Pressegeier oder Erinnerungen an Omayra Sánchez
Erinnern sie sich noch an Omayra Sánchez? Muss man diesen Namen kennen, fragen Sie sich? Sicher heutzutage wechseln die Topthemen in den Medien stündlich. Alles, was weiter als ein Jahr zurück liegt ist bereits von einer diffusen Schicht tausender News überdeckt.
Mit Sicherheit erinnern Sie sich nicht mehr an die Vulkankatastrophe von 13.11.1985 am Nevado del Ruiz, denn sie liegt eine halbe Ewigkeit zurück. Damals jedoch, verfolgte ein weltweites Publikum geifernd das Sterben eines kleinen Mädchens, das bis zum Hals im Wasser und Schlamm steckte. Ihr Fuß war eingekeilt zwischen Steinen, Beton und dem Schlamm, der ihre Heimatstadt Amero in der Nacht fast vollständig vernichtete. Das Schicksal dieses 12-jährigen Mädchens erregte tagelang die Gemüter eines weltweiten Publikums. Fast rund um die Uhr wohnten Zuschauer vor dem Fernseher dem Siechen eines Menschen bei, ohne eine genau Vorstellung zu haben, was eigentlich passiert war. Die Zuschauer litten mit dem kleinen Mädchen mit, um das sich rührige Helfer vor Ort kümmerten. Sie wurde zu einer tragischen Berühmtheit! Hoffentlich lebt sie im Gewissen vieler Pressephotographen weiter, denn ein Foto von ihr wurde zum Pressefoto des Jahres 1985 gekürt. Damals änderten sich auch die Moralvorstellungen der Reporter, die Aasgeiern gleich überall einschweben, um Sensationen gewinnbringend an die Presse zu verhökern. Wir sahen ja nicht, was diese Leichenfledderer alles machten, um gute Fotos zu bekommen. Erst im Nachhinein wurde zaghaft diskutiert, ob es sich nicht um eine besonders perfide Form des Voyeurismus handelte, oder ob dieses Bild notwendig war, um die Weltöffentlichkeit über eine Tragödie in einem fernen Land zu informieren. Gleichgültig, wie Sie oder ich darüber denken, das Foto erzählt mehr als eine Tragödie. Einige möchte ich ihnen näher bringen.
Doch zunächst wollen wir uns der Frage zuwenden, was eigentlich eine Katastrophe ist. Ich möchte Sie nicht mit einer faden Definition langweilen, daher benutze ich klare Bilder, um Ihnen näher zu bringen, was eine Katastrophe überhaupt ist. Dabei ist es gleichgültig welches Ereignis, ob ein Zugunglück, ein Bergsturz, ein Tsunami oder ein Erdbeben zu einer Katastrophe führt. Alle Katastrophen kommen überraschend und unvorhersehbar. Sie haben ein Ausmaß, das sich unserem täglichen Erfahrungsschatz entzieht. Katastrophen stellen unsere gewohnte Welt binnen Sekunden auf den Kopf und machen uns hilflos. Die Folgen einer Naturkatastrophe haben jedoch immer alle eines gemeinsam. Die gesamte Infrastruktur, also alles, was in den ersten Minuten, Stunden und Tagen benötigt wird, wurde zerstört und jeder Überlebende muss nun um das nackte Überleben kämpfen. Die Möglichkeiten anderen zu helfen sind in der wichtigsten Zeit nach der Katastrophe stark eingeschränkt, denn von der Schaufel, dem Verbandszeug bis zu der Nahrung mangelt es an allem. Mit bloßen Händen versuchen die Überlebenden zu helfen, denn in ihrer seelischen Not, sehen sie nur ihr eigenes Leid und das Leid der anderen Opfer und fühlen sich von der Welt alleine gelassen. Sie streifen in diesem Zustand das rationale Denken ab, weil sie in ihrer Trauer gefangen sind. Hilflos müssen die Opfer mit ansehen, wie ihre Verwandten leiden und sterben und alles was ihnen lieb ist verloren ist. Und selbst, wenn die ersten Helfer eintreffen, dauert es oft noch zu lange, bis die Hilfe bis zu dem letzten Opfern gelangt.
