Hinweis: Dies ist ein Beitrag zum Schreibwettbewerb "Das blaue Sternengift" der Assassinengilde. Bevor du das hier liest, lies also bitte zuerst die Aufgabenstellung bzw. die Vorgeschichte, die wir hier fortführen sollten, sonst ergibt das Ganze recht wenig Sinn ;-)
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Verwundert sahen die Bewohner einander an.
Roy Tiger brach das nachdenkliche Schweigen. „Was soll dieses Gegenmittel sein – ein Trank?“
Iasanara, die die Liste eifrig in ihr Notizbuch kopierte, nickte. „Klar, so steht es da ja. Aber ich glaube, es ist ein Zaubertrank! Erinnerungen kann man in einen normalen Trank nicht reinmischen.“
„Es könnte aber auch etwas völlig anderes sein“, gab Lyndis zu bedenken.
„Stimmt – es könnte sich um eine Metapher handeln, die uns nur zur Gruppenarbeit auffordern soll.“ Dark-in-the-night nickte.
„Außerdem es ist unwahrscheinlich, dass Kinder ein Zaubertrankrezept entwickeln.“ Viktoria wollte niemandem Fähigkeiten absprechen, aber die meisten Kinder, selbst die, die magisch oder alchemistisch begabt waren, interessierten sich nicht für trockene Rezeptoptimierung.
„Was auch immer es ist – wir scheinen dafür bestimmte Dinge zu brauchen“, rief Felix allen in Erinnerung. „Und wir sollten keine Zeit verlieren.“ Obwohl er sich bemühte, seine Stimme normal klingen zu lassen, hörte man doch leichte Beunruhigung heraus. Wenn Felix das sagte, glaubte Viktoria ihm sofort. Er war ein langjähriger Bewohner Belletristicas – wenn ihm die Situation Angst einjagte, war das Grund zur Sorge!
„Es wäre sinnvoll, wenn wir zunächst die Zutaten besorgen“, ging Maria auf Felix‘ Vorschlag ein.
„Ja, machen wir einen Wettbewerb draus! Wer zuerst alles zusammen hat!“ Iasanaras Augen funkelten vor Vorfreude.
Viktoria jedoch schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn wir uns alle auf denselben Weg machen, ist das doch Zeitverschwendung. Wir sollten zusammenarbeiten, nicht gegeneinander.“
„Ach, so macht es viel mehr Spaß!“ Iasanara hatte die Liste abgeschrieben, steckte ihr Notizbuch ein und grinste in die Runde. „Ich mach mich dann mal auf den Weg!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie eilig den Raum und stürmte davon.
Kopfschüttelnd sah Viktoria ihr nach. „Jeder wie er meint“, murmelte sie, bevor sie sich wieder den anderen zuwandte. „Wollen wir uns gemeinsam an die Arbeit machen?“
Sie sah reihum in die Gesichter der noch Anwesenden. Einige der Bewohner waren geflohen, zu verängstigt davon, sich nur wenige Räume weit von den blauäugigen Pseudonymen entfernt zu befinden. Andere waren losgezogen, ihre eigenen Lösungen zu finden. Nur Dark-in-the-night, Lyndis, Xenon Aridae, Maria K., Felix H. und Roy Tiger waren noch da und sahen einander an.
„Gehen wir an einen gemütlicheren Ort“, schlug Lyndis vor. „Hier können wir uns noch nicht einmal setzen.“
Der Lebensfunkentempel bot Arbeitsräume, die üblicherweise zur Pseudonymplanung genutzt wurden. Sie suchten einen auf, der möglichst weit vom Erschaffungsraum, in dem die blauäugigen Pseudonyme eingesperrt waren, entfernt lag.
Felix, der seine Kopie der Rezeptliste vor sich auf dem Tisch liegen hatte, las sie allen vor: Eine Prise reinsten Feenstaubs, eine schöne Erinnerung zur Zeit der Veränderung, Maskenrauch, Vulkangestein, das noch nie von der Hand eines Menschen berührt worden war, eine Maske aus Masquera, die Tränen eines blauäugigen sowie die eines normalen Pseudonyms und Lebensschimmer, die rote Blume aus dem Gebirge.
„Die Maske aus Masquera scheint da das Einfachste zu sein“, murmelte Roy. Alle nickten einhellig.
„Was ist denn Maskenrauch?“, fragte Viktoria und sah Felix, der Meisterbellologe war, fragend an.
Doch der zuckte nur ratlos mit den Schultern. Verdammt.
„Den Feenstaub bekommen wir sicherlich von den Feen“, stellte Maria fest. „Wir sind in Belletristica – da sind die Feen nie weit, man kann stets mindestens eine erreichen.“
„Aber die verschenken den Staub nicht einfach“, erinnerte Dark-in-the-night. „Dafür muss man etwas tun.“
„Ja, aber das ist relativ leicht“, warf Lyndis ein. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen. „Wir kommentieren einfach ein Buch, das erzeugt immer Feenstaub!“
Jetzt waren die Blicke, die die Lösungssuchenden untereinander austauschten, schon wesentlich hoffnungsvoller.
