, Frau Dr. Waismann. Ich habe Sie schon erwartet.«
»Herr Seidler.«
Schwer schluckend, hielt ich ihm die rechte Hand entgegen.
Bevor ich diese zurückziehen konnte, deutete er einen Handkuss an. Seine Lippen verharrten für einige Herzschläge über meinem durchfurchten rechten Handrücken. Seine Augen wanderten von den Fingern bis hinauf zu meiner Ellenbeuge, wo der luftige Stoff meines Sommerkleides den restlichen Arm verdeckte.
Räuspernd richtete er sich auf. Anstelle offen meinen Blick zu erwidern, wich er meinen Augen aus und drehte sich in den Schauraum hinein. Er zeigte in einen Nebenraum.
»Dort steht er.«
Zustimmend nickend ging ich an ihm vorbei.
Der Geruch des frischen Flieders, der auf dem Verkaufstisch eines der Mitarbeiter stand, begleitete mich bis in den Nebenraum. Für einige Atemzüge verleitete mich das blumige Bouquet, mit halbgeschlossenen Augen neben Herrn Seidler herzulaufen. Wie jemand, der sich auf eine lange Tauchstrecke vorbereitet, zog ich die Luft tief in die Lunge ein. Eine Erinnerung an einen wilden Pfad, der an beiden Seiten mit den farbenprächtigsten Fliederbüschen gesäumt war, zauberte ein kurzes Lächeln in mein Gesicht.
Doch das helle Geräusch, dass ein Gehstock auf einen Fließboden erzeugte, vertrieb die beruhigende Landschaft vor meinen Augen.
Herr Seidler trat zur Seite. »Ist er nicht wunderschön?«
Langsam, als ob ich mich einem Rehkitz nähern würde, ging ich auf den Cayenne zu. Er stand alleine im Schauraum. Um seine schwarze Farbe besser zur Geltung zu bringen, war hinter dem Porsche ein weißes Seidentuch gespannt. Durch die Zugluft bewegte sich das Tuch, sodass der erste Eindruck mit einem weiteren Aha-Effekt versehen wurde.
Meine Fingerspitzen strichen über die matte Lackierung. Ein Kribbeln floß wie eine Meeresbrandung durch meinen Körper. Und obwohl ich nichts anderes tat, als vor dem Cayenne zu stehen, beschleunigte sich mein Herzschlag. Mein Mund trocknete aus, während ich den Puls am Hals spürte. Der aufsteigende Schmerz breitete sich im Magen aus. Ich musste einigemale schwer schlucken, um den sauren Spukreiz zu unterdrücken.
Der Wagen vor mir und der aus meinen Träumen waren nahezu identisch. Einzig die Farbe unterschied sich. Dieser war schwarz, der Traumwagen jedoch weiß. Lächelnd dachte ich daran, ob es womöglich eine unbewusste Entscheidung von mir gewesen war, diese Lackierung zu wählen.
Ying und Yang
»550 PS und ein Achtzylinder«, erklärte mir Herr Seidler aufgeregt. Seine Stimme spiegelte die Aufregung, die wahrscheinlich jeden Mann packt, wenn er die Gelegenheit bekommen hätte, dieses Monstrum zu fahren. Und ich würde beide Hände ins Feuer legen, wenn Herr Seidler auf die Gelegenheit, eine längere Probefahrt zu machen, verzichtet hätte.
»Damit kommen Sie locker auf 270 km/h.«
Ich nickte.
»Und in 3.7 Sekunden ist dieses Baby auf 100 km/h, weitere 3.6 und schon zeigt die Tachonadel 200 km/h.«
»In nur 1.5 Sekunden fallen Sie zehn Meter«, entgegnete ich.
Seine Augen weiteten sich, und der aufklappende Mund zog den dünnen Speichelfilm auf seinen Lippen auseinander.
