Hamburg 1972.
Das Foto fiel zu Boden. Simone folgte ihm mit dem Blick, sah zu wie es unter den Schrank rutschte, bevor sie sich hinabbeugte, um es aufzuheben.
Als sie aufblickte, sah sie sich selbst undeutlich im Spiegel ihrer Großmutter. Sich selbst und das Foto aus dem Rahmen, hinter sich das Flimmern des Fernsehers. Sie sah auf das Foto. Erinnerungen. Erinnerungen, von denen sie sich manchmal wünschte, sie zu vergessen. Es hätte alles einfacher gemacht.
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?
Es war immer sie gewesen, die sich dieses Spiel gewünscht hatte. Zwillinge müssten es so tun, hatte sie gesagt, sich vor dem Spiegel gestellt und ihre Schwester an ihre Seite gezogen. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? War es diese glockenhelle Stimme oder ihr von goldenen Locken umringtes Engelsgesicht, mit dem sie all diese Menschen zu überzeugen versucht hatte? Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Die Florentine, hatten sie gesagt, die wollen wir unbedingt dabei haben. Und was ist mit der Simone? Na gut, meinetwegen darf sie auch mitmachen. Immer. In jedem Jahr der Schule war es stets Florentine gewesen, die besser, schöner und beliebter als ihre Zwillingsschwester gewesen war. Es waren die stillen Momente in diesem Haus gewesen, die Simone alleine mit ihrer Schwester geteilt und deshalb so geliebt hatte.
Das Foto. Zwei kleine Mädchen in identischen Kleidern, die sich in dem Spiegel ihrer Großmutter spiegelten. Sie hatten gelächelt, glücklich, dass sie einander hatten. Und heute…
Simone trat vor. Die Stelle, wo einst ihre Schwester gestanden hatte, war von Staub bedeckt, die fortwirbelten, als sie pustete. Für einen Moment stand sie in einem grauen Wirbel. Nicht nur Staub, sondern auch Erinnerungen, die sich an ihr festsetzten und sie nur mühsam die Tränen zurückhalten ließen. Für einen Moment hatte sie geglaubt, gehofft…Nein. Sie wusste ja gar nicht, was sie glauben sollte. Es war nur sie selbst im Spiegel. Die Seite ihrer Schwester war leer.
Nachdenklich strich Simone über den Rahmen. Verschlungene, goldene Ranken, der ganze Stolz ihrer Großmutter. Heute waren sie ihr etwas zu protzig, aber als Kind war sie von der Wucht des Spiegels beeindruckt gewesen. Dennoch würde sie ihn behalten. Ein Familienerbstück warf man nicht einfach weg – auch wenn Florentine genau das getan hatte, als sie alle Brücken hinter sich abbrach. Simone verstand es bis heute nicht. Der Platz, der einst ihre Schwester gezeigt hatte, war leer, in ihrem Herzen ein blinder Fleck, den sie nicht zu lesen vermochte. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist nun die schönste im ganzen Land? Ja, wer? Sie die Bürgerliche mit Mann, Kind und Hund oder ihre Schwester, die die Normalsterblichen heute verhöhnte. Aber eigentlich interessierte sie die Antwort nicht. Gleichgültig, sinnlos. Die Kindheit war vorüber, der Traum vergangen, ihre Schwester fort. Sie würde nicht zurückkehren. Nicht Florentine. In dem Spiegel ihrer Großmutter würden sie sich wohl nie wieder spiegeln. Gemeinsam. Es gab kein gemeinsam mehr. Auch das hatte ihre Schwester mit den Brandsätzen und Schüssen zerstört. Nie wieder würden ihre Hände sich umfassen. Ob Florentine sich der Konsequenzen bewusst gewesen war? Hatte sie gewusst, was auf sie zukam? Hatte sie vorausgeahnt, dass sie das Zwillingsbild damit zerstören würde, das sie selbst als Kind so sehr gepflegt hatte? Den düsteren Albtraum hatte ihre Großmutter diese Gruppe in ihren letzten Monaten genannt, nicht wissend, dass sie damit ihre Enkelin mit einschloss. Simone nannte sie nur ihren dunklen Zwilling. Zwillinge. Dieses Band verband sie und sie wusste, dass sie nie vergessen würde.
Florentine. Ein düsteres, flackerndes Abbild ihrer selbst zeigte sich im Spiegel. Wie konnte das sein? Für einen Moment erstarrte Simone, wusste nicht, was sie tun sollte. Hoffnung. Aber es war nur der Fernseher, auf dem soeben ein altes Schwarz-Weiß-Foto ihrer Schwester gezeigt wurde. Moment.
Simone wirbelte herum, hockte sich vor das Gerät und drehte den Ton lauter.
„Nach neusten Erkenntnissen handelt es sich bei der Frau um das RAF-Mitglied Florentine Maurer, die verdächtigt ist an dem Schusswechsel vor einem Jahr beteiligt gewesen zu sein, bei dem ein Polizist tödlich verletzt worden ist. Ihr Tod wird nun…“
Simone fiel zu Boden. Wer hob sie nun wieder auf? Fallen.