Du bist Brenna Sundergeer.
Du wirfst einen schuldbewussten Blick auf Aji, der schniefend die Nase hochzieht.
„Lass uns hier draußen übernachten“, entscheidest du dann. Alles in allem erscheint dir das sicherer, als sich überhastet und unvorsichtig in den Dunkelelfenwald zu schlagen.
Allyster akzeptiert deine Entscheidung mit einem Neigen des Kopfes, ohne ein Wort zu sagen. Du lenkst dein Pferd zu einer Stelle, wo die Erde halbwegs trocken aussieht, schwingst ein Bein über den Pferdehals und lässt dich aus dem Sattel rutschen.
Stöhnend streckst du die Beine durch und massierst deine Waden. Allyster hebt Aji aus dem Sattel und überreicht ihn deinen wartend ausgestreckten Armen. Du setzt das Kind auf dem Boden ab und ignorierst die Schuldgefühle, die aufkommen wollen. Wehmütig stellst du dir vor, dass du auch im Wald sitzen könntest, vom Gebüsch so gut geschützt, dass ihr ein Feuer wagen könntet – ein Feuer, warmes Essen!
Der Wind fährt schneidend kalt unter deinen Reisemantel, die Haare auf deinen Armen richten sich auf.
„Ich kümmere mich um die Pferde“, bietet Allyster an. Ohne auf eine Antwort deinerseits zu warten, führt er die Tiere zum nächsten Wasserloch. Du beginnst, euren Lagerplatz von Ästen zu reinigen, damit eine ebene Fläche entsteht. Darauf breitet ihr eure Decken, Mäntel und Schlafsäcke aus. Allyster gibt den Pferden Hafer, du sattelst die Tinkerstute ab und nimmst auch dem Maultier die schweren Taschen mit euren Vorräten ab. Aji hilft Allyster dabei, den Schimmel abzusatteln. Ihr striegelt die Pferde trocken, dann setzt ihr euch schweigend in den Windschutz eurer aufgetürmten Taschen und Sättel. Wortlos reichst du Brot und Trockenfleisch herum. Aji bekommt einen Wasserschlauch dazu, Allyster und du jeweils einen Weinschlauch. Der Alkohol bringt wieder Wärme in deinen Magen und macht deine Augenlider schwer wie Blei.
Gerade bist du dabei, schläfrig zu werden, als das Maultier anfängt, an dem Strick zu zerren, den Allyster um einen gesplitterten Baumstamm gebunden hat.
Du zwingst dich, wieder wach zu werden. Auch die anderen Pferde werden nervös. Alarmiert steht Allyster auf und bedeutet dir, leise zu sein – als ob du einen anderen Plan hättest! Leise greifst du nach deinen Säbeln und ziehst sie aus ihren Scheiden.
Ihr duckt euch hinter hohes Schilf. Du spähst angestrengt zwischen den dunklen Halmen hindurch. Dort, am Waldrand, bewegt sich etwas: Flinke, schnelle Schatten. Die Formen erinnern an Reiter, doch falls es welche sind, so haben sie ungewöhnlich schlanke, langgezogene Reittiere – die Beine sind im Vergleich zum Körper viel kürzer als bei Pferden, die Köpfe gedrungener, die Hälse kürzer und niedriger.
Noch während du zu erraten versuchst, um was für Tiere es sich handeln kann, merkst du, dass die Reiter direkt auf euer Lager zuhalten.
„Verdammt!“, zischt Allyster. Er hat es ebenfalls bemerkt.
„Los, weg hier!“, ist alles, was dir einfällt. Die Reiter auf ihren seltsamen Tieren erwecken in dir eine unbestimmte, namenlose Furcht. Dein Herz rast.
„Lauft!“, befiehlt auch Allyster, als kein Zweifel besteht, dass die Reiter euch gleich entdecken werden oder sogar bereits wissen, wo ihr euch versteckt.
Wie die Rebhühner springt ihr auf und lauft los. Du setzt über einen Teich hinweg und rennst durch das schlammige Sumpfland. Hinter dir erklingt ein hoher, unmenschlicher Schrei. Falls es sich um einen Ruf in einer Sprache handelt, so kennst du sie nicht. Schon hörst du ein weiches Trommeln von Pfoten auf der Erde. Du wirfst einen Blick über die Schulter und das Herz bleibt dir vor Schreck stehen: Die Reiter sitzen auf Wölfen! Pechschwarzen, zottigen, riesigen Wölfen, deren Augen gelb glitzern.