»Ah ... Ja ... Ähhh.«
Herr Seidler sah an mir vorbei. Seine Gesichtsfarbe nahm eine unübersehbare Ähnlichkeit mit der Wand hinter ihm an.
»Ich muss los.«
Demonstrativ hob ich den Arm so weit an, dass ich, ohne meinen Kopf zu senken, auf das silberne Ziffernblatt sehen konnte.
»Natürlich. Ahhh ...«
Ein Schweißtropfen rann von seiner Stirn über die Wange und verschwand in dem getrimmten Vollbart.
»Ich habe die Bezahlung bar bei mir.«
Schmunzelnd zog ich die Reisetasche näher. Die Plastikrollen polterten über die Fugen.
Herr Seidler fixierte meinen Koffer. Seine Zungenspitze fuhr über die wulstigen Lippen, während sich sein Kopf ruckartig von einer zur anderen Seite bewegte.
»Wir gehen besser in mein Büro.«
Fünfundzwanzig Kilometer
Dumpf klickte der Blinker. Ein leichtes Antippen der Bremse reichte aus, damit sich die Geschwindigkeit soweit drosselte, dass ich die Autobahnausfahrt nehmen konnte. Trotzdem spürte ich, wie gut sich die Karosserie in den Kurvenverlauf legte. Kurz kam mir der Gedanke zu beschleunigen. Aber weil ich den Cayenne nicht schon nach den ersten hundertfünfzig Kilometer in den Graben fahren wollte, gab ich dem Verlangen erst beim Verlassen der Kehre nach.
Der Motor heulte auf. Die Pferdestärken katapultieren den Wagen nach vorne und mich in den schwarzen Ledersitz. Um die letzte Strecke so richtig zu genießen, drehte ich das Radio lauter.
Der gesuchte Sender war schnell gefunden. Ö3. Der Sender war in ganz Österreich zu hören. Immer wenn wir auf Urlaub gefahren sind, wurde dieser Sender gesucht, kaum dass wir bei Rosenthal vorbeikamen. Und wieder enttäuschte mich das Sendeprogramm nicht. Der Moderator kündigte eine meiner Lieblingsgruppen an. Ich drehte die Lautstärke höher. Die Harman Kardon Anlage ließ mich regelrecht in die Musik eintauchen. Meine Fingerspitzen klopfen rhythmisch auf das Lenkrad. Unbewusst beschleunigte ich, während ich lauthals mitsang:
A siaße Tochter mit vier Jahr.
I kapier ned, wos do wirklich woa.
I hob di lebn gsegn.
So sehr lebn, dass is nie vergiss.
Du worst ane von denen, die des kennen.
Leben ohne Kompromiss.
Der Kiesel knirschte unter den Autoreifen. Der Staub legte sich auf die mattschwarzen Felgen. Schwer durchatmend stieg ich aus und ging auf das alte Bauernhaus zu. Obwohl es in Längenfeld einen größeren Supermarkt gab, bevorzugte ich den Krämerladen in Sölden. In die hausgemachten Spezialitäten der Bäuerin hatten wir uns bereits bei unserem ersten Besuch Hals über Kopf verliebt. Und jedes Mal, wenn wir unseren Urlaub im Ötztal machten, führte unser erster Weg hier her.
Viele Jahre.
Mit der Hand auf der Türklinke blieb ich stehen. Ich schloss die Augen und freute mich bereits wie ein Kind darauf, die vergessenen Eindrücke bald wieder aufzufrischen.
Die Tür schwang auf. Die alten Metallbolzen knarrten, wurden aber durch das helle Glockenläuten überstimmt. Ein paar schwache Glühbirnen erhellten den Verkaufsraum. Wohin ich auch blickte, standen dunkle Vollholzmöbel, die dem Raum ein bäuerliches Flair gaben. Die zurückgezogenen Wollvorhänge rundeten das Bild ab. Sofort fühlte ich mich hundertfünfzig Jahre in die Vergangenheit geworfen.