„Das könnte funktionieren ...“ Felix‘ Zustimmung motivierte alle noch ein wenig mehr. „Aber was machen wir mit damit? Wir sollten zuerst herausfinden, wozu uns die Liste eigentlich verhelfen soll.“
Er hatte natürlich Recht.
Lyndis‘ erste konstruktive Idee hatte die glühende Entschlossenheit der Anwesenden weiter angefacht. Eine Lösung war möglich! Alle rückten noch näher an den Tisch heran, um die Liste besser einsehen zu können.
„Ein Trank kann es nicht sein“, stellte Dark-in-the-night fest. „Man kann Vulkangestein selbst pulverisiert keinem Getränk zumischen. Es würde dem, der es trinkt, innere Blutungen zufügen.“ Er leckte sich unbewusst über die Lippen.
„Ein Ritual vielleicht?“, schlug Maria vor.
Roy nickte langsam. „Ja ... dann sind das keine Rezeptzutaten, sondern Komponenten!“
„Gut möglich“, stimmte auch Viktoria zu. „Aber was für ein Ritual könnte das sein?“
„Jedes Ritual hat einen Zweck“, ließ sich Xenon Aridaes Stimme zum ersten Mal vernehmen. „Welche Folgen soll dieses Ritual haben?“
Alle Blicke ruhten auf dem Otter, der neben der Liste auf dem Tisch hockte. Dark-in-the-night war der Erste, der die Augenbrauen hob und anerkennend nickte. „Das ist genau die richtige Frage. Was genau müssen wir eigentlich tun, um die Pseudonyme zu retten?“
„Kinder waren es, die eine Lösung fanden“, rezitierte Viktoria mit gerunzelter Stirn. Dieser Punkt schien ihr ausgesprochen wichtig. „Das bedeutet doch, dass das Gegenmittel nichts Hochkompliziertes und Abstraktes sein kann. Es muss etwas Einfaches sein!“
„Vielleicht gehen wir die Sache falsch an.“ Lyndis sah in die Runde. „Wogegen muss es wirken? Vielleicht hilft uns diese Frage weiter. Was genau geschieht denn mit den Pseudonymen?“
„Sie wollen ihre Erschaffer töten“, antwortete Roy.
Lyndis zog die Stirn in Falten. „Aber warum sollte man den töten wollen, der einen erschuf?“
Maria öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen. Doch erst beim zweiten Anlauf formulierte sie ihre Gedanken laut: „Es ist, als würde man die Eltern töten. Das, was ich in den Augen meines Weihnachtspseudonyms gesehen habe, war Hass. Das wäre doch ein Motiv – Hass auf die Eltern.“
So schlüssig der Gedanke war, für die meisten war er schwer nachzuvollziehen.
„Warum könnte man seine Eltern hassen?“, stellte Felix die notwendige Frage. Dann murmelte er bestürzt: „Vielleicht glauben die Pseudonyme, wir würden sie nicht lieben?“
Maria sah ihn schockiert an. „Aber das stimmt nicht! Niemand würde ein Pseudonym, erschaffen, das er nicht mag!“
Viktoria nickte zustimmend. „Ich habe noch nie ein reines Rollenspielpseudonym erschaffen, und das sollte mein Weihnachtspseudonym werden. Aber ich liebe es deshalb genauso wie meine anderen.“
Dark-in-the-night warf ihr einen neugierigen Blick zu. „Du hast Pseudonyme?“
Viktoria errötete leicht. „Ja.“ Dann wechselte sie rasch das Thema. „Angenommen, wir haben Recht und die Pseudonyme glauben, wir lieben sie nicht – was könnten wir dann unternehmen? Im Buch hieß es, mit ‚Feenmagie und allem, was Masquera und der Tempel zu bieten haben‘, würde es klappen. Und dieser Liste.“
Wieder betrachteten sie alle die Aufzählung, die vor Felix ausgebreitet lag.
Viktoria sah unsicher auf. „Der Tempel bietet Platz. Und Masquera Masken, Essen und andere Dienstleistungen. Könnte das Gegenmittel ein ... Fest sein?“
Lyndis‘ Miene hellte sich auf. „Natürlich! Ein Fest für die Pseudonyme, bei dem wir ihnen zeigen, wie wichtig sie uns sind! Dass sie sich nicht alleine durchs Leben schlagen müssen, weil wir sie lieben und stets für sie da sind ... das könnte den Hass bekämpfen!“ Sie sah auf die Liste hinunter. „Feenstaub macht das Fest sicherlich schön. Schöne Erinnerungen zeigen, was wir mit ihnen teilen.“
Dark-in-the-night nickte. „Masken trug man früher zum Tanz. Jeder war dadurch gleich. Man würde keinen Unterschied zwischen Pseudonymen und Nichtpseudonymen bemerken.“
Roy sah Dark-in-the-night verwundert an. „Woher weißt du, dass man das früher so gemacht hat?“
Viktoria schmunzelte. Sie wusste, dass Dark-in-the-night ein Vampir war. Wenn der sagte, dass das früher so war, glaubte sie ihm jedes Wort.
