Ich sah inzwischen nicht mehr hin, was von meinem kleinen Finger noch übrig war. Und ich hatte aufgehört, zu zählen, wie oft ich in Ohnmacht gefallen war. Er hatte mich jedes Mal wieder zurückgeholt, um mich weiter zu quälen. Jetzt legte er sein Werkzeug ab, setzte sich wieder auf den Stuhl und legte seine Hände auf die Oberschenkel.
Meine Augen waren verquollen, mein Körper schmerzte und ich hing schlaff an der Befestigung des Tisches. Mein Fingerstumpf pochte und in der Luft lag der Gestank verbrannten Fleisches.
"Nun, vielleicht bist du jetzt gesprächiger. Du kannst dem allem ein Ende setzen, indem du mir einfach die Wahrheit sagst."
Ich blickte seinen verschwommenen Umriss an und als ich verstand, was er von mir wollte, schüttelte ich schwach den Kopf. Dann ließ ich ihn wieder sinken.
"Du hast länger durchgehalten als der Quacksalber." Er erhob sich wieder und griff erneut das Skalpell. "Wirklich bewundernswert, wie du versuchst, euer Geheimnis zu schützen. Aber nicht die klügste Entscheidung. Du wirst deine Körperteile brauchen, wenn du im Äußersten Ring landest. Außerdem wird dein Widerstand nicht verhindern, dass ich den Rest von euch finde. Das ist nur eine Frage der Zeit."
Der äußere Ring? So schlimm stand es also? Uns allen drohte die Verbannung aus der Zitadelle und wir sollten in den Gefängnisring geschickt werden?
"Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen", hauchte ich schwach und mit einem Unterton der Verzweiflung. "Ich bin Josh Hardington. Finanzanalytiker. Das ist alles ein Missverständnis."
"In dem Fall muss ich wohl weitermachen", sagte er mit Enttäuschung in seiner Stimme. Die nahm ich ihm nicht ab. Ich wusste, dass der Mistkerl das genoss. "Ich nehme an, dass du nicht besonders an deinem Ringfinger hängst, oder?"
Er näherte sich mit seinem Folterwerkzeug, aber ich war zu schwach, um mich noch aufzubäumen. Stattdessen driftete mein Verstand ab, zurück in Richtung Bewusstlosigkeit. Aus der Ferne vernahm ich ein Brummen. Oder war das nur das Blut, das in meinen Ohren rauschte? Durch die Schlitze meiner halb geschlossenen Augen wurde ich geblendet. Ich versuchte, sie offen zu halten und zu erkennen, was das war. Etwas an der Wand rechts von mir. Eine große weiße Fläche, in deren Mitte sich etwas Dunkleres befand.
Ein Beben erschütterte den Raum. Wie hing das mit dem Bild zusammen? Halluzinierte ich bereits?
"Captain Lover, wo sind Sie denn? E0 wird angegriffen! Wir brauchen Sie hier!"
Die Stimme kannte ich.
"Meine Grüße, Ratsmitglied Thulius. Ein Angriff? Wer sollte so bescheuert ... bekommt die diensthabende Mannschaft das nicht allein hin?"
"Die Mannschaft ist nur halb besetzt. Viele Siks sind noch in der Mine verschüttet. Außerdem denke ich, dass dieser Angriff eines Mannes ihres Kalibers bedarf."
"In der Mine verschüttet?" Der Folterknecht stöhnte ungläubig und schwieg einen Moment. Dann schien er sich zu fassen. "Verstanden, Ratsmitglied. Ich mache mich auf den Weg."
"Was tun Sie da überhaupt?" Eine Pause, in welcher der Mann im Medienpanel wahrscheinlich unseren Raum musterte. "Bei der Zitadelle! Ihnen ist doch klar, dass Folter seit '32 missbilligt wird? Machen Sie diesen Mann los und sperren sie ihn in eine Arrestzelle!"
"Ich mache nur meine Arbeit, zum Schutz der Zitadelle."
"Scheiße, das ist doch Daniel, oder?", hörte ich eine Stimme aus dem Hintergrund. War das Sergej?