»Grüß di Gott.«
»Guten Tag, Rosa«, antworte ich, ohne dass ich die Frau zu der Stimme gesehen hatte.
»Ah ... Evoleth ... schön ... dich wiederzusehen.«
Ihr ehrliches, breites Lächeln war ansteckend. Wie alte Freundinnen umarmten wir uns. Ich konnte ihre Wärme spüren. Der Geruch von Heu umgab sie und ein paar Strohhalme steckten in dem gekräuselten grauen Haar.
Rosas knochigen Finger streichelten meinen Rücken hinunter. Ich konnte spüren, wie ihre Bewegung immer langsamer wurde, je weiter sie an meinem herausstehenden Rückgrat entlangfuhr. Ich hörte ihr schweres Schlucken und fühlte etwas Feuchtes an meiner Wange. Schniefend trat Rosa einen Schritt zurück. Ihre Hände umgriffen meine Oberarme, während sie mich von Kopf bis Fuß betrachtete.
»Guat siast aus. A bisserl mager.«
Ich lachte. Rosas Ehrlichkeit tat gut.
»Ich nehme das Übliche.«
»A di Wurschtsemmalan?«
»Wenn ich die nicht mitbringe, bekomme ich den Marsch geblasen.«
Ein zuvor nicht da gewesener Glanz erschien in Rosas Augen. Sie sah an mir vorbei und begann zu blinzeln. Immer schneller schlossen sich die Lider. Zuletzt strich sie sich mit dem Ärmel über die Nase und trocknete die Augen.
Der kühle Wind wehte meine langen, blonden Haare aus dem Gesicht. Es machte mir nichts aus, weil mich dadurch die Sonnenstrahlen liebkosenden konnten. Die klare Bergluft weckte wieder das Leben in mir. Ich merkte regelrecht, wie mein Körper an Kraft gewann. An der Motorhaube des Cayenne gelehnt, wartete ich auf den Anruf meines Mannes. Es konnte jede Minute so weit sein. Aramis war pünktlich wie ein Schweizer-Uhrwerk. Lächelnd lauschte ich der Radiomoderatorin.
»Hier sind die Nachrichten, die Österreich bewegen. Es ist 17.00 Uhr.«
Brummend, weil mein Mann bis zur Wetteransage noch immer nicht angerufen hatte, schaute ich auf das Handydisplay. Der aufkommende Zorn verschwand augenblicklich, als ich in Messages eine Nachricht von einem verpassten Anruf sah. Lächelnd blickte ich auf die Nummer.
0171 72 401 78 – Aramis!
Ein Knacken erklang in der Leitung, bis eine metallische Frauenstimme anfing zu sprechen.
»Sie habe eine alte Nachricht. Drücken Sie die Eins, um die Nachricht zu löschen. Drücken Sie die Zwei, um ..«
Bevor ich auf das Display sah, hinterließ mein Finger einen Abdruck auf der Stelle, wo gerade noch die Zwei aufgeleuchtet hatte.
»Hallo Ev. Wir werden uns verspäten. Roxi konnte ...«
»Hallo Mami!«
»Roxi konnte sich nicht von der Piste ...«
»Mami, hast du die Wurstsemmel mit?«
»Huuuuuuuunger!«
»Autsch, Tristan du, tust mir weh!«
Mein Mann begann zu lachen.
»Also, Schatz. Wir sind gleich da. Wir treffen uns auf dem halben Weg zum Hotel. Ich bin schon gespannt welche Überras...«
»Papa, Roxi hat meinen letzten Keks gegessen!«
Inmitten des Lachens von Roxi und meinem Mann wurde die Aufzeichnung gestoppt. Wahrscheinlich waren sie in ein Funkloch gefahren. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich mich langsam auf den Weg machen musste.
Privatstraße!