„Wegen des Maskenrauchs könnte man Magier fragen“, schlug Maria vor.
Roy nickte. „Darum kümmere ich mich.“
„Super!“, freute sich Viktoria. Langsam nahm die Unternehmung Fahrt auf! „Für die schönen Erinnerungen ist jeder selbst zuständig – jeder weiß doch, was ihn Schönes mit seinem Pseudonym verbindet, oder?“
Viele schmunzelten, einige nickten, und manch einer lachte sogar. Sie nahm das als Zustimmung.
„Was hat es mit diesem Vulkangestein auf sich?“, fragte sie dann.
Alle waren ratlos.
„Ich könnte das holen“, meldete sich Xenon. „Wenn ich es anfasse, zählt das nicht!“
Natürlich! Erleichtert sahen alle auf den Otter, der aufgeregt auf den Pfoten trippelnd auf dem Tisch stand.
„Es müsste aber jemand mitkommen“, sagte er kleinlaut. „Ich weiß gar nicht, wo man sich danach auf die Suche macht. Ich war noch nie bei einem Vulkan – in Lava schwimmen keine Lachse.“
„Ich begleite dich“, bot Dark-in-the-night sofort an. „Wenn wir schon ins Gebirge gehen, können wir auch gleich nach der Blume suchen.“
„Wofür brauchen wir die?“, fragte Xenon, und es sah sehr lustig aus, wie sich seine Stirn dabei in Falten legte.
Lyndis lächelte. „Es ist eine unglaublich empfindliche Blume. Sie zerfällt, wenn man nicht wirklich, wirklich vorsichtig ist – und das muss man den ganzen Rückweg über sein. Nur jemand, der dich wirklich liebt, nimmt die Herausforderung, sie für dich zu besorgen, an.“
Der Otter nickte, dankbar für die Erklärung.
„Dann fehlen noch Masken und Tränen“, stellte Lyndis fest und bot sofort an: „Ich hole die Masken.“
„Und ich die Tränen“, erklärte Viktoria. Sie wusste genau, wie sie das anstellen würde.
Maria und Felix sahen einander an. „Der Feenstaub fehlt noch“, sagte Maria.
„Ja, aber die Feen können wir jederzeit dazuholen“, erwiderte Felix. „Lass uns lieber erst den anderen helfen.“
„Organisiert doch das Fest“, schlug Viktoria vor. „Wir brauchen Räumlichkeiten, Musik, Essen und Trinken ... da ist furchtbar viel zu tun.“
„Alles klar“, stimmte Felix lachend zu. „Wir sind das Festkommitee, Maria!“
Die stand motiviert auf und sah in die Runde. „Gut – dann fangen wir gleich an!“
Auch Roy verabschiedete sich, und Lyndis suchte einen Karren, auf dem sie möglichst viele Masken transportieren könnte.
Nur Viktoria, Dark-in-the-night und Xenon waren noch im Raum.
„Bleibst du hier?“, fragte Dark-in-the-night Viktoria.
„Was ich vorhabe, muss ich hier im Tempel erledigen.“
Dark-in-the-night nickte, dann streckte er seinen Arm in Richtung des Tisches aus, auf dem der Otter noch saß. „Komm, Kleiner!“
Der plusterte sich empört auf. „Ich bin nicht klein!“
Viktoria fürchtete ein wenig um sein Gleichgewicht, als er so auf den Zehen balancierte.
Dark-in-the-night verdrehte die Augen und grinste. „Nun gut. Komm, Xenon – ich trage dich.“
Wieder tippelte Xenon verlegen von einer Pfote auf die andere. „Ich habe viel Fisch gefressen in letzter Zeit. Ich bin ein bisschen schwer.“
Dark-in-the-night ließ eins seiner seltenen Lachen erklingen. „Oh, keine Sorge. Ich bin stärker als ein Mensch, ich schaffe das. Und ich bin schneller – zusammen machen wir die Sache mit Links! Alles, was wir noch brauchen, ist ein Korb für die Blumen.“
Der Otter machte große Augen, fragte aber nicht nach, was Dark-in-the-night meinte, wenn er sagte, er sei kein Mensch. Er war auch keiner. Das war in Ordnung.
Er kletterte den Arm hinauf und rollte sich wie ein Schal um die Schultern des Vampirs.
„Viel Erfolg“, wünschte Viktoria. Dann waren die beiden zur Tür hinaus.
Als sie allein war, schloss Viktoria die Augen. Wenn es wirklich Liebe und Wertschätzung waren, die die Pseudonyme vor der Wirkung des Gifts bewahrte, dann wusste sie, wer ihr helfen konnte.
Es hatte ihren stummen Ruf gehört. Schon nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür und schenkte ihr ein Lächeln. „Hey! Was ist los?“
Ein einziger Blick in die Augen ihres Pseudonyms überzeugte Viktoria, dass es nicht vergiftet war. Eine Angst, derer sie sich gar nicht bewusst gewesen war, verließ sie abrupt, und sie umarmte es mit einem erleichterten Seufzen. „Danke, dass du gekommen bist!“
In Momenten wie diesen wünschte sie, es würde sich endlich einen Namen aussuchen, sodass sie es direkt ansprechen könnte. Aber es tat sich schwer damit. Es gab nur wenige, die zu einem Wesen passten, das sich selbst als agender identifizierte.
