Rebecca hielt in der Bewegung inne. Mit einem Seufzen richtete sie sich von dem Karton auf, in dem sie soeben Bücher aufgestapelt hatte und ließ sich auf das Sofa plumpsen. Es war scharlachrot und existierte seitdem sie sich erinnern konnte. Hier. In diesem Raum, in diesem Haus, in dieser Stadt. An einigen Stellen war der Stoffbezug eingerissen und die Federn quietschten protestierend, wenn sie ihr Gewicht zu sehr auf die linke Ecke verlagerte.
„Rebecca?“ Es klopfte an der Tür. „Bist du fertig?“
Fertig? Bei dem ganzen Krempel, der sich über die Jahre angesammelt hatte? Sie war erstaunt gewesen, wie viel sie unter dem Bett und der großen Truhe gefunden hatte. Murmeln, zusammengeknüllte Liebesbriefe, Süßigkeitenpapier, alles von einer dicken Schicht Staub bedeckt.
„Rebecca?“
Stumm starrte Rebecca auf das Chaos, das sich vor ihr auftürmte. In der einen Ecke standen die schön ordentlich aufgereihten Kartons, doch daneben türmten sich Berge von Klamotten und Krempel, die sie bisher noch nicht eingeräumt hatte. Erinnerungen. In jedem einzelnen Stück von ihnen.
„Rebecca?“ Die Klinke wurde heruntergedrückt und ihre Mutter streckte den Kopf hinein. Besorgnis lag in ihrem Blick, als sie sich über ihre Tochter beugte.
„Was ist denn los, Schatz?“
Rebecca sah auf. „Ich glaube, ich schaffe das nicht, Mama! Was ist, wenn ich Probleme mit dem Vermieter bekomme, keine Freunde finde oder das Studium die falsche Entscheidung war?!“
Das scharlachrote Sofa quietschte, doch ihre Mutter setzte sich ungerührt neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter.
„Ach, Liebling. Es ist ein großer Schritt und es ist nur natürlich, dass du aufgeregt und nervös bist. Mir ging es damals nicht anders.“
„Dir, Mama?“ Rebecca kicherte leise. Ihre Mutter schien die Ruhe in Person zu sein.
„Natürlich. Ich kannte doch nichts anderes als das Haus meiner Eltern. Zwar war das Schwesternwohnheim nicht ganz so weit weg, doch eine Umstellung war es trotzdem. Ich hatte solche Angst zu Begin und habe gestottert, als ich mich den anderen Schwesterschülerinnen vorgestellt habe.“
Diese Geschichte hatte ihre Mutter noch nie erzählt gehabt. Rebecca legte den Kopf schief und starrte auf die Umzugskartons.“
„Ich werde euch vermissen, Mama.“
Sanft fuhr die Hand ihrer Mutter durch ihr Haar. „Ich dich auch, Liebling.“ Rebecca legte ihren Kopf an die Schulter ihrer Mutter. Es erschien ihr unmöglich, jetzt aufzustehen und dieses Haus zu verlassen. Und dieses Mal würde es für immer sein. Irgendwo in einer fremden Stadt wartete ein WG-Zimmer darauf, von ihr bezogen zu werden und auf einmal wusste sie nicht mehr, ob sie es auch wollte.
„Wenn sie mich nicht mögen, Mama?“
„Wenn sie dich nicht mögen sollten, ist das okay, auch wenn ich mir sicher bin, dass sie dich mögen werden. Du bist eine wundervolle junge Frau.“ Die Hand verließ ihr Haar und umfasste nun Rebeccas linke Hand. „Ich bin so stolz auf dich, Rebecca, und deinem Vater geht es genauso.“
Traurig blickte Rebecca zu dem Foto, das noch darauf wartete, in einem der Kartons zu landen. Es zeigte sie und ihre Eltern bei ihrem Abiball vor einigen Monaten. Damals war sie so stolz gewesen und glücklich, dass dieser Teil ihres Lebens endlich abgeschlossen war, aber jetzt war sie so verunsichert. In der Schule war alles so einfach gewesen, alles hatte einen Rahmen gehabt und jetzt verließ sie auch den letzten schützenden Raum, der ihr geblieben war. Und ihr Vater war noch nicht einmal da. Er musste arbeiten, selbst heute.
„Du kannst uns ja jederzeit besuchen kommen“, tröstete ihre Mutter sie, „Wir werden dein Bett stehen lassen.“
„Ja“, flüsterte sie. Das Bett würde hier bleiben, ebenso wie viele andere der Möbel und Gegenstände, die sie lieb gewonnen hatte. In ihrem WG-Zimmer war einfach viel weniger Platz als in diesem. Schon vor einigen Wochen hatte sie begonnen zu überlegen, was hier bleiben sollte. Seitdem waren die Kartons ein Dutzend Mal umgepackt worden.