Dem Schild konnte ich verdanken, dass ich die Abzweigung nicht verpasste. Kaum hatte ich die öffentliche Landstraße verlassen, stieg der ungepflasterte Weg steil an. Die Bäume standen so dicht am Straßenrand, dass einige Wurzeln die Fahrt unangenehm holprig machten. Aber dank des gerade gekauften Luxuswagens fühlte es sich nach einem sachten Wellenritt an. Ich kam zu der Verbreiterung, die wir des Öfteren benützt hatten, als der Schnee so hoch lag, dass es ohne Schneeketten kein Vorankommen gegeben hätte. Von dort würde ich die Scheinwerfer von weitem sehen. Suchend bewegten sich meine Augen von der Straße zu dem einsehbaren Tal. Ich blickte auf die Uhr.
17.30
Er hätte längst da sein sollen. Ich war noch nie gut im Warten. Ich hasste es regelrecht. Auf der Unterlippe kauend, betrachte ich das Bild, das ich unterhalb des Navigationsdisplays geklebt hatte.
Aramis kniete lachend am Boden. Auf seinem angewinkelten Oberschenkel saß Tristan. Sein Gesicht strahlte förmlich wegen seines herzlichen Lachens. Hinter meinem Mann stand Roxi. Ihren rechten Arm hatte sie Aramis um den Hals geschlungen, die Linke winkte der Fotografin zu. Mir.
Mein Herz pochte schnell und laut gegen meinen Brustkorb. Ich fühlte die Liebe durch mich hindurchströmen. Es waren zu viele Tage vergangen, seit ich sie in meine Arme schließen konnte.
Aber bald. Nur noch wenige Minuten.
Das Motorgeräusch war früher zu hören, als die Scheinwerfer zu sehen waren, die die letzte Kurve vor der langen Geraden ausleuchteten. Durchatmend schaltete ich den Motor ein. Der Motor brüllt auf, weil ich vor lauter Nervosität vergessen hatte, einen Gang einzulegen. Langsam fuhr ich aus der Parkbucht. Das lokale Autokennzeichen erkannte ich sofort.
IM - Good 69
Mein Herz raste. Die Handflächen fühlen sich kalt an. Fester als nötig schlossen sich meine Finger um das Lenkrad. Die Knöchelchen stachen unnatürlich weiß von meiner Haut ab. Dicke Sehnen hoben die zerfurchte Haut auf dem Handrücken auf.
»Und jetzt ein besonderer Wunsch für eine Hörerin aus Deutschland. Doch bevor wir Lenas bezaubernder Stimme lauschen, sollten wir ihrem Mann Aramis noch sagen, dass sie nie aufgehört hat ihn zu lieben. Liebe Evoleth, die Ballade Home[https://www.youtube.com/watch?v=81abAJao-cs] ist für dich und deinem Mann.«
Mein Lieblingslied dröhnte aus den Lautsprechern.
Genau zum richtigen Zeitpunkt.
Tränen liefen mir die Wangen hinunter.
Ich lachte, während mir der Schnodder über die Lippen floss.
Der Wagen setzte sich in Bewegung.
Mein rechter Fuß neigte sich nach vorne.
3.7 Sekunden bis 100.
Das Huppen des anderen Wagens wurde lauter. Hörte sich fast hysterisch an. Aber es gab kein Entkommen. Der Weg war zu schmal. Die linke Seite war durch die Bäume versperrt und auf der Rechten gähnte ein dunkler Abgrund.
Ich benötigte sechs Sekunden, bis ich frontal den weißen Wagen ungebremst erwischte. Das Knirschen von Metall verschluckte ein paar Zeilen meines Lieblingsliedes. Mit dem Aufprall kamen die Airbags. Mein Körper wurde wie eine Puppe zuerst nach vorne geschleudert, um kurz danach wieder zurück in den Stuhl gepresst zu werden. Mein Fuß blieb auf dem Gas. Immer näher schlitterten die ineinander verkeilten Autos der Schlucht entgegen.
Es war noch nicht vorbei!
