Scharlachrot
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Bernd, oder?“ Marion starrte fassungslos auf den Stoff, den er ihn mitgebracht hatte.
„Natürlich!“ Ihr Freund grinste frech. „Du kennst mich doch, oder?“
„Du mit deinem Vampirtick“, stöhnte sie genervt, gar nicht angetan von seinem Geschenk.
„Nun hab dich nicht so, Marion!“ Der junge Mann wirkte fast ein wenig enttäuscht. „Du kennst mich doch. Hast du wirklich etwas anderes erwartet? Es ist doch eine Halloweenparty, oder nicht?“
„Aber warum soll ich als Vampirin gehen? Ausgerechnet? Es reicht doch, wenn du als Vampir gehst – wie jedes Mal.“
„Aber wir sind doch zusammen. Dann ist es doch viel netter, wenn wir auch das gleiche Kostüm tragen. Findest du nicht?“
Als Blutsauger- Paar! Besonders lustig war das wirklich nicht.
Seufzend hielt sie den schwarzen Samtumhang hoch. Wirklich klassisch – mit dem hohen Stehkragen und dem scharlachroten Innenfutter. Aber trotzdem…
Sie hatte eigentlich nichts gegen Vampire, ganz im Gegenteil. Sie schaute sich sogar sehr gerne Filme mit diesen Untoten an.
Aber Bernd war einfach besessen von Vampiren. Und es wurde immer schlimmer.
Sie wartete nur noch darauf, dass er eines Tages behauptete, selbst einer zu sein. Reichte es nicht, dass er schon anfing, die Sonne zu meiden und neulich sogar Schweineblut geordert und getrunken hatte? Erwärmt in der Mikrowelle!
Ja, das klang jetzt verrückt, aber man konnte das tatsächlich bestellen. Aber das war sicher nicht gedacht, um es pur zu trinken.
Sie wusste sich langsam nicht mehr ein und aus. Bernds Tick wurde immer schlimmer und ihr schien es bisweilen wie ein Wahn, in den er sich hineinsteigerte.
„Weißt du, was ich finde? Du steigerst dich langsam hinein. Du bist nun mal kein Vampir, sondern ein Mensch!“
Der Mann blickte sie seltsam an, ehe er antwortete: „Du meinst Sterblicher! Und ja, das bin ich. Aber nun lass mir doch meinen Spaß und mach einfach mit. Wenigstens das eine Mal. Du wirst sehen, diese Party wird unvergesslich.“
„Ich würde lieber wieder als Geist gehen, wie letztes Jahr.“
„Nun komm schon – mach mir die Freude. Dieser schwarze Umhang zusammen mit deinem scharlachroten Kleid, das würde echt heiß aussehen. Dann schminken wir dich noch etwas weiß und für die Lippen nimmst du einen blutroten Lippenstift. Bitte, Marion.“
Weshalb, weshalb nur hatte sie sich breitschlagen lassen? Sie fühlte sich alles andere als wohl. Und dann war sie ausgerechnet noch Arm im Arm zusammen mit Bernd in den Saal hineinmarschiert. Alle hatten das Paar angestarrt.
Zumindest war es ihr so vorgekommen. Bernds Vampirismus war allgemein bekannt und nicht wenige lachten hinter seinem Rücken über ihn. Und verstand die lauten Rufe „Hey, heute schon Blut getrunken“, nicht als das was sie waren – Spott über seinen Tick. Stattdessen lachte er mit und freute sich nur, dass er am heutigen Tag seinen Traum offen ausleben durfte.
Und so saß sie nun neben ihm an der Bar, während er fröhlich das nächste Glas Rotwein bestellte. Klar, als Vampir trank er natürlich nur rote Flüssigkeiten. Ihren Einwand, dass sie nicht abgeklärt hatten, wer fahren würde, überging er geflissentlich und bestellte ihr augenzwinkernd eine Cola.
Ihr Lieblingsgetränk. Dieses orderte sie immer, wenn sie mit dem Auto dran war und deshalb keinen Alkohol trinken durfte.
Aber einfach über sie bestimmen.
Etwas sehnsüchtig blickte sie zur Tanzfläche. „Bernd?“
„Hm?“, antwortete er abwesend.
„Ich würde mal gerne eine Runde tanzen.“
„Du später, gerne. Ich warte noch auf Richard, der wollte gleich kommen. Dann können wir gerne eine Runde rumzappeln.“
Rumzappeln!
So langsam reichte es ihr! Sie hatte ihm zuliebe dieses alberne Kostüm angezogen, und was tat er? Irgendwie ging es immer nach seinem Kopf.
Etwas frustriert leerte sie ihr Glas und stellte es auf den Tresen. „Ich kann hier nicht länger rumstehen, sondern muss mich ein wenig zur Musik bewegen. Ich möchte das jetzt nicht unbedingt allein machen. Du siehst doch, wenn Richard kommt.“
„Nein, nein. Geh du nur tanzen. Ich komm dann später auch, versprochen“, wimmelte ihr Freund sie in einem recht gleichgültigen Ton ab.
‚Dann halt nicht, du Arsch‘, fluchte sie im Stillen, während sie hastig aufstand und zu der tanzenden Gruppe rüberging.
Ein wenig hoffte sie anfangs noch, dass Bernd ein Einsehen hätte. Schließlich sah sie mehrmals auffordernd zu ihm hinüber.