Du stolperst und streckst automatisch die Hände aus, um dich abzufangen. Deine Finger treffen nur auf kaltes Wasser, aber mit der Stirn prallst du direkt auf einen hellen, grauen Stein.
Deine Welt explodiert in unzählige Farben, dann ist alles dunkel.
°°°
Als du wieder zu dir kommst, ist es Morgen.
Zuerst nimmst du die Kälte wahr. Deine Wange ruht auf dem Stein, der dich bewusstlos geschlagen hat, der Rest deines Körpers ruht im Wasser. Du setzt dich langsam auf und stellst fest, dass du bis auf die Knochen durchnässt bist. An deiner Stirn pocht ein hartnäckiger Schmerz. Du tastest vorsichtig und senkst dann deine Finger. Sie sind nicht rot, das Blut ist bereits zu einer Kruste erstarrt, die auch ein verästeltes Muster auf den Stein malt.
Dann siehst du dich um. Dichter Nebel hält sich über dem Sumpf, durchbrochen von hellen Sonnenstrahlen. Von Allyster, Aji oder den Pferden ist keine Spur zu sehen.
Langsam stehst du auf, fast sofort wird dir schwindelig. Du stützt die Hände auf die Knie, bis die Welt aufhört, sich zu drehen. Auf steifen Beinen wankst du zu dem Lagerplatz zurück.
Die Pferde sind fort. Die Taschen sind fort. Eure Mäntel und Schlafsäcke sind ebenfalls fort. Die Erde ist aufgewühlt, aber es ist keine Spur geblieben. Alles, was du findest, als du die nähere Umgebung absuchst, sind deine Säbel. Du musst sie fallen gelassen haben, denn sie lagen neben dir in der Pfütze. Eilig trocknest du die Klingen so gut wie möglich mit dem feuchten Hemd. Diese Säbel sind alles, was dir von deinem Vater geblieben ist! Doch der Stahl schimmert unverändert und auch die Rubine in den Griffen haben nicht gelitten. Du bist erleichtert, allerdings nicht sehr.
Wo sind Allyster und Aji? Sind sie gefangen, entkommen, getötet? Du rufst dir jede Kleinigkeit der Flucht ins Gedächtnis, an die du dich erinnern kannst. Auch das verschafft dir keine neuen Einsichten. Du siehst zu dem Tannenwald herüber, der sich finster dräuend am Horizont erhebt. Du hast eine Mission, das ist alles, was du mit Sicherheit weißt.
„Scheiße.“
°°°
Missmutig stapfst du durch den strömenden Regen. Das Wasser rinnt dir in den Kragen und durchnässt deine Kleidung. Das ärmellose Hemd klebt an deinem Körper. Würde sich ein Mann in deiner Gesellschaft befinden, hätte dieser seine helle Freude.
Du suchst das Moor nach Spuren von Allyster oder Aji ab, aber du findest nichts. Elred, das weißt du, hätte vermutlich noch Fußspuren gefunden oder aus abgebrochenen Zweiglein gelesen, wohin deine Gefährten verschwunden sind. Doch du hast nicht das Talent eines Elfen und Elred ist nicht hier. Ebensowenig dein Bruder. Du hoffst, dass Arthrax mehr Glück hat als du.
Du gibst die fruchtlose Suche am Waldrand auf und schlägst dich in den Wald. Das düstere Unterholz umschließt dich, die Luft ist kalt, riecht aber trotzdem muffig, so, als würde sich niemals ein Windzug unter die Tannen verirren.
Es gibt keinen Pfad. Du suchst dir vorsichtig einen Weg durch Brombeerranken und Brennnesseln, zwischen Weißdornsträucher und anderem Unterholz hindurch. So leise wie möglich kletterst du durch steile Gräben, Flussbetten und an großen, moosbewachsenen Findlingen vorbei.
Plötzlich hörst du ein Geräusch. Du duckst dich hinter einen großen Stein und spitzt die Ohren.
Kein Zweifel: Du hörst Schritte.
Panisch siehst du dich nach einem besseren Versteck um, denn die Schritte kommen genau auf dich zu. Doch es gibt kein Versteck. In Ermangelung besserer Alternativen ziehst du lautlos die beiden Säbel.
Die Schritte kommen näher. Du wartest in deinem Versteck und lauschst auf das laute Hecheln eines großen Tieres. Dann, als sich eine pechschwarze Pfote in dein Sichtfeld schiebt, springst du hervor und schlägst nach dem Reiter.