Sie hatten es geschafft, bis zu Thulius vorzudringen. Ein Gefühl der Erleichterung erfasste mich. Wenn sie so in das Gespräch eingreifen konnten, dann musste es ihnen gut gehen. Das gedämpfte Gemurmel aus der Richtung des Medienpanels ging im Hintergrund unter. Mein Körper sehnte sich danach, einfach in einen erholsamen Schlummer zu verfallen. Doch es ging nicht. Er hatte mir irgendwas injiziert, das mich wach machte, mich an der Grenze zur Bewusstlosigkeit festhielt.
"Machen Sie diesen Mann los, Lover! Bringen Sie ihn mit auf E0. Und zwar ohne ihm weiteres Leid zuzufügen."
"Ratsmitglied, dieser Mann ist ein Terrorist!", protestierte Lover. "Ich kann ihn unmöglich mit nach E0 nehmen."
"Terrorist?" Thulius zog die Silben dieses Wortes ungläubig auseinander. "Sie sollten ihre Quellen prüfen, Lover. Dieser Mann hat den Attentäter, dem ich nur knapp entkommen bin, auf seiner Flucht gestoppt. Er wird bereits überall gesucht, damit ich ihm auf angemessene Weise danken kann."
Ich lachte heiser. Wie ironisch. Dann schoss der Schmerz durch meinen Finger und ich weinte stattdessen.
"Was?", sagte Lover emotionslos. "Ja, ich habe verstanden."
Das Medienpanel wurde schwarz und es beruhigte mich, dass ich nicht mehr geblendet wurde.
"Scheiße!" Er gab der Wand einen kräftigen Tritt. Wie zur Antwort erzitterte der Raum erneut. Dann kam er auf mich zu. "Für mich ändert das nichts. Du bist ein Verbrecher! Thulius Gunst zögert deine Bestrafung nur hinaus."
Er löste die Befestigung. Endlich! Ich rutschte erleichtert auf den Boden und machte mich lang. Nur der Finger hörte nicht auf, stoßweise Schmerzen in meinen Körper auszustrahlen.
"Stell dich nicht so an und steh auf!"
Einen Scheiß würde ich tun! Ich würde mich keinen Meter bewegen. Selbst wenn ich wollte, mein Körper konnte es nicht. Als ich nicht reagierte, packte er mich einfach und warf mich über die Schulter.
"Dafür habe ich echt keine Zeit."
Ich schloss die Augen und spürte, wie er los stapfte, kurz anhielt, um die Tür zu öffnen, dann ging es den Gang entlang. Ich schwankte bei jedem Schritt hin und her. Zu den Schmerzen gesellte sich ein flaues Gefühl im Magen. Doch selbst wenn ich in der Lage gewesen wäre, selber zu laufen, würde ich meine Kraft sparen. Die würde ich brauchen, um diesen Kerl fertig zu machen, wenn ich mich wieder vollkommen unter Kontrolle hatte.
Er fluchte alle paar Meter und allein das gab mir ein kleines Gefühl des Triumphes. Dann hielt er an, setze mich ab und lehnte mich gegen eine Wand. Ich blinzelte und sah Aufzugtüren. Der nächste Schwall Schmerzen rollte durch meinen Körper und ich wimmerte leise. Bis ich ihn fertig machen konnte, würde wohl noch eine Weile vergehen.
Captain Lover hämmerte gegen die Wand. Als ob der Aufzug dann schneller käme. Was für ein Idiot.
Unter Schmerzen zog ich mir den rechten Handschuh wieder zurecht und berührte mit den Fingerspitzen die Wand des Aufzuges. Kein Wunder, dass er sauer war, die meisten waren ausgefallen. Da konnte er lange warten.
Dieser Angriff musste wirklich eine ernste Sache sein. Waren das die Reformer? Dann war er wirklich gut abgestimmt. Und sie hatten uns reingelegt. Sie hatten die Siks nicht in die Minen gelockt, damit wir nach oben konnten, sondern um sie dort festzusetzen, wenn sie ihren Angriff starteten. War das Attentat auf Thulius auch nur Ablenkung gewesen? Ihr eigentliches Ziel musste E0 sein. Was, wenn Thulius recht hatte und sie wirklich das Tor in die Außenwelt aufsprengen wollten? Die Zitadelle in den Untergang treiben?