Das einzige, was sie erntete, war ein nichtsagendes Lächeln, während sich dieser Blödmann viel zu oft suchend umschaute und für alles Augen hatte, nur für sie scheinbar nicht. Viel zu selten schaute er in ihre Richtung, als sei sie eine Fremde, deren Blick man eben nur zufällig streifte.
Manchmal kam ihr Ben tatsächlich wie ein Vampir vor – der sie aussaugte und ausnutzte, je nachdem, wozu er gerade Lust hatte. Er dachte scheinbar überhaupt sehr oft an sich selbst und sie kam sich im Augenblick sehr ausgenutzt vor. Weshalb gingen sie eigentlich im Partnerlook, wenn sie gar nicht als solches auftraten.
„Auf besonderem Wunsch nun einige ruhigen Sachen“, hörte sie den Sänger ankündigen, bevor die Band das nächste Lied anstimmte. Who wants to live forever
Solche Songs waren nicht unbedingt geeignet fürs Solo Tanzen. Unschlüssig stoppte sie in ihren Bewegungen.
„Verzeihung? Marion, oder?“, hörte sie mit einem Male eine warme Stimme hinter sich.
Überrascht blickte sie sich um.
„Aaron?“ Hoffentlich hatte sie sich jetzt nicht blamiert. Dieser Blonde war erst kürzlich in ihr Wohngebiet gezogen, drei Häuser von ihrem entfernt. Sie waren sich abends zufällig begegnet und hatten ein paar Worte gewechselt. Der junge Mann hatte sich kurz vorgestellt und gleich das Du angeboten. Sie war normalerweise nicht so schnell bei solchen Dingen, aber sie waren ja schließlich Nachbarn und Aaron war ihr sofort sympathisch gewesen. Ein höflicher junger Mensch, der vor allem nicht so bleich daherkam wie Bernd.
„Schön, dass du dich an mich erinnerst. Hast du Lust auf eine Runde zum Tanzen?“
Sie zögerte nur einen Moment. Ihr Freund hatte selbst Schuld – und vermutlich war es ihm nur recht, wenn sie hier mit jemanden anderem tanzte und ihm nicht in die Pflicht nahm.
Und wenn doch, dann war es die Gelegenheit für Bernd ihr zu zeigen, dass ihm etwas an ihr lag.
„Warum nicht?“, lächelte sie freundlich und bot ihm die Hand, die er galant ergriff und einen Handkuss andeutete.
„Es ist mir eine große Freunde, Marion“.
Aaron hatte sich als eine Art Waldgeist verkleidet. Eine grüne Perücke, die sehr gut mit seinen Augen harmonierte. Sein Gesicht war ebenfalls leicht geschminkt. Weiter trug er eine Art grüne Robe, die mit diversen Federn, bunten Blättern aus Filz und auch Tannenzapfen geschmückt war. Dazu trug er passende ockerfarbene Schuhe, die man auch gut auf einem Mittelaltermarkt hätte tragen können.
Sie war selbst überrascht, dass sie ihn sofort erkannt hatte, schließlich hatten sie sich genau einmal und nur kurz zuvor gesehen – aber musste man alles hinterfragen? Vermutlich lag es an seiner fast mystischen Stimmen, deren ungewöhnliche Wärme sie schon damals außerordentlich beeindruckt hatte. Und dazu noch diese geheimnisvollen Augen, die bis in den Grund ihrer Seele zu blicken schienen.
„Bist du ein Vampirfan, Marion?“, fragte ihr Nachbar neugierig, während sie sich beide langsam zum Takt der Musik hin- und herwiegten.
„Ach wegen das Kostüms? Nein, nein, das war die Idee meines Freunds, Bernd. Er liebt diese Blutsauger. Ich bin mittlerweile nur noch genervt davon, hatte aber im zuliebe dieses Kostüm angezogen.“
Ein leichtes, fast ironisches Lächeln umspielte die Lippen des Blondes. „Das nenne ich in der Tat eine Ironie des Schicksals“, antwortete er leise.
Marion verstand den Sinn nicht, mochte aber nicht mehr darüber nachdenken. Nach all dem Ungemach mit Bernd war sie einfach froh, endlich Ruhe vor diesem leidigen Thema zu haben. Aarons Gegenwart lullte sie auf seltsame Weise ein, und ohne dass sie wirklich wusste warum, schloss sie ihre Augen und legte ihren Kopf auf seiner Brust ab.
Damit war sie nicht die einzige auf der Tanzfläche. Viele Pärchen wiegten sich zur Musik und schienen ganz darin aufzugehen – nur noch auf den Partner konzentriert.
So bemerkte auch niemand, dass sich Aaron für einen Bruchteil einer Sekunde veränderte – fast so, als hätte er sich für einen Augenblick nicht im Griff. Seine Augen waren nicht mehr grün, sondern scharlachrot. Und seine vier Eckzähne schienen auf einmal unnatürlich spitz zu sein.
Aber so schnell diese Verwandlung hervorgekommen war, so schnell war sie auch wieder verschwunden.
Und Aaron, der nette Nachbar von nebenan, tanzte weiter mit ihr. Keiner schien die beiden bewusst zu bemerken – sogar Bernd hatte seine Freundin vergessen, sondern begrüßte stattdessen überschwänglich Richard, der gerade eingetroffen war.
Es war der Abend, an dem Marion aus Bernds Leben verschwand.