Nachdenklich schritt Lucius die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Er hatte kurz zuvor von seiner Frau erfahren, dass Ronald Weasley tot war, und Bellatrix hatte sich offensichtlich den Spaß erlaubt, das genüsslich vor Hermine auszubreiten. Er war sofort zu ihr in die Küche geeilt, da er sich vorstellen konnte, wie schwer sie diese Nachricht getroffen haben musste – doch Severus war ihm zuvor gekommen. Er hatte nicht gehört, worüber sie gesprochen hatten, aber wie Hermine sich an seine Brust gelehnt hatte, wie Severus ihr einen Arm um die Schultern gelegt hatte, all das sprach Bände.
Waren sich die beiden inzwischen wirklich so nahe? Wann war das geschehen? Und wie? Wie konnte Hermine vergessen, was er ihr angetan hatte? Oder gar verzeihen? Und wieso konnte sie Severus so nah an sich heranlassen, aber nicht ihn? Sie standen doch auf derselben Seite, die Fronten waren geklärt! Was war ihr Problem? Er war Lucius Malfoy, er stammte aus einer alten, traditionsreichen Zaubererfamilie, hatte Geld und Wissen und Macht. Vielleicht nicht mehr im selben Maße wie früher, aber immer noch mehr als der übliche Magier. Wie konnte sie Severus ihm vorziehen?
Von unten ertönte das laute, übertriebene Gelächter von Bellatrix und riss ihn aus seinen Gedanken. Lucius blieb auf dem Treppenabsatz stehen, wandte sich zu den Gemälden an der Wand um und schaute zu dem von Abraxas, seinem Vater, hoch. Sein Vater blickte mit seinem typischen, nachsichtigen Lächeln zurück.
Sein Vater war ein Schulkamerad von Voldemort gewesen, einer der ersten Todesser und treuer Begleiter bis zum Schluss. Doch er war gestorben, ehe Voldemort von den Toten auferstanden war, er kannte den Mann nicht, in den sich der Dunkle Lord verwandelt hatte. Als er jung gewesen war, hatte sein Vater ihm häufig von dem Genie erzählt, das Tom Riddle bereits zu Schulzeiten gezeigt hatte, von dem messerscharfen Verstand, mit dem der spätere Voldemort jede Situation analysieren und zu seinen Gunsten drehen konnte. Und von seinem Charme.
Würde Abraxas Malfoy dem Mann, der jetzt als Voldemort über die Erde wandelte, auch folgen? Verriet er seinen Vater, wenn er sich an dem Mord beteiligt? Entschlossen setzte Lucius seinen Weg zum Arbeitszimmer fort. Es war egal, was sein Vater dachte, er hatte sich entschieden. Er war seinem Sohn verpflichtet, der noch lebte, nicht seinen Vorvätern. Es war an ihm, die Zukunft der Familie Malfoy zu sichern, und er war sich sicher, dass es unter dem Dunklen Lord keine Zukunft für ihn oder Draco geben konnte.
Und wie auch immer seine eigene Zukunft aussehen mochte, ob Hermine Granger ihm eine Chance geben würde oder nicht, all das musste für den Augenblick warten. Jetzt war es wichtig, sich auf den Sturz des Dunklen Lords zu konzentrieren, alles andere konnte, ja, musste warten. Egal, wie eifersüchtig er war, egal, wie sehr er wissen wollte, was genau zwischen Hermine und Severus war, wenn er sich jetzt ablenken ließ, würde er gar keine Zukunft haben.
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„Was sind Horcruxe?“
Überrascht schaute Hermine von dem großen Bett auf. Sie war Draco nach dem Abendessen auf sein Zimmer gefolgt, da sie Angst davor hatte, die Nacht alleine in ihrem Kabuff zu verbringen, wenn Bellatrix Lestrange ihm Haus war, und gleichzeitig hatte sie in ihrer Anwesenheit nicht zu Lucius gehen wollen. Draco hatte gegen ihre Gesellschaft nichts einzuwenden.
„Wieso fragst du?“, erkundigte Hermine sich erstaunt. Hatte Draco nicht stets betont, dass er mit allem gar nichts zu tun haben wollte?
„Interesse. Ich habe das Wort noch nie gehört und erstaunlicherweise konnte ich auch in Vaters Bibliothek nichts finden“, erklärte Draco, während er sich zu Hermine auf sein Bett setzte.