Doch was half es, mir darüber den Kopf zu zerbrechen? Vor allem, wenn er mir bei Lovers Gehämmer fast platzte?
"Sie reisen wohl nicht oft, so wie Sie mit dem Aufzug umgehen", presste ich hervor. "Nummer 5 ist gleich oben, also ganz ruhig bleiben, bevor Sie unnötigerweise noch mehr Dinge kaputtmachen."
Ob es klug war, ihn zu provozieren? Ich hielt es zumindest für eine wunderbare Idee, jetzt da ich Immunität genoss. Aber ich musste auch zugeben, dass mein Kopf so gar nicht klar war.
"Was?", fuhr er mich an. "Deine Lage wird nicht besser, glaub mir."
Bevor er mir noch mehr Qualen androhen oder zufügen konnte, öffnete sich uns gegenüber eine Aufzugstür. Stimmgewirr füllte den Wartebereich. Ich blinzelte ein paar Mal und bekam kurze Bilder verwundeter Siks präsentiert, die aus der Kabine stürzten.
"Bericht!", bellte der Captain sie an, bekam als Antwort aber nur ein knappes "Keine Zeit". Eine Gruppe aus zwei aufgebahrten Siks und vier Trägern eilte an uns vorbei. Sie wurden von einem Weiteren verfolgt, der humpelnd versuchte, Schritt mit ihnen zu halten.
Captain Lover schlug mit seiner Faust erneut gegen die Wand. Gut, dass jemand anderes den Job übernommen hatte, ihn wütend zu machen. Schlecht, dass ich trotzdem die Folgen zu spüren bekam.
Er packte mich grob am Kragen, zerrte mich in die Luft und warf mich in die leergewordene Kabine, wo ich hart auf dem Boden aufschlug. Ich rang nach Atem und griff selbst nach meinem Kragen, um ihn zu lockern.
Dann ging es nach unten. Nicht lange, der Weg bestand ja nur aus einer Etage. Unterwegs murmelte er vor sich hin. Scheinbar versuchte er, mehr Informationen zu erhalten.
Jetzt sah ich ihn das erste Mal in richtigem Licht. Er trug keine herkömmliche Uniform, in die passte sein Cyborg-Körper wahrscheinlich gar nicht rein.
Wie kommunizierte er mit seinen Kollegen? Ich sah keine Stöpsel im Ohr und auch keine Datenbrille, wie sie der Controller mit den Drohnen vorher getragen hatte. Lief das alles in seinem Körper ab? Unter dieser Stahlplatte an seinem Kopf vielleicht? Konnte ich herausfinden, was da los war, wenn ich ihn berührte?
"Hey, können Sie mir vielleicht hochhelfen, Captain ... Lover?"
Er warf mir einen grimmigen Blick zu. "Kannste doch wieder laufen?"
Ich zuckte mit den Schultern. Er streckte mir die Hand entgegen und ich griff zu. Stechender Schmerz durchfuhr meinen Kopf und ich schloss die Augen.
Es ertönten Stimmen in meinem Kopf und Bilder erschienen auf dem Schwarz meiner Lider. Grundrisse von E0, die sich der Captain vermutlich gerade ansah. Dann wechselte er in dreidimensionale Raumansichten. Das war das Schlachtfeld, wurde mir sofort klar. Räume, die verloren und die, die noch nicht aufgegeben waren. Ein audiovisuelles Protokoll tauchte auf, von einem Gespräch, das der Captain gerade geführt hatte. Oder immer noch führte?
P13-SGT Yuko: "Aufzugsgruppe 3, 8 und 9 sind aufgegeben."
CPT Lover: "Art der Feinde?"
P13-SGT Yuko: "Minenarbeiter und ... ich weiß nicht ... Roboter?"
CPT Lover: "Roboter? Roboter, die kämpfen können?"
P13-SGT Yuko: "Unbekannte Baua…"
Ein Knall, der vom Kommunikationssystem gedämpft wurde, gleichzeitig verschwand Yuko aus der Kommunikationsliste. An ihre Stelle rückte jemand anderes, scheinbar aus demselben Trupp.