„Du weißt doch, dass wir einander nicht im Stich lassen. Niemals.“ Es sah ihr besorgt in die Augen. „Was ist los?“
„Wir müssen Belletristica retten. Schon wieder. Nur sind die Winterdämonen diesmal viel subtiler vorgegangen.“ Kurz fasste sie die Geschehnisse und den Plan zusammen.
Das Pseudonym lauschte aufmerksam. Die Konzentration auf seinem Gesicht ließ Viktoria innerlich lächeln. Sie kannte jede Regung, jedes Gefühl, ja jeden Gedanken dieses Wesens. Es war nicht einfach eine Rolle oder eine Figur – dieses Pseudonym war sie, ein ausgekoppelter Teil ihres eigenen Wesens. Und wenn es eines wusste, dann, dass sie es liebte – denn es war ein Teil dessen, was sie tief im Innersten ausmachte.
Es nickte. „Wie gehen wir also vor? Welche Position hast du für mich in dieser Gruppe vorgesehen?“
„Wir brauchen Tränen. Die eines vergifteten Pseudonyms und die eines Pseudonyms, das gesund ist. Da dachte ich an dich.“
Das Pseudonym grinste. „Ich soll für dich weinen?“
Sie lächelte. „Ja. Aber was meinst du – ist es egal, was für Tränen es sind? Ich glaube ja, Freudentränen würden am besten funktionieren.“
Es nickte ernst. „Stimmt. Das ist leicht. Wir haben viele schöne Erinnerungen, und in deiner Phantasie sogar noch mehr glückliche Momente erlebt als in der Realität.“ Es zögerte nur kurz, bevor es weitersprach. Es zögerte immer nur kurz – den Nachteil, zu lange über etwas nachzudenken, hatte sie ihm bei der Erschaffung nicht mitgegeben. „Was ist mit dem vergifteten Pseudonym?“
Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich wollte ein recht sinnloses Weihnachts-Rollenspiel-Pseudonym erschaffen. Es ist immer noch bei den anderen eingesperrt. Aber das kann ich nicht nehmen, ich kenne es noch nicht wirklich. Ich ... ich werde noch eins erschaffen müssen. Eines, das ich kenne.“
Mitfühlend legte es ihr eine Hand auf die Schulter. „Ihn? Ich dachte, du wolltest ihn nie zum Pseudonym machen.“ Es wusste genau, von wem sie sprach: ihrem Hauptrollenspielcharakter Talfan.
„Er hat im Moment allen Grund, mich wirklich zu hassen“, gestand sie kleinlaut. „Keine Freunde, keine Familie, zum Handeln gezwungen, mit gebrochenem Herzen und verlorenem Vertrauen in seine Götter ... bei ihm wirkt das Gift sicher sofort.“ Dann hob sie den Blick. „Aber ich kenne ihn – ich habe Hoffnung, dass ich ihm Tränen entlocken kann. Ich kann ihm endlich sagen, dass all das, was er gerade durchmacht, was ihn wünschen lässt, sein Leben würde endlich enden, besser wird. Du weißt, ich will ihn nicht verlieren!“ Sie schluckte. „Ich habe aber Angst, ihm alleine gegenüberzutreten. Er kann ganz schön gefährlich sein.“
„Alles klar. Lass uns gemeinsam loslegen – je früher, desto besser!“ Es ging zu einem Regal, in dem Materialien für alchemistische Studien aufbewahrt wurden, und entnahm ihm zwei leere Fläschchen mit Korken.
„Einsatzbereit“, meldete es.
Sie lächelte. „Zum Angriff vor!“
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Leise schoben sie die Tür zum Erschaffungsraum auf, in dem der Lebensfunkenaltar stand.
„Niemand zu sehen“, meldete das Pseudonym.
Leise schlichen sie hinein.
Aus einem Nebenraum waren Stimmen zu hören. Viktoria lief es eiskalt den Rücken hinunter, als sie wieder Worte von Vernichtung, Mord und Totschlag vernahm.
Mit zwei schnellen Schritten war das Pseudonym bei der angelehnten Tür des Nebenraums, drückte sie leise, aber kraftvoll ins Schloss und klemmte das Blatt seiner Axt darunter, um sie zu blockieren. Es lächelte grimmig. „Die sind da drin erst mal weggesperrt!“
Eine Reaktion blieb aus. Noch schienen die vergifteten Pseudonyme nichts bemerkt zu haben. Gut.
Viktoria trat an den Altar, sah in den großen daran angebrachten Spiegel, der ihre Gestalt zeigte. Dann konzentrierte sie sich auf Talfan. Sein Aussehen, seinen Charakter, seine Fähigkeiten und Erfahrungen, Gefühle und Ängste. Und sie gab ihm das Wissen, was Belletristica und Pseudonyme waren.