„Nicht verwunderlich. Das ist nicht nur tiefschwarze Magie, es ist auch beinahe vergessen. Was auch besser so ist“, erwiderte sie langsam. Der interessierte Ausdruck verließ Dracos Gesicht nicht und so beschloss sie, die Karten offen auf den Tisch zu legen: „Okay, schau. Horcruxe sind Gegenstände, alles Mögliche, manchmal sogar Lebewesen. Diese Gegenstände tragen einen Teil der Seele des Zauberers in sich, der sie erschaffen hat.“
„Der Seele?“, hakte Draco verblüfft nach.
„Korrekt“, nickte Hermine, die nichts dagegen tun konnte, dass ihre Unterlippe zu zittern anfing. Wann immer sie über ihre Horcrux-Jagd mit Harry und Ron zurück dachte, befiel sie tiefe Traurigkeit. Doch sie riss sich zusammen und fuhr fort: „Wenn du einen Menschen tötest, kannst du einen Teil deiner Seele abspalten und an einen Gegenstand binden. Oder ein Lebewesen.“
„Hat … hat Du-weißt-schon-wer das getan?“, fragte Draco, der inzwischen so aussah, als bereute er, sich nach Horcruxen erkundigt zu haben.
„Ja. Und nicht nur einmal“, bestätigte Hermine. „Nach unserem Wissen hat er sieben Horcruxe erschaffen.“
„Sieben? Heißt das, er hat … siebenmal seine Seele gespalten?“, rief Draco mit einem Ausdruck des Horrors aus.“
„Ja.“
„Warum? Wozu sind die gut?“
Hermine schaute zur Seite: „Wenn du getötet wirst, stirbst du nicht, solange irgendwo ein Horcrux mit deiner Seele existiert. Vol- … Du-weißt-schon-wer hatte vor nichts mehr Angst als vor dem Tod. Deswegen hat er schon als Schüler angefangen, Horcruxe zu erschaffen.“
Stumm blickte Draco auf seine Hände, bis ihm schließlich etwas einfiel: „Hat er deswegen damals überlebt? Als sein Fluch von Potter reflektiert ist?“
„Ja.“
„Und jetzt? Wie wollt ihr ihn töten, solange er Horcruxe hat?“
Ein gequältes Lächeln erschien auf Hermines Lippen: „Es gibt nur noch eines. Alle anderen haben … haben Harry, Ron und ich im Laufe des letzten Jahres zerstört. Deswegen waren wir nicht in Hogwarts.“
Kopfschüttelnd lehnte Draco sich an die Rückwand seines Bettes. Sein Gesichtsausdruck war nicht deutbar als er schließlich sagte: „Ich hatte keine Ahnung. Als ich damals Todesser wurde, hatte ich keine Ahnung, was … was für ein Monster er ist. Und dass ihr … ich dachte immer, die ganzen Geschichten um Potter und so seien übertrieben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass …dass solche Versager wie Potter und Weasley und du als … als Schlammblut wirklich irgendwas Großartiges vollbringen könnten“, murmelte er mit einem schrägen, sarkastischen Grinsen. „Die Wirklichkeit ist beinahe noch unglaublicher. Ihr scheint mehr über Du-weißt-schon-wen zu wissen als selbst seine engsten Vertrauten.“
„Ja, da bin ich mir sicher. Er ist zu misstrauisch, um selbst seine engsten Anhänger in diese Schwäche einzuweihen.“
„Was ist das letzte Horcrux?“, fragte Draco schließlich.
„Seine Schlange. Nagini.“
„Oh. Deswegen meintest du, auch Lebewesen können Horcruxe sein“, nickte er langsam, „also muss sie zuerst sterben, ja?“
„Richtig.“
„Sag mal …“, fiel Draco plötzlich entsetzt ein. „Wieso redest du so offen darüber? Hattest du nicht vorher immer Angst, dass jemand lauschen könnte?“
„Nicht mehr. Zuvor wusste ich nicht, wie dein Vater einzuordnen ist, er war derjenige, der hätte lauschen können … mit Abhörzaubern und so. Die Gefahr besteht nicht mehr. Deine Mutter hat offensichtlich nie mit Hilfe von Zaubern irgendwo gelauscht, sonst … wären gewisse Dinge anders gelaufen. Und deine Tante hatte nie die Gelegenheit, ebenso wenig wie irgendjemand anderes. Es war immer nur dein Vater, vor dem ich Angst hatte.“
Draco sah nicht zufrieden gestellt aus, doch er ließ das Thema fallen. Mit einem letzten Blick zu Hermine entledigte er sich seiner Hose und seines Hemds, schlüpfte unter die Decke und verschränkte die Arme unter seinem Kopf: „Mittwoch wird spannend. Ich kann nicht anders, als Angst zu haben. Ich hasse Angst.“
Hermine tat es ihm gleich und kuschelte sich auf ihrer Seite des Bettes unter die Decke, den Kopf auf ihrem Arm aufgestützt: „Angst haben ist völlig normal. Ich hatte auch immer Angst, das ganze letzte Jahr. Wann immer wir im Kampf waren. Ich verstehe dich vollkommen und ich kann auch verstehen, dass die Angst dich lähmt und du deswegen dich raushalten willst. Wirklich. Das ist in Ordnung.“
„Granger!“, knurrte Draco und drehte sich mit finsterem Gesichtsausdruck zu ihr um. „Du bist unerträglich. Weißt du, wie ätzend es ist, wenn du ständig für alles Verständnis hast? Das nervt!“
Erschrocken riss Hermine die Augen auf: „Was?“
„Hast du jemals darüber nachgedacht, wie der andere sich fühlt, wenn du so bist?“
„Natürlich! Ich versuche immer, meine Mitmenschen zu verstehen, deswegen … deswegen sage ich doch auch, dass ich Verständnis habe!“, gab Hermine verwirrt zurück, doch Draco schüttelte nur schnaubend den Kopf.