Der Fahrer im anderen Wagen bewegte sich. Sein blutverschmiertes Gesicht bestätigte mir, dass seine Begegnung mit den Airbags genau so schmerzhaft war wie meine. Aber in Gegensatz zu ihm, war mein Blutkreislauf vollgepumpt mit Adrenalin. Das und wahrscheinlich die Seelenqualen, die bereits länger als zwei Jahre meinen Schlaf raubten, drängten den körperlichen Schmerz in den Hintergrund.
Der Angstschrei drang an mein Ohr.
Nicht nur in den Hilferufen auch in den weit aufgerissenen blutroten Augen sah ich sie, die erhoffte Todesangst.
Er brüllte. Dann war er verschwunden.
Ich lachte und weinte gleichzeitig, als mein Wagen nach vorne kippte.
3 Sekunden
Die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Das verschwommene Bild begann sich zu drehen. Zwei – Drei – viermal.
Ein schmerzhaftes Pfeifen erklang in meinen Ohren, während der Cayenne auf dem Dach noch einige Meter weiter rutschte, bis ein Baum ihn aufhielt.
Benommen bewegte ich meinen Kopf . Der vorhin nicht gespürte Schmerz, hatte mein Gehirn überlistet. Er brach wie ein Tsunami über mich herein. Blut lief mir von der gebrochenen Nase, in die Augenhöhlen und tropfte von dort auf die beige Verkleidung des Autodachs. Es wurde schwarz vor meinen Augen. Das Einatmen der kühlen Luft verwandelte sich in meinem Brustkorb zu einem Flammeninferno. Es war still. Unverhofft knisterte das Radio und ich hörte durch das Rauschen.
Our heart goes on and on
Our heart beating like a drum
In the dark you made me strong
Like you’ve always done
I will carry schhhhhhhhh
Schhhhhhh carry you home
You’re in my heart and in my bones
I will schhhhhh home
Ein Knall zerriss die Luft.
Mit dem heißen Luftstrom kam der Gestank von brennendem Benzin, Holz und Fleisch.
Ich schielte in die orangen Flammen. Der durch die Schlucht wehende Wind stob die Funken auf. Die ersten trockenen Tannenzweige brannten bereits. Meine Augen weiteten sich, als ich die dunkle Spur entdeckte, die sich langsam dem Feuer näherte.
Entgegen meiner Erwartung erwachte der Überlebensdrang in mir.
Ich musste mich sofort abschnallen und aus dem Wagen kriechen.
Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte ich, meine Hand zu heben. Die Gurtschnalle war nur ein paar Zentimeter entfernt. Trotzdem bewegte sich mein Arm nicht. Stattdessen hing er in einer unnatürlichen Form nach unten. Knochen ragten aus meinem Handgelenk.
Eine Bewegung im äußersten Blickfeld forderte meine Aufmerksamkeit. Der verblichene Zeitungsausschnitt hatte sich vom Display gelöst und segelte nach unten.
Genau unter mir blieb er liegen.
Die Liebe meines Lebens und meine Kinder grinsten mich an.
Ich lächelte zurück.
Der Rauch drang langsam in meine Kehle ein.
Ich hustete.
»Bald bin ich bei euch.«
Ich merkte, wie sich mein Blick verschleierte. Mein hart pochender Herzschlag verlangsamte sich. Ein letztes Mal hetzten meine Augen über den Text.
Betrunkener Hotelier aus Obergurgel rammt mit seinem weißen Porsche ein deutsches Fahrzeug, das daraufhin in die Imster Schlucht stürzt. Der Ehemann und die zwei Kinder erliegen noch am Unfallort ihren Verletzungen. Die Ehefrau wurde schwer verletzt mit dem Rettungshubschrauber nach Imst geflogen.
Mein Herzschlag setzte zusammen mit meiner Atmung aus. Die tanzenden blutroten Flammen wurden immer winziger, und machten zuletzt der unendlichen Finsternis platz.
Gott war gnädig zu mir.
Dieses eine Mal!