Draußen hupte ein Auto. Ihre Mutter stand auf und schob die Vorhänge zurück.
„Ich glaube, wir sollten beginnen, deine Sachen runter zutragen“, meinte sie.
„Jetzt schon?“, fragte Rebecca, für die alles viel zu schnell ging. Hatte sie nicht erst gestern die Studienzulassung erhalten?
„Na komm.“ Aufmunternd nickte sie ihr zu.
Zögernd griff Rebecca nach dem Karton mit ihren Lieblingsbüchern und folgte ihrer Mutter die Treppe hinab. An der Wand hingen noch immer die Kinderfotos von ihr, ihre Hauspuschen standen neben dem Treppenpfosten, gegen den sie einmal gelaufen war und sich die Stirn aufgeschlagen hatte. In der Küche waren immer noch die Fugen, die sie als Kind nie hatte berühren wollen, weil dort die gefährliche Lava floss. Der Küchentisch war mit Farbsprenkeln geziert. Viele Bilder waren hier entstanden, einige Laternen und Papierboote gebastelt worden. Die Wenigsten von ihnen hatten den Weg in die Kartons gefunden. So viele Erinnerungen, so viele Jahre. Vergangen.
Tief atmete Rebecca ein, dann folgte sie ihrer Mutter durch die Tür nach draußen.
„Papa!“, rief sie, als sie erkannte, wer sie erwartete.
Ihr Vater wuschelte ihr durchs Haar und nahm ihr den Karton ab.
„Natürlich. Oder denkst du, dass ich meine Tochter einfach so gehen lassen würde?“
Sie folgte ihm zu dem Firmenwagen ihres Onkels, der an der Straße geparkt worden war. Er stellte den Karton hinein und wandte sich zu ihr um. Verheißungsvoll klimperte er mit dem Autoschlüssel.
„Ich habe dich nun achtzehn Jahre begleitet. Da dachte ich mir, dass ich auch dieses Stück deines Weges noch eine Weile mit dir gehen sollte.“
„Aber der Zug! Ich habe doch eine Karte gebucht.“ Eigentlich hatte sie geplant, alleine zu fahren. Ihre Mutter hatte die Sachen am Wochenende nachbringen sollen.
Er zuckte mit den Schultern. „Dann habe ich sie eben storniert.“
„Papa!“ Rebecca grinste und fiel ihrem Vater um den Hals. „Danke“, nuschelte sie an seiner Schulter.
Seine warme Hand strich über ihren Rücken. „Ich liebe dich, Rebecca und ich bin stolz auf deine Entscheidung. Du wirst das hervorragend machen.“
Gerührt verstärkte sie die Umarmung und hoffte dadurch all das ausdrücken zu können, was sie nicht in Worte fassen konnte.
„Du musst doch morgen früh zur Arbeit, Papa. Die Fahrt ist lange. Du brauchst deinen Schlaf.“
„Meinst du nicht, dass meine Tochter es wert ist, mir einen Tag frei zu nehmen, um mit ihr die neue Stadt zu erkunden, wenn sie es denn möchte?“
Strahlend ließ Rebecca ihren Vater los und nickte. „Ja!“ Sie umfasste seine Hand und zog ihn ins Haus.
„Jetzt müssen wir uns aber beeilen, damit wir die Sachen noch alle reinkriegen.“
„Was sollen wir denn zuerst tragen?“, fragte er, als sie oben in ihrem Zimmer standen.
Zielstrebig zeigte Rebecca auf das scharlachrote Sofa.
„Das.“
Ihr Vater runzelte die Stirn.
„Vielleicht sollten wir die Topfpflanzen zunächst aus den Ecken der Treppe nehmen.“
„Quatsch“, verkündigte sie, „Das schaffen wir auch ohne.“
„Na gut.“ Er lächelte.
„Vorne oder hinten?“
„Hinten“, entschied sie und suchte sich eine gute Position, um es hochzuheben.
„Wusstest du?“, fragte ihr Vater ächzend, „Dass auf diesem Sofa…“
„…Mamas Fruchtblase geplatzt ist?“, ergänzte sie lächelnd. „Ja, das wusste ich.“
„Und genau deshalb soll es mit. Gewissermaßen hat hier mein Leben begonnen.“
„Hätte es nicht ein leichteres Sofa sein können?“, knurrte er, als sie gegen eine Ecke der Tapete schabten.
Rebecca sah über das Scharlachrot hinweg zu ihrem Vater.
„Nein, denn es ist mein scharlachrotes Sofa.“
„Dein scharlachrotes Sofa“, stimmte er ihr zu.
„Und es soll auch ein Teil meines neuen Lebens sein.“
„Das wird es“, erklärte er, „Das wird es.“
Nun fiel ihr das Packen sehr viel leichter.