Es war ein grauer verregneter Freitag. Schon seit den frühen Morgenstunden schüttete es wie aus Kübeln und es bildeten sich kleine Wellen auf der Straße, die über die längst schon vollen Gullys hinweg rollten.
Die Regentropfen prasselten unablässig gegen die Fensterscheibe, flossen langsam am kühlen Glas hinunter, vereinigten sich zu kleinen, dünnen Rinnsalen und bildeten ein unvorhersagbares Muster aus winzigen, verästelten Bächen, bevor sie den unteren Rand des Fensters erreichten und aus meinem Blickfeld verschwanden.
Schon viel zu lange beobachtete ich das Schauspiel der kleinen Tropfen, aber mein Kopf war im Moment viel zu leer um einer anderen Tätigkeit nachzugehen. Meine Beine, meine Arme, einfach alles von mir fühlte sich taub und kühl an, als wären jegliche Emotionen und Gefühlsregungen aus meinem Körper verschwunden.
Doch gerade war mir diese Taubheit willkommen. Alles war besser als der Schmerz, der noch vor kurzem meine Brust wie ein glühend heißes, scharfes Messer durchstoßen hatte. Alles war besser als diese sengende Hitze zu spüren, die mich zu verschlingen drohte. Und alles war besser als mich an die grausamen Bilder zu erinnern, die ich sorgfältig in der hintersten Ecke meiner Gedankenwelt versteckt hielt.
Also sah ich weiter der Reise der winzigen Tropfen zu, die langsam an der Fensterscheibe hinabflossen und verlor mich im Geräusch des prasselnden Regens.
Mit fortschreitender Zeit verloren die kleinen grauen Rinnsale ihren Glanz und verwandelten sich in düstere, schwarze Linien. Unwillkürlich musste ich an rinnendes, schwarzes Blut denken. Ich stellte erschüttert fest, dass die Schreckensbilder, die ich so stark zu unterdrücken versucht hatte sich zu befreien und an die Oberfläche zu kommen drohten.
Schnell wandte ich mich von meinem Fenster ab und holte zitternd Luft. Ich versuchte ruhig zu atmen und fixierte dabei meinen alten Teddy. Mein Sinnbild für Sicherheit und Geborgenheit war zwar schon etwas zerfranst und an manchen Stellen auch schon mehrmals geflickt. Aber es erzielte dieselbe Wirkung wie damals, als ich noch ein kleines Kind war und meinen Bären heiß und innig umarmt hatte. Mein Puls verlangsamte sich und mein Atem wurde wieder regelmäßiger.
So konnte das nicht weiter gehen, wie sollte ich jemals ein normales Leben führen können, wenn mich sogar ein Blick auf die Fensterscheibe derart in Panik versetzte? Ich konnte doch nicht ständig, bei jeder Gelegenheit und überall hin meinen alten Bären mitnehmen.
Langsam ging ich in Richtung Bett, auf dem besagtes Kuscheltier neben meinem Kopfkissen thronte und mich mit seinen tiefschwarzen Knopfaugen vertrauensseelig ansah.
Immer noch aufgewühlt ließ ich mich auf meine alte, ausgelegene Matratze sinken, den Blick noch immer auf meinem Bären ruhend.
Ich war kein kleines Mädchen mehr und trotzdem hatte ich das Gefühl eines zu sein. Ich fühlte mich wie ein Kleinkind, hatte das Bedürfnis danach umsorgt, geliebt und getröstet zu werden, wenn es mir schlecht ging.
Mit einem Mal fühlte ich mich ganz kraftlos und mit einem dumpfen Geräusch fiel ich hintenüber auf mein Bett. Ich zog meine Beine mit den Armen an meine Brust und legte das Gesicht auf meine Knie.
Bevor ich wusste wie mir geschah, rollte eine Träne meinen Nasenrücken hinunter, floss langsam weiter an meiner Wange herab und an meinen Lippen entlang bis zu meinem Kinn, von wo aus sie auf den Stoff meiner Jeanshose fiel und langsam versickerte.
Im selben Moment verspürte ich ein kleines, schmerzhaftes Pochen in der Brust und schob meine Beine noch enger an mich. Ich zog mich fest zusammen wie eine kleine Assel, versuchte mich selber hinter einem schützenden Panzer zu verbergen, der mich vor den Erinnerungen bewahren sollte, die nun von außen auf meinen Schutzwall einprasselten wie kleine, scharfe Geschosse.
Mein einziger Gedanke glich einem Mantra: "Nur nicht erinnern. Nur nicht erinnern. Nur nicht erinnern."
Mit verkrampften Gliedern kämpfte ich gegen das Schussfeuer aus Bildern an, die sich hartnäckig vor mein inneres Auge drängen wollten.
Es fühlte sich an wie der Kampf einer Ameise gegen einen Nasenbären. Aussichtslosigkeit, Angst und die Übermächtigkeit des Gegners bestimmten auch mein Gefecht...
Mein Schutzwall fing an zu wanken, brach schließlich ein...
Plötzlich sah ich sie wieder, diese schrecklich vertrauten Bilder.
Plötzlich hörte ich sie wieder, diese verzweifelten Schreie.
Und plötzlich schmerzte meine Brust wieder als würde heiße Lava über meinen Körper fließen und sich langsam und schmerzhaft durch mich hindurch fressen.
Ich sah wieder alles, was ich so lange unterdrückt hatte.
Das Innere unseres alten Fiats, die vor Angst erstarrten Gesichter meiner kleinen Geschwister.
Ich spürte wie ihre kleinen Hände sich in meine Arme krallten, den Aufprall, die Glassplitter die sich in meinen Körper gruben.
Ich hörte die Schreie meiner Eltern, das überraschte Aufkeuchen der zwei Kleinen neben mir, das in ein langgezogenes hohes Kreischen überging.
Es war so laut, dass es in den Ohren schmerzte.
Irgendwann bemerkte ich, dass auch ich schrie.
Es war der Schrei eines verwundeten Tieres, das allein und blutend auf der Straße liegt und um Hilfe schreit...
Dann verebbte der Schrei und Stille breitete sich aus.
Nicht die angenehme Stille, die einen umfängt, wenn man nachts gemütlich in seinem Bett liegt und sich unter die Decke kuschelt.
Sondern die kalte, eisige Stille, in der nicht das kleinste Geräusch zu vernehmen ist....
Totenstille