Die wahre Magie eines Fotos sehen nicht alle Leser. Dennoch, jedes gute Foto erzählt mehr als eine Geschichte. Einerseits ist es nicht mehr, als eine Momentaufnahme, dennoch kann ein Foto ein Drama brutaler einfangen, als zig lange Texte. Es wird das Leid einer Person eindrücklich visualisiert, daneben gewinnt die Katastrophe eine persönliche Dimension, die einen flüchtigen Betrachter ansonsten verloren ginge. Es zeigt eindringlich die Verletzlichkeit unserer gewohnten Umwelt und die Hilflosigkeit der Opfer und Helfer, stellvertretend für alle Menschen, die von einer Katastrophe überrascht werden. Wir müssen uns eingestehen, wir Menschen sind schwach und werden niemals den ungeheuren Naturgewalten trotzen, die plötzlich über uns hereinbrechen. Bei den Bild denken wir zunächst an das hilflose Mädchen, welches vor unseren Augen litt, erst danach denken wir darüber nach, dass etwa 25.000 bis 40.000 Menschen in Armero, Mariquita, Honda oder Chinchina bei dieser Tragödie binnen Sekunden in den Tod gerissen wurden. Ohne so ein eindringliches Foto, würde vermutlich keine Hilfsorganisation helfen können, denn erst wenn wir das Leid so eindringlich visualisiert bekommen, lassen wir uns erweichen und spenden ein wenig Geld. Wir reflektieren jedoch nicht, dass der Fotograf sich damit ebenfalls seine Taschen prall füllte.
Danach hinterfragen Sie vielleicht, warum dem Mädchen nicht geholfen wurde. Im Internet findet sich die lapidare Aussage, dass es nicht möglich war rechtzeitig eine spezielle Pumpe dorthin zu transportieren. Spätestens jetzt sollten Sie stutzen! Denken sie etwa, dass es in diesem Land keine passenden Pumpen gab, weil Naturkatastrophen immer die Ärmsten der Armen treffen und dem Mädchen aus diesem Grund nicht geholfen werden konnte. Ich muss Sie enttäuschen. Pumpen jeglicher Bauart gab es in Kolumbien wahrlich genug und sogar Pumpen mit dem der Schlamm hätte beseitigt werden können. Nein, Sie werden nicht in die Irre geführt, denn Kolumbien ist ein Bergbauland mit langer Tradition. Kolumbien ist immerhin das Land der Smaragde, anderer Edelsteine und vieler Edelmetalle, die in tausenden Minen abgebaut werden. Und wer Minen kennt, der Weiß, dass es in jeder Mine zig Pumpen verschiedenster Bauart gibt. Somit gab es in Kolumbien jegliche Art von Pumpen. Irritiert denken sie jetzt daran, vermutlich mangelte es nach der Katastrophe an Transportmitteln oder es fehlten Stromaggregate. Auch diese Frage muss mit einem klaren nein beantwortet werden. Obwohl es nicht ganz richtig ist. Sicher, Hilfsorganisationen charterten sofort nach dem Bekanntwerden der Katastrophe Flugzeuge aller Art und Größen, um Helfer in das Krisengebiet zu transportieren. Binnen 30 Stunden gelangten Hilfsgüter aus aller Welt nach Bogota und Medellin und zu anderen Flugplätzen rings um das Katastrophengebiet. Von dort ging es jedoch nicht weiter, weil die Reporter halt die Hubschrauber dringender brauchten, um wirklich jeden Flecken Elend mit ihren Fotoapparaten zu erkunden. Somit sind sie auch daran Schuld, dass Omayra starb, weil sie die Hilfe unterbanden und behinderten.
Binnen Stunden wurden in Europa, den USA und in Asien Flugzeugmotoren angeworfen und Hilfslieferungen ins Krisengebiet geflogen. Es mangelte binnen 30 Stunden weder an Rettungsstaffeln, Trinkwasseraufbereitungsanlagen, Notlazaretten oder andere Hilfsgütern. Aber offenbar hatte keine der vielen nationalen Hilfsorganisation an eine simple Schlammpumpe gedacht, um einem kleinen Mädchen zu helfen. Offenbar hatte keiner eine entsprechende Pumpe mitgebracht, da die unter Schock stehenden Koordinatoren vor Ort, diese offenbar nicht angefordert hatten. Leider ist auch das falsch. Es wurde an alles gedacht und auch an die Pumpen. Pech nur für Omayra, dass die Pumpen irgendwie verschwanden, weil sie woanders dringender gebraucht wurden.