Sie kannte ihn so gut, dass er schon nach wenigen Sekunden neben ihrem Spiegelbild erschien.
Sobald sie ihm aus dem Spiegel half, nahmen seine Augen den unheilverkündenden Farbton an. Sein kalter Blick ließ sie unwillkürlich einen Schritt zurücktreten.
„Wer seid Ihr?“, fragte er. Seine Stimme klang völlig fremd.
„Das ist Viktoria.“ Das Pseudonym trat zwischen Talfan und sie. „Sie hat uns erschaffen.“
Talfans Gesicht zeigte keine Regung. Er besaß ein außerordentliches Maß an Selbstbeherrschung und Kontrolle, das wusste Viktoria. Dem Frieden war nicht zu trauen.
„Ihr habt mein Schicksal geschrieben?“
Viktoria wurde beinahe schlecht vor Angst. Aber sie musste ehrlich sein. „Ja“, flüsterte sie heiser.
Sofort verzerrte Zorn Talfans Züge. „Diese Kindheit? Dieses Ende meiner Lehrzeit? Ihr! Ihr habt ihn mir weggenommen?“ Am Ende brüllte er fast, und Viktoria war heilfroh, dass das andere Pseudonym zwischen ihnen stand.
„Fast all das, ja. Du bist nicht nur eine Figur, sondern ein Rollenspielcharakter. Ich muss mich dem Spiel anpassen und kann nicht alles allein entscheiden.“
Nur mit Mühe hielt das Pseudonym Talfan zurück, der mit geballten Fäusten auf Viktoria zustürmte. „Was, bei Phex, habe ich Euch denn getan? Warum hasst Ihr mich so sehr? Wollt Ihr spüren, wie sich das anfühlt?“
Doch statt weiter zurückzuweichen, trat sie ganz nah an ihn heran. „Talfan, ich weiß, wie sich das anfühlt. Jede einzelne deiner Emotionen fühle ich mit! Deinen Liebeskummer konnte ich nicht verhindern, glaub mir! Ich habe alles versucht, und ich habe bei keiner Geschichte so sehr geweint wie bei deiner! Ich hasse dich nicht! Ganz im Gegenteil.“
Er riss sich vom anderen Pseudonym los und schlug mit der Faust nach Viktorias Gesicht. Doch damit hatte sie gerechnet, lenkte den Schlag mit einer Hand ab und ging in Abwehrhaltung.
„Vergiss es“, sagte sie möglichst kontrolliert. „Deine Kampffähigkeiten sind meine. Ich habe sie dir gegeben – ich beherrsche das alles auch!“ Dass er stärker, fitter und größer war als sie, würde ihm hoffentlich im Eifer des Gefechts nicht auffallen.
Sein wütender Blick und die angespannte Körperhaltung machten ihr Angst, doch sie zeigte es nicht, sprach weiter, versuchte, ihn zu besänftigen.
„Ich tue, was ich kann, um dich zu retten, Talfan. Ich wollte nie, dass es dir so schlimm ergeht wie jetzt. Ich bin immer bei dir!“
„Lügen!“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Was habt Ihr je für mich getan?“
„Ich habe dich im Tempel in Thorwal aufgefangen, als du in die Verzweiflung gestürzt bist“, erwiderte sie leise. „Erinnerst du dich? Ich habe dich mit all der Liebe, die ich für dich empfinde, umfangen und getröstet. Ich habe dich in Kuslik neue Liturgien gelehrt, damit du mit jemandem reden kannst. Ich habe dir Lutisana gegeben, die auf dich aufpasst.“
Mit jedem Wort, das sie sprach, wurde sein Gesichtsausdruck fassungsloser. Am Ende sank er kraftlos auf die Knie. „Ihr seid ... Phex? Aber ... Phex ist ein männlicher Gott ...“
Sie kniete sich vor ihn. Gerne hätte sie ihn umarmt, aber sie wusste, dass er Berührungen fürchtete.
Leise erwiderte sie: „Phex ist auch der Gott der List, Mondschatten.“
Dass sie seinen geheimen Titel verwendete, überzeugte ihn vollständig.
„Bitte glaub mir – ich weiß, wie sehr du leidest. Bald, sehr bald wird die Prophezeiung aber erfüllt sein – und dann bist du frei. Dann gibt es keine äußeren Umstände mehr. Und versuch, mir zu vertrauen, wenn ich dir sage, dass dich noch wundervolle Dinge in deiner Zukunft erwarten. Ich weiß es. Ich kenne deine geheimsten Wünsche, die du niemals jemandem verraten, vielleicht nicht einmal für dich selbst formuliert hast. Aber ich weiß Bescheid. Ich werde dir viele Optionen geben, um sie zu verwirklichen. Ich kann nichts versprechen. Aber du bist mir unfassbar wichtig.“
Und dann tat sie es doch. Ganz sanft berührte sie mit ihren Lippen seine Wange, gab ihm einen Kuss, um ihre Worte noch zu unterstreichen.