„Blödsinn. Weißt du, was du wirklich tust, wenn du dich so verständnisvoll gibst? Du nimmst den anderen die Möglichkeit, sich zu verteidigen!“, erklärte er wütend. „Du bist nicht nur eine unerträgliche Besserwisserin, sondern machst dich immer zu einer moralisch überlegenen Person. DU hast Verständnis für die Schwächen anderer, während DU keine solchen Schwächen hast. Weißt du, wie frustrierend das ist? Am Ende bist immer du diejenige, die als moralische Siegerin hervor geht!“
Die Worte sprudelten nur so hervor, Hermine konnte sehen, dass Draco sich in Rage redete und obwohl sie nicht verstand, was er von ihr wollte, konnte sie nicht anders, als mit offenem Mund zu lauschen.
„Du zeigst nicht nur, dass du besser bist als ich, du nimmst mir auch jede Chance, dem etwas entgegen zu setzen. Das ist … das ist nicht auszuhalten. Du bist … so perfekt, dass es anstrengend ist. Kein Mensch will hören, dass es okay ist, schwach zu sein! Insbesondere nicht von jemandem, der selbst so perfekt ist!“, fuhr Draco fort, ehe er innehielt, um nach Luft zu ringen.
„Draco …“, flüsterte Hermine erschlagen, „ich wusste nicht, dass du so denkst. Wirfst du mir ernsthaft vor, dass ich Verständnis für dich habe und nicht mit … Verachtung reagiere?“
„Ja!“, zischte er. „Genau das tue ich! Kannst du nicht verstehen, dass du es damit nur noch schlimmer machst? Das ist, als ob du nicht nur besser bist, sondern es mir auch noch unter die Nase reiben willst!"
Stumm schaute Hermine ihn an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, so aufgebracht wirkte Draco plötzlich. Einige Momente starrten beide sich schweigend an, dann ließ Draco sich wieder zurück in sein Kissen fallen.
„Vergiss es, Granger“, schnaubte er, „du wirst das nie verstehen. Du gibst mir das Gefühl, unterlegen zu sein, und das mag ich nicht. Das mag niemand. Aber vermutlich tust du das nicht mal absichtlich. Du bist einfach so. Du hast ja schon in Hogwarts nicht bemerkt, wie nerv tötend es war, dass du auf jede Frage eine Antwort hattest und dich immer begierig gemeldet hast. Du bist wohl einfach so.“
Ohne ihr eine Chance zu geben, darauf zu antworten, drehte er ihr den Rücken zu und schloss die Augen. Verwirrt und unglücklich blieb Hermine zurück. Sie wollte doch nur, dass alle Menschen sich gut fühlten. Was war so schlimm daran, ihnen zu sagen, dass okay war, Angst zu haben oder Fehler zu machen? Sie verstand es einfach nicht. Dennoch konnte sie nicht anders, als jetzt mehr denn je Sympathien für Draco zu haben. Sie mochte ihn. Und sie war sich sicher, dass er ihr all diese Dinge nur gesagt hatte, weil auch er sie inzwischen mochte. Man machte sich nicht die Mühe, negative Verhaltensweisen bei anderen Menschen anzusprechen, wenn diese Menschen einem nichts bedeuteten.
Sie waren am Ende tatsächlich Freunde geworden.