Die lokalen Erkunder begannen noch in der Nacht mit einer erste Analyse der Katastrophe, sie fanden Überlebende, die an Verbrühungen und Verätzungen litten. Sie sahen ein zerstörtes Krankenhaus und eine fast vollkommen zerstörte Stadt. Sie merkten recht schnell, dass es stellenweise gefährlich war, den Boden zu betreten, der die Stadt zerstört und offenbar das meiste unter sich begraben hatte. Nach der Naturkatastrophe folgte nun die humanitäre Katastrophe. Hilfslieferungen aus dem Land trudelten binnen Stunden ein. Die wenigen Straßen waren bald überfüllt und Legionen von Fotoreportern charterten Hubschrauber, Taxis und alles, womit man rasch in das Katastrophengebiet gelangen konnte. Die Helfer vor Ort hatten nun andere Probleme, sie mussten die Verletzten bergen und versorgen und sogar vorwitzige Fotoreporter retten, die trotz aller Kontrollen in ihrem geilen Wahn zum Ort der Verwüstung vordringen wollten. Helfer wurden abgezogen, um ein Mindestmaß an Ordnung aufrecht zu erhalten. Erst als Stunden später die Armee eintraf gelang es die Heuschreckenplage mit den Fotoapparaten vor den Augen so weit zurück zu drängen oder zu kanalisieren, dass es wieder gelang den Opfern zu helfen. Um das kleine Mädchen konnten sich nur wenige Helfer kümmern, denn es war gefährlich über den heißen und nach faulen Eiern stinkenden Untergrund zu dem Mädchen zu gelangen. Aber einige Photographen witterten eine Sensation. Wie Hyänen stürzten sich die Reporter auf das hilflose Mädchen. Einer brachte dem Mädchen immerhin etwas zu trinken mit, die anderen zogen jedoch weiter, um gut verkäufliche Ware zu ergattern, die aus bunten und zumeist grotesken Bildern bestand. An anderen Stellen tauchten grässlich entstellte Leichen auf. Schon setzte sich der Tross der kruden Reporter wieder in Bewegung um die Sensationen auf das Filmmaterial zu bannen.
Geowissenschaftler, die von INGEOMINAS zum Ort der Katastrophe geschickt wurden, um wissenschaftlich die Ereignisse aufzunehmen wurden ebenso von den Reportern belagert, wie die Hilfskräfte, die versuchten Menschenleben zu retten. Mit hohen Dollarbeträgen versuchten die Reporter nun interessantes Background-Material zu ergattern. An die kleine Omayra dachte sie schon lange nicht mehr, bis auf einige verzweifelte Helfer, die das Mädchen trösteten und versuchten sie zu versorgen, so gut es eben in diesem Chaos ging.
Die Armee musste nun erst einmal die mit Dollarnoten um sich werfenden Reporter schützen, weil sich Opfer an diesen Aasgeiern vergriffen. Zudem mussten die Soldaten eine halbwegs gut funktionierende Logistik herstellen, während die Polizei vor Ort für Sicherheit und Ordnung sorgen musste, weil Plünderer aus anderen Regionen des Landes über die Reste der Stadt herfielen.
Erst zu spät drangen geeignete Helfer zu dem Ort der Katastrophe vor, vorsichtig näherten sie sich der kleinen Omayra, die inzwischen schon 36 Stunden in ihrer Falle hockte. Sie erkundeten mit allen ihn zur Verfügung stehenden Mitteln den Untergrund und ertasteten das Problem. Es wurden vermutlich viele Ideen entwickelt, um dem Mädchen zu helfen. Doch es fehlte nicht nur eine simple Pumpe, sondern viele verschieden Pumpen. Es fehlten auch andere Hilfsmittel, um das Mädchen lebend aus dem Schlamm zu befreien. Die Zeit arbeitete jedoch gegen Omayra und bevor endlich alles vor Ort war gab der von säurehaltigem Wasser umgebene Körper des Mädchens auf.
Ich bin damals nicht vor Ort gewesen, habe jedoch diese Eindrücke von manchen Helfern erfahren, die in den Tagen nach dem 13. November 1985 vor Ort waren. Hinter vorgehaltener Hand wurde mir gesteckt, dass die Pumpen alle in Medellin gelandet sein. Dort war der U-Bahn Tunnel von der Flutwelle, die der Schlammstrom in dem Rio Magdalena auslöste, überflutet worden. Ein Schweizer Ingenieur, der an dem Projekt mitarbeitete, erklärte mir lapidar, bei einem zufälligen Treffen im Unicentro in Bogota, dass die Jungfernfahrt der U-Bahn für den 30. November 1985 geplant war und auf keinen Fall verschoben werden durfte. Pumpen gab es dort in ausreichender Menge, sogar welche, die frisch importiert waren und herrenlos in Bogota herum standen. Leise fügte er noch an. Die Macht der Politiker und der Kartelle machen einem das Leben in Medellin zur Hölle. Wer nicht spurt, der stirbt! Ich selbst kann diese Aussage bestätigen, da während meiner Zeit in Kolumbien ein Bekannter ermordet wurde, der es gewagt hatte ein Pferd zu streicheln. Ein anderer Kollege verschwand einfach spurlos. Den Grund kenne ich nicht, aber in Kolumbien ist ein Menschenleben kaum mehr wert als zehn Dollar.
Als Fazit kann man nur sagen, dass Omayra Sánchez sicherlich hätte gerettet werden können, wenn die Presse-Aasgeier nicht sämtliche Helikopter gechartert und die U-Bahn in Medellin keine Schäden davon getragen hätte. Ferner fehlte es an einem Machtwort des Präsidenten, um die Hubschrauber dort einzusetzen, wo sie tatsächlich gebraucht wurden.