Ganz, wie sie vermutet hatte, war das zu viel für ihn. Er war zum aktuellen Rollenspielzeitpunkt knapp davor, unrettbar zu zerbrechen. Er erlebte völlige Hilflosigkeit, etwas ihm bis dato Unbekanntes, und dass es trotz alledem vielleicht doch noch Hoffnung für ihn gab, traf ihn bis ins Mark. Er krümmte sich, als habe sie ihn physisch getroffen, schlang die Arme um den Oberkörper und schluchzte. Viktoria wusste, dass er fast nie weinte – sie hatte sich schon immer gewünscht, er würde seinen Gefühlen endlich einmal freien Lauf lassen. Sie spürte die Erleichterung, die ihm dieses Weinen schenkte, und zog ihn sanft in ihre Arme, damit er fühlte, dass er nicht alleine war. Niemals alleine war. Egal, wie es aussah.
Als die Tränen nach einer gefühlten Ewigkeit versiegten, küsste sie ihn auf die Stirn und gab ihn frei.
„Möchtest du Pseudonym bleiben? Bewusst hier in Belletristica leben?“
Er lächelte schwach. Seine Augen waren zwar immer noch blau, doch die Intensität der Farbe hatte merklich abgenommen. Viktoria konnte es kaum fassen – die Theorie war korrekt!
„Nein“, antwortete er. „Mein vermaledeites almadanisches Blut würde sicher irgendwann zu einem Unglück führen.“ Er meinte den Jähzorn, der ihn oft überfiel. Viktoria war überzeugt, dass der nachlassen würde, sobald er sich von jemandem geliebt fühlte. Es war eins ihrer Hauptziele für ihn.
„Du wirst nichts mehr hiervon wissen, wenn ich dich lösche“, gab sie zu bedenken.
„Das ist schon in Ordnung. Ich vertraue auf meinen Gott.“ Und endlich sah sie, was sie seit langer Zeit so vermisste: sein unerschütterliches Lächeln. Sein Glaube war das Einzige, das ihn im Moment noch trug. Und sie würde sein Gottvertrauen nicht enttäuschen!
„Komm.“
Vor dem Spiegel strich sie ihm noch einmal liebevoll über die Wange.
„Auch, wenn du es wieder vergessen wirst – ich liebe dich. Und ich tue alles, um auf dich aufzupassen. Du bist nie allein.“
Sie konnte in seinen Augen sehen, dass er ihr glaubte, als er rückwärts wieder in den Spiegel trat. Nur kurz war sein Bild noch zu sehen, dann verblasste er.
Diesmal war sie es, die weinte.
Die Hand des Pseudonyms auf ihrer Schulter riss sie in die Wirklichkeit zurück. Es hielt ihr die beiden verkorkten Fläschchen entgegen und lächelte.
Erschrocken legte sie beide Hände vor den Mund. „Oh Gott, die Tränen! Die habe ich ganz vergessen!“
„Ich nicht“, erwiderte das Pseudonym grinsend. „Hier, das sind seine Tränen. Und das hier sind meine. Die Szene war wirklich rührend ...“
Dankbar nahm sie die beiden Gefäße entgegen. Es wunderte sie nicht, dass das Pseudonym geweint hatte. Hoffnung war etwas, das es immer tief bewegte.
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„Da bist du ja endlich!“
Erstaunt sah Viktoria in besorgte Gesichter, als sie den Besprechungsraum wieder betrat.
„Ihr seid schon alle zurück?“
„Du warst fast vierundzwanzig Stunden fort!“, erklärte Lyndis. „Wir dachten schon, die vergifteten Pseudonyme hätten dich erwischt!“
Verwirrt schüttelte Viktoria den Kopf und betrat das Zimmer. Wie war das möglich?
„Wer ist das denn?“ Marias sah neugierig über Viktorias Schulter.
Verdammt. Viktoria hatte nie vorgehabt, irgendjemandem die Identität eines ihrer Pseudonyme zu verraten. „Äh ... das ist ... bitte sagt es nicht weiter. Das ist eins meiner Pseudonyme.“
Es folgte ihr in den Raum. Als es den Helm abnahm, sah man, dass auch seine Wangen gerötet waren.
„Willkommen“, sagte Roy einfach. „Wie ist dein Name?“
Grinsend stieß Viktoria dem Pseudonym einen Ellbogen in die Seite. „Ich hab dir gesagt, irgendwann brauchst du einen!“, raunte sie für alle gut hörbar.
„Ich hab keinen“, antwortete es.
Der Otter sah Viktoria vorwurfsvoll an. „Warum gibst du ihm keinen? Er hat genauso einen verdient wie alle anderen!“
Lyndis strahlte das Pseudonym an. „Wie dürfen wir dich ansprechen? Und welche Pronomen bevorzugst du?“
„‚Es‘ ist gut“, antwortete das Pseudonym glücklich. „Und ... einfach Pseudonym.“
Roy lachte. „Dann kommen wir hier echt durcheinander – wäre ‚Nym‘ für dich ok?“
Nym verzog ein wenig das Gesicht. „Na schön. Für eine Weile.“
Alle berichteten einander von ihren Abenteuern. Dark-in-the-night und Xenon hatten sowohl Vulkangestein als auch einen halben Korb Blumen mitgebracht.
