Friedlich sah er aus. Die Schatten unter den Augen waren weggeschminkt, der Bartschatten war abrasiert und die Haut seines Gesichts wirkte rosig, edel. Nichts erinnerte mehr an die aschfahle Blässe, die noch Stunden zuvor über seiner Haut gelegen hatte. Das Haar war grau, doch ordentlich gekämmt wirkte es adrett und sogar voller als zuvor. Die Hände hatte er andächtig über seiner Brust gefaltet, die Fingernägel waren hübsch manikürt – sie wirkten ein bisschen länger als zuvor, genau wie die Wimpern und die Augenbrauen des Mannes. Aber das war ganz normal. Nichts weiter als der natürliche Lauf der Dinge. In seinem besten Anzug, mit einer weißen Rose im Knopfloch, die Füße in feinen Lederschuhen, wirkte er, als wollte er heute Abend noch ausgehen. Vielleicht seine Liebste zum Tanz führen.
Er hatte sich herausgeputzt.
Friedlich sah er aus. Fast als schliefe er nur.
»Hübsch bist du geworden«, stellte Werner fest und legte Kamm und Schere beiseite. »So kann ich dich präsentieren.«
Der Mann, der selbst wenig jünger war als der Alte vor ihm, wusch sich die Hände, reinigte dann penibel seine Utensilien und verstaute sie an ihren angestammten Plätzen.
»Noch ist ja ein wenig Zeit. Was mache ich jetzt, hm?«, fragte Werner in die Stille des Raumes.
Sein Blick fiel auf einen Haufen unausgefüllter Formulare.
»Auf den Papierkram hab ich heute keine Lust mehr, darum kann ich mich auch immer noch morgen Früh kümmern. Aber für den Feierabend ist es noch zu zeitig.«
Er seufzte und zupfte eines der Blumenbouquets zurecht, das er während der Prozedur an die Wand gestellt hatte. Eine der weißen Rosen ließ den Kopf hängen und schien Mühe zu haben, ihre Blütenblätter festzuhalten. Zum Glück war es nicht die große in der Mitte.
»Bestatter ist so ein einsamer Beruf. Wenn du nicht gestorben wärst, könntest du mir wenigstens ein paar Geschichten aus deinem Leben erzählen.«
»Aber das kann ich doch.«
Werner fuhr herum.
Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, saß eine durchscheinende Version des Alten auf der Kante des Sarges und lächelte in Werners ungefähre Richtung. Die Augen des Geistes waren geschlossen.
»Kannst du die Augen nicht öffnen?«, fragte Werner, anstatt einen spitzen Schrei auszustoßen und das Weite zu suchen (oder sich wenigstens zu vergewissern, dass er nicht verrückt war, indem er sich selbst in den Arm kniff).
»Nein, du hast mir doch die Augenkappen eingesetzt.«
»Ja, weil deine Augen nicht so recht zu bleiben wollten. Und die beeinträchtigen dich sogar als Geist?«
»Tja, offensichtlich.«
Eine Pause entstand, die Werner nutzte, um das durchscheinende Abbild des Alten genauer zu betrachten.
»Bilde ich mir das nur ein?«
Der Geist machte eine Geste, als würde er an sich heruntersehen, auch wenn das nichts brachte. Dann strich er mit der Geisterhand über die Hände der Leiche, die immer noch reglos in ihrem Satin-Bett lag.
»Ich glaube nicht. Ansonsten würden wir wohl beide halluzinieren.«
»Wie kommt's, dass du als Geist hier vor mir hockst? Du bist wahrlich nicht die erste Leiche, die ich präpariere. Und bisher habe ich mich nie mit einer unterhalten. Nun ja«, fügte er an, »zumindest haben sie bisher nicht geantwortet.«
»Wenn ich das nur wüsste.« Der Geist wandte sich wieder an Werner. »Aber du wolltest doch Geschichten aus meinem Leben hören?«
»Hast du denn welche zu erzählen?«
»Nun«, begann der Geist und rieb sich das Kinn. »Ich könnte dir von meiner Barbara erzählen. Das schönste Mädchen von allen auf dem Dorffest und mir nur kurze Zeit später die liebste Frau der Welt.«
Auf seinem Gesicht erschien ein versonnenes Lächeln und er wirkte um Jahre jünger.
»Oder vom Krieg, als ich auf einem U-Boot im Ärmelkanal stationiert war und fürchten musste, meine Barbara nie wiederzusehen.«
Er dachte eine Weile nach.
»Oder von der Reise in unserem klapprigen VW Käfer von Lüneburg bis nach Athen, weil wir unbedingt nach Griechenland wollten, aber uns keinen Flug leisten konnten.«
Werner schmunzelte.
»Warte kurz.«
Damit verschwand er im Nebenraum, um sich einen Kaffee zu holen. Schon wenig später kehrte er zurück, schob ein paar Blätter auf der Ablage zur Seite, von denen er wusste, dass einer der oberen von einer Karola Barbara Münch unterschrieben war. Werner platzierte seine Kaffeetasse auf der freigeräumten Stelle und ließ sich auf dem alten Holzschemel neben dem Sarg nieder.
Der Geist hatte sich nicht bewegt und saß immer noch oberhalb seines schlummernden Alter Ego auf der Kante des teuren Erdmöbels. Wartend. Als hätte er alle Zeit der Welt. Wer wusste das schon, vielleicht hatte er die tatsächlich, selbst wenn sein Körper morgen in aller Frühe der Erde übergeben wurde. Vielleicht war es dann aber auch Zeit für ihn zu gehen. Das würden sie beide wohl erst am nächsten Morgen erfahren.
»Barbara. Erzähl mir doch einfach von ihr«, bat Werner.
»Oh, Barbara«, seufzte der Geist. »Ich hab sie damals getroffen, 1941, auf dem Fest am alten Schafstall in Südgellersen, kurz bevor ich eingezogen wurde. Ich hatte meinen besten Anzug an, hatte mir sogar auf dem Weg zum Fest eine Rose gepflückt und ins Knopfloch gesteckt, weil ich mit meinen kühnen sechzehn Jahren die Mädchen beeindrucken wollte. Und als ich endlich den Platz betrat, die Hände schweißnass und mit flirrendem Blick, da war ich es, der ganz beeindruckt war …«
29.01.2020