P13-CPL Torochew: "Sergeant Yuko ist tot, Sir. Wir ziehen uns zurück. Gang 9D aufgegeben."
CPT Lover: "S*****e!"
Wir würden an Aufzugsgruppe 9 herauskommen, entweder inmitten der Angreifer oder hinter ihren Linien. Sie hatten noch nicht alle Aufzüge deaktiviert, also wartete vielleicht noch jemand auf uns. Ich überlegte mir, ob ich die Systeme des Captains sabotieren sollte. Vielleicht seine Arme ausschalten? Aber wenn da unten wirklich jemand auf uns wartete, war es mir aber lieber, wenn er vollständig einsatzbereit blieb und ich mich hinter ihm verstecken konnte.
"Hey, ich hoffe, du kannst inzwischen wirklich laufen", sagte er, offensichtlich zu mir, "denn das wirst du müssen, wenn du die nächsten Minuten überleben willst."
Er ließ mich wieder los und ich wurde jäh vom Informationsfluss getrennt. Ich taumelte, stützte mich mit den Armen an der Wand ab und zuckte zusammen, als ich mit dem Stumpf meines kleinen Fingers dagegen stieß. Ich drehte mich etwas, bis ich mit dem Rücken an der Kabinenwand lehnte und atmete durch.
"Hier, nimm das, um dich zu verteidigen.", sagte er und drückte mir eine kleine Pistole gegen den Brustkorb. "Versuch gar nicht erst, die Waffe auf mich abzufeuern, denn sie wird keine Wirkung haben."
Ich umfasste sie mit der rechten Hand und überprüfte sie mit dem Handschuh. Eine Laserpistole. Interne Funktionen geschützt durch eine Sicherheitsstufe der Siks. Eingestellt auf den kleinsten Betäubungsfaktor. Damit würde ich ihm, dank seiner eingebauten Abwehrmaßnahmen, wirklich nichts anhaben können. Jedem Feind, dem ich dort draußen begegnete, aber auch nicht.
"Wollen Sie mich umbringen?", fragte ich. "Damit kann ich ja noch nicht einmal eine Kanalratte kitzeln. Die Waffe sollte schon Schaden anrichten. Oder soll ich sie werfen?"
"Ach ja? Du weißt aber sehr gut über unsere Waffen Bescheid."
"Nachdem wir ja jetzt quasi auf derselben Seite stehen und es fraglich ist, ob wir noch lange leben, kann ich es Ihnen ja verraten. In Wirklichkeit bin ich Agent des Rates, auf einer Spezialmission. Falls wir diese Aktion überleben, blüht Ihnen keine rosige Zukunft." So was wollte ich schon immer mal sagen.
Ich konnte seiner Miene nicht entnehmen, ob er mir glaubte oder ihn die Drohung beunruhigte. Meine Waffe nahm er zumindest, drehte an einem Rad und gab sie mir zurück. Sie war zwar immer noch nicht auf maximaler Stärke, aber jetzt konnte ich immerhin mehr anrichten, als unsere Gegner zu blenden.
Denn selbst, wenn die im Auftrag der Reformer unterwegs waren, bezweifelte ich, dass sie fragten, auf welcher Seite ich stand, bevor sie auf mich schossen. Besonders nicht, solange ich mit Captain Lover unterwegs war.
Die restlichen Sekunden nach unten versuchte ich, die Sicherheitsvorkehrungen der Waffe zu umgehen, damit ich noch etwas mehr Feuerkraft aus ihr rauskitzeln konnte, aber die Zeit reichte nicht. Der Fahrstuhl stoppte und die gepanzerten Außentüren öffneten sich gleichzeitig mit den durchsichtigen im Inneren und gaben den Blick auf ein Schlachtfeld frei.
Knisternde Elektronik in beschädigten Wänden, die Funken sprühend das Halbdunkel des Wartebereichs aufhellte. Nebel, der in der Luft lag und keine Sicht auf etwas ermöglichte, das weiter als drei Meter von uns entfernt war.
Den Minenarbeiteranzug, der mit hoch erhobenem Bergbaulaser auf uns zustürmte, entdeckte ich trotzdem.