„Die Suche nach den Steinen war schwieriger als erwartet. Wir mussten ganz schön nah an die Lava ran, um Steine zu finden, die ganz sicher noch nie berührt worden waren. Und dann haben wir sie mit einem anderen Stein fortgerollt, bis sie so weit abgekühlt waren, dass Xenon den halben Korb damit befüllen konnte“, berichtete Dark-in-the-night.
„Und dann haben wir Blumen gesammelt“, ergänzte Xenon. „Ganz vorsichtig. Ich hab sie sorgfältig verstaut, und Dark hat alles getragen.“
„Ein tolles Team“, lobte Felix. „Dank euch ist das erledigt! Maria und ich haben das Fest organisiert. Feiern können wir hier im Tempel, das haben wir alles geklärt und auch schon möglichst viele Bewohner und Pseudonyme eingeladen.“
Maria fuhr fort: „Wir dachten, wenn wir das Fest beginnen, öffnen wir während der Ansprache die Türen zum Tempelinneren. Dann können die vergifteten Pseudonyme zuhören – und hoffentlich sind sie dann neugierig genug, um sich das Ganze wenigstens anzuschauen.“
„Ich habe für alle Masken besorgt“, sagte dann Lyndis. „Ich fand Darks Idee mit dem Tanz mit Masken toll! Was ist denn jetzt mit dem Rauch, Roy?“
Der lächelte. „Ich hab da ein bisschen was vorbereitet“, erklärte er.
„Wolltest du nicht Magier befragen?“, erkundigte Viktoria sich erstaunt.
„Na ja ... ich bin Magier“, gestand Roy und fuhr sich mit der Hand verlegen durch die Haare. „Ich hab also überlegt, was Maskenrauch sein könnte. Stellt euch vor – die Masken aus Masquera sind von Illusionsmagie durchwoben. Sie zerfasern zu Rauch, wenn man die Verkleidung ablegen und sich dem Gegenüber offenbaren will. Ich musste eigentlich gar nichts machen.“
„Nur das Ganze herausfinden und verstehen“, feixte Felix. „Super!“
„Dann fehlt nur noch der Feenstaub“, stellte Dark-in-the-night fest. „Woher kriegen wir den?“
„Da hab ich eine Lösung! Ich habe mit Belle gesprochen – die Feen kommen auch zum Fest“, verkündete Felix strahlend.
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Nym zog leise die Axt unter dem blockierten Türblatt hervor, legte die Masken für die vergifteten Pseudonyme vor die Tür und öffnete sie leise einen Spalt weit, bevor es sich zu den anderen zurückzog.
Kaum war es im Tempelinnenhof eingetroffen, erhob Belle ihre feenmagisch verstärkte Stimme.
„Bewohner Belletristicas! Wir sind heute hier, um unsere Pseudonyme zu feiern. Doch wer sind eigentlich die Pseudonyme? Ihr seid alle hinter Masken verborgen. Das zeigt uns, wie wichtig die Frage eigentlich ist: überhaupt nicht! Jeder ist hier willkommen, egal ob Pseudonym oder nicht. Pseudonyme sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Welt – erst ihr ermöglicht es uns, uns auszuprobieren, verschiedene Facetten unserer Persönlichkeit ins Licht treten zu lassen. Manche von euch sind nicht als Pseudonyme gekennzeichnet, andere schon, manche sind völlig eigenständig, andere dienen als Rollen. Doch was auch immer ihr seid – auch ihr seid alle Bewohner Belletristicas. Wir lieben euch, und darum feiern wir euch heute – alle, auch die, die wir gar nicht als Pseudonym erkennen. Wir Feen wünschen euch Bewohnern viel Spaß und Freude beim Fest. Genießt für einige Stunden das Glück, hierhergefunden zu haben und diese tolle Gemeinschaft genießen zu können!“
Unter bewundernden Ohs und Ahs aus dem Publikum ließ sie Feenstaub über dem Tempelgelände herabregnen – der Anblick war schöner als jedes Feuerwerk!
Während der Rede waren einige maskierte Gestalten vorsichtig aus dem Tempel geschlichen, um das Treiben neugierig zu beobachten. Auch sie trugen Masken – die, die Nym zurückgelassen hatte.
Als Felix und Maria, die unmaskierten Veranstalter des Fests, herumgingen und jedem Anwesenden aus einem Korb eine Blume und ein Stückchen Stein anboten, waren insbesondere diese Gestalten sehr verwirrt. Doch auch die übrigen Bewohner wussten nicht so recht, was sie damit anfangen sollten.
Da setzte die Musik aus und Felix trat auf die Bühne. „Die Geschenke, die ihr erhaltet, haben wir für euch gesammelt. Sowohl die Beschaffung des ausgesprochen seltenen Vulkangesteins, das vor euch noch niemals ein Mensch in der Hand hatte, als auch der Blume, die so empfindlich ist, dass sie leicht zerfällt, waren unglaubliche Herausforderungen. Doch für euch alle haben wir sie gern angenommen – ihr seid großartige Bewohner Belletristicas. Ihr alle.“ Applaus brandete auf. „Lasst uns insbesondere denen danken, die sich für uns auf die beschwerliche Suche gemacht haben: Dark-in-the-night und Xenon Aridae!“ Der Beifall wurde noch lauter, doch sowohl der Vampir als auch der Otter mieden die Bühne.