Der bleiche, rothaarige Elf reißt die schrägen Katzenaugen auf. Deine Klingen schneiden in den Hals und die Leiste, der Angegriffene fällt ohne einen Laut auf den Boden. Der Wolf macht einen Satz von dir weg und jault auf.
Du erkennst deinen Fehler: Es sind fünf weitere Elfen da, ihre Wölfe sind so leise, dass du fälschlicherweise von zwei Gegnern ausgegangen bist. Schnell haben die schwarzen Tiere dich umkreist. Du schützt dich mit den Säbeln vor den schnappenden Zähnen, doch gegen die Elfen hast du keine Chance. Einer schießt auf dich, du siehst den Pfeil zu spät. Die Metallspitze streift deinen Kopf und du fällst auf den Boden. Sterne füllen dein Blickfeld, dir wird speiübel. Ehe du auch nur durchatmen konntest, sind zwei Elfen abgesprungen und fesseln deine Arme. Die Säbel liegen nutzlos im Moos, ein weiterer Elf sammelt sie auf und mustert sie mit unergründlicher Miene.
Du spuckst aus. Schon wieder dreht sich alles um dich. Die bleichen Dunkelelfen diskutieren einen Moment in ihrer fremden Sprache, dann heben sie dich auf und setzen dich auf den Rücken des Wolfes, dessen Reiter du getötet hat.
Das riesige Tier unter dir fühlt sich fremd an. Ein starker Geruch nach nassem Hund steigt aus dem schwarzen Fell auf. Du hältst dich mit den gefesselten Händen am Nackenfell des Tieres fest.
Die Elfen nehmen dich in ihre Mitte, zwei richten gespannte Bögen auf dich. Dann setzt sich der Wolf in Bewegung.
Du sitzt still auf dem Raubtier. Die Pfeile machen dir nicht so viel Angst wie die Vorstellung, von dem gewaltigen Wolf zu rutschen. Auf seinem Rücken bist du immerhin außer Reichweite der Zähne.
Deine Bewacher führen dich auf unsichtbaren Pfaden durch den Wald. Schließlich schält sich aus dem graugrünen Zwielicht eine massivere Gestalt. Im Näherkommen erkennst du einen gewaltigen Baumstamm, so breit, dass eine ganze Stadt in das verdorrte Holz geschlagen wurde. Die gesplitterten Borkenreste ragen hoch über die Tannen hinauf, wie ein Berg aus Holz.
Man führt dich über eine gewaltige Wurzel nach oben. Das Geräusch der Wolfspfoten auf dem Untergrund ist seltsam, als wäre es kein Holz, sondern Stein, über das ihr reitet. Dann erinnerst du dich, dass man in den schlammigen Sümpfen rund um Westland immer wieder versteinerte Holzstücke finden kann – vielleicht ist auch dieser Stumpf versteinert.
Den ganzen Weg bis zur Spitze, wo sich im gesplitterten Holz ein ganzes Schloss befindet, begegnen euch keine anderen Bewohner. Ihr reitet durch Gassen und gewundene Straße, an Häusern mit leeren, blicklosen Fenstern vorbei. Nichts rührt sich in den Gebäuden. Schließlich durchquert ihr einen schmalen und hohen Eingang und kommt auf einen großen, offenen Platz hinaus, der von einem Ring aus Borke geschützt wird. Türme und dünne Fenster blicken auf den Hof herab, in kleinen Erdanhäufungen wachsen fremdartige Blumen.
Du fühlst dich wie ein Käfer, der eine gefällte Eiche erkundet. So gefangen bist du von dem Anblick deiner Umgebung, dass du zuerst nicht reagierst, als die Dunkelelfen dir mit Handbewegungen befehlen, abzusitzen. Dann ziehen sie dich gewaltsam von dem Wolf und durchtrennen deine Fesseln. Du wirst immer noch bewacht, an eine Flucht ist nicht zu denken.
Aus einer schmalen Türöffnung kommt euch ein weiterer Elf entgegen. Dieser trägt nicht die dunkle, braungrüne Jagdbekleidung deiner Bewacher, sondern ein langes, elegantes Gewand aus karmesinrotem Stoff. Seine Haare sind silbrig-grau, die Augen wachsam und hell. Er wechselt ein paar Worte mit denen, die dich gefangen haben, bevor er sich zu deiner Überraschung in der Gemeinsprache an dich wendet: „Was tust du hier, Fremde? Gehörst du zu diesem Magier und seinem Kind?“
Du antwortest:
- „Meine Gefährten sind hier? Bring mich auf der Stelle zu ihnen!“ Lies weiter bei Kapitel 13.
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- „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Lies weiter bei Kapitel 14.