Sternenklar war der Himmel in jener Nacht. Nichts war zu hören. Einzig und allein sein Atem schien von den Wänden widerzuhallen, als Michael sich aus dem Zimmer schob... Einen Augenblick lang verharrte er regungslos um zu lauschen, doch Mutter schlief tief und fest. Dafür sorgten ihre Tabletten...Im Zimmer des Bruders umhüllte ihn trügerische Dunkelheit, als er die Klinke herunterdrückte und eintrat.
'Die Wände rücken näherDie Dunkelheit atmet, streckt ihre Klauen ausUnd die Bücher, sie flüstern- Komm nach Hause!'
Mutter hatte das Zimmer nicht mehr betreten, seit der Bruder fort war.Zu tief saß der Schmerz über den Verlust des geliebten Sohnes, den sie dem Anderen immer vorgezogen hatte. Wie oft hatte sie gewünscht, dass der Bruder an seiner statt bei ihr sei. Er konnte es in ihren Augen lesen, jedes Mal, wenn sie ihn ansah...
Mit einem leisen Klacken fiel die Türe hinter ihm ins Schloss. Er atmete den Geruch von Büchern- alten Büchern, Ledereinbänden und Vergänglichkeit. Durch das Fenster fielen die Lichter der Großstadt. Lichter, so weit entfernt, wie verblasste Sterne und doch so nah...
'Das ist nicht deine WeltKomm nach Hause, Michael! Komm nach Hause...'
Er wusste um das Geheimnis des Bruders- beobachtete, wie er sich Nacht für Nacht fortstahl, bemerkte, wie er sich selbst und denen, die um ihn waren, fremd wurde. Fremd in der Welt und in einer fremden Welt zuhause.Alte Geschichten, Mythen, Dunkelheit, die weder Auge noch Herz zu erfassen und zu begreifen vermag. Eine Dunkelheit, die unentdeckt bleibt, solange sie es für richtig hält...
Zentimeterdicker Staub auf Möbeln, Büchern, Fensterbank... Das Reich des Bruders- begraben in Vergänglichkeit.
'Du hattest FragenKennst du auf alle die Antworten?Was hält dich hier?Sie würde dich nicht vermissenHier gibt es nichts für dich...'
Er strich über die dunklen Einbände der Bücher. Eines unter ihnen fühlte sich warm, beinahe lebendig an... Oft hatte er den Bruder darin lesen sehen. Oft schien er ihm danach merkwürdig verändert, gar fremd.
'Michael...Michael...Michael...'
Es schmiegte sich angenehm warm an seine Handfläche, als er es aus dem Regal zog und mit neugierigen Blicken bedachte. Wie wenig er doch über den Bruder wusste. Wie wenig...Er schlug das Buch auf, dessen leise knisternden Seiten zu flüstern schienen. Und in den Lichtern der Stadt, die sich im Fensterglas fingen, brachen und geheimnisvoll schimmernd tanzten, begann er zu lesen...