Wieder erklang Musik und lockte viele auf die Tanzfläche. Selbst einige, die sich das eigentlich nicht zutrauten, mischten sich unter dem Schutz der Anonymität unter die Tanzenden.
Doch irgendetwas fehlte. Das Fest war schön, aber die wenigen vergifteten Pseudonyme, die Viktoria erkannte, hatten immer noch blaue Augen. Es war wie bei Talfan – die Intensität hatte abgenommen, aber die Farbe war noch da.
„Was machen wir jetzt mit den Tränen?“, raunte sie Nym zu, das gerade mit ihr etwas Walzerähnliches tanzte. Sie konnten es beide nicht richtig.
„Keine Ahnung. Habt ihr wirklich alle Zutaten gesammelt?“
Viktoria erstarrte. „Die Erinnerung“, stammelte sie. „Wir haben die schöne Erinnerung zum Zeitpunkt der Veränderung vergessen! Was machen wir jetzt?“
Ein unternehmungslustiges Funkeln zeigte sich in Nyms Augen. „Lass mich mal machen!“
Viktoria sah neugierig zu, wie es zur Bühne eilte.
Wieder pausierte die Musik. Nym trat vor.
„Bewohner Belletristicas! Ich bin ein Pseudonym. Und ich möchte euch für dieses Fest und eure Wertschätzung danken. Lasst mich eine schöne Erinnerung mit euch teilen!“ In dem Augenblick, in dem es die Verkleidung aufgab, offenbarte, was und wer es war, verflüchtigte sich seine Maske und entschwand in rotem Rauch.
Alle gingen ein wenig näher zur Bühne, um Nym zu lauschen. Insbesondere die blauäugigen Pseudonyme waren sehr interessiert.
„Eigentlich wurde ich erschaffen, um Geschichten aus dem wahren Leben zu schreiben. Aus einem ganz bestimmten Bereich des Lebens einer Person. Diese Geschichten kann sie nicht selbst mit euch teilen – sie würde die anderen Akteure, Teile ihrer durch Schweiß, Leidenschaft, Hingabe und Opferbereitschaft geformten Familie, deren Taten und auch Fehler der Vergangenheit, damit vielleicht identifizierbar machen. Anonymität ist aber wichtig – also schreibe ich für euch.
Vor Kurzem habe ich das erste Mal viel Feedback von euch bekommen. Ihr habt mir gedankt für den Einblick in unser Leben, für die Einsatzbereitschaft, die wir jederzeit für euch an den Tag legen, die Risiken, die wir für euch minimieren und gegebenenfalls selbst eingehen, die Hoffnung, die unser Eintreffen in Stunden größter Not euch bereitet. Ihr wisst nicht, dass ihr damit auch der mich erschaffenden Person unglaubliche Freude bereitet habt. Die Freiheit, über diese Dinge zu sprechen, hat sie nur hier – unter euch. Pseudonymisiert. Danke!“
Lauter Jubel und Beifall ertönten, und Nym wurde vor Freude ganz rot. Und wie immer, wenn es großes Glück verspürte, befeuchteten Tränen seine Wangen.
Viktoria staunte. Das war nicht nur eine schöne Erinnerung, das waren auch die Tränen! Nyms Lösung war perfekt!
Da trat ein anderes Pseudonym auf die Bühne, in einem außerordentlich gewagten Kleid, das die perfekte Figur umschmeichelte. Ihre Maske blieb.
„Danke. Auch ich möchte mich anschließen. Ihr wisst nicht, dass ich ein Pseudonym bin. Und das ist für mich ganz wunderbar, weil ich ganz anders sein kann als in der Realität. Auch meine schöne Erinnerung sind eure Kommentare unter meinen Geschichten.
Ihr anderen Pseudonyme – kommt, erzählt uns von euch! Was sind eure schönen Erinnerungen? Welchen Neuanfang hat man euch zu verdanken? Was bewegt euch tief in euren Herzen?“
Und dann geschah es. Eins der Pseudonyme mit den blauen Augen trat sehr zögernd auf die Bühne.
„Als ich erschaffen wurde, habe ich euch gehasst.“ Die Menge verstummte. „Alle. Ihr wart ... echt. Ich war nur eine Kopie. Das wusste ich. Aber ... wenn die beiden hier Recht haben, bin ich ein Aspekt, das Teil eines Originals – und ich habe auch Kontrolle über mein Dasein. Ich bin auch etwas Besonderes ...!“
Violetter Maskenrauch umhüllte mit einem Mal den Kopf des Sprechers, offenbarte dann das tränenüberströmte Gesicht eines jungen Mannes mit Weihnachtsmütze – und grünen Augen. Unter tosendem Jubel stürzte sein Erschaffer auf die Bühne und zog ihn glücklich in die Arme.