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Draco war sich sicher, dass er nie in seinem Leben so nervös gewesen war oder so viel Angst gehabt hatte. Alle Todesser waren im großen Speisesaal versammelt, Voldemort saß am Kopf der Tafel, links von ihm saß Snape, rechts Bellatrix, gefolgt von seiner Mutter und seinem Vater. Er wusste inzwischen von Hermine, dass der Beginn von Voldemorts Rede das Stichwort für Snape und seinen Vater sein würde. Zuerst sollte sein Vater die Schlange töten, und nur einen Atemzug später würde Snape seinen Stab gegen Voldemort richten. Niemand wusste, was dann geschehen würde, doch er hatte beschlossen, augenblicklich in Deckung zu gehen und, wenn möglich, auch Granger in Sicherheit zu bringen. Gewiss würden die übrigen Todesser nicht einfach still halten und gelassen auf den Tod ihres Anführers reagieren.
Doch es gab ein Problem. Nagini war nicht da. Draco hatte gesehen, wie Voldemort seiner Schlange etwas zugeflüstert hatte, daraufhin hatte sie sich in den kleinen Salon hinter dem Speisezimmer begeben. Wie sollte sein Vater die Schlange jetzt töten? Es war ihm unmöglich, den Tisch zu verlassen, immerhin war er mehr oder weniger der Gastgeber.
Verzweifelt schaute Draco sich in der Menge um. Er gehörte zu jenen, die keinen Platz an der Tafel hatten, sondern in der Menge der weniger wichtigen Todesser standen. Niemand schien zu bemerken, dass er da war. Nur Hermine hatte ihm kurz einen Blick zugeworfen. Jetzt stand sie käsebleich in einer Ecke und suchte mit den Augen den Saal ab. Ihr war also auch aufgefallen, dass Nagini fehlte. Schnell schaute er zu Snape hinüber, doch der wirkte vollkommen unberührt. Wie sein Vater reagierte, konnte er nicht sehen, da dieser mit dem Rücken zu ihm saß.
Der Plan war fehlgeschlagen. Voldemort hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Nein! Das lasse ich nicht zu! Ich will das hier nicht mehr! Ich will, dass er stirbt! Ich will endlich wieder frei sein!
Entschlossen packte er seinen Zauberstab und schob sich Stück für Stück hinter der Menge der stehenden Todesser Richtung Tür. Niemand würde ihn bemerken, niemand würde seine Abwesenheit registrieren. Ein schneller Spruch und die Schlange war tot, ehe sie wusste, wie ihr geschah. Was sollte schon passieren? Danach konnte er sich immer noch irgendwo im Haus verstecken und warten, bis der Kampf vorüber war.
Er musste es wollen. Er musste die Schlange wirklich töten wollen, sonst würde der Spruch nicht wirken. Zitternd blieb Draco stehen. Er wollte es. Er wollte sie töten. Er wusste, was auf dem Spiel stand. Er hatte den Todesfluch noch nie angewandt, doch jetzt musste es beim ersten Versuch klappen. Er hatte sich nicht einmischen wollen, hatte Hermine gegenüber immer wieder betont, dass er nicht sein Leben aufs Spiel setzen würde für sie. Doch jetzt hatte er keine andere Wahl, wenn er es nicht tat, konnte es niemand tun. Und immerhin ging er kein Risiko ein, eine bloße Schlange zu töten. Er holte tief Luft, dann schlich er sich durch den Spalt der Tür.
Er entdeckte Nagini sofort, sie lag zusammen gerollt vor dem Kamin und genoss offensichtlich die Wärme des Feuers.
„Avada Kedavra!“, stieß er ohne zu zögern hervor. Die Schlange hatte keine Zeit, überrascht zu sein, sie war auf der Stelle tot. Schwer atmend senkte Draco den Stab. Er hatte es geschafft. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass Snape oder sein Vater das bemerkten.
„Du!“, hörte er da plötzlich eine tiefe Stimme hinter sich. Entsetzt drehte er sich um. Vor ihm stand Fenrir Greyback, einen Zauberstab in der Hand, die Augen voller Hass. Eiskalte Angst breitete sich in Dracos Magen aus, während er hilflos auf den abstoßenden Mann vor sich blickte. Unfähig, sich zu bewegen, verfolgte er jede Bewegung von Greyback. Er hatte sich verkalkuliert. Er hätte damit rechnen müssen, dass Voldemort seine Schlange nicht alleine lassen würde. Ein Zittern ergriff seinen Körper, während langsam das Bewusstsein für die Schwere seines Fehlers in sein Gehirn träufelte.
„Ausgerechnet du!“, zischte der Werwolf. Er hob den Stab und das letzte, was Draco sah, war grünes Licht.