Der Captain fackelte nicht lange.
Mit einem ohrenbetäubenden Knall beförderte er den Angreifer zurück in die Nebelbank, aus der er gekommen war. Er war mit einem klobigen Totschläger von einer Pistole bewaffnet, gegen die meine wie ein Kinderspielzeug aussah. Die Waffe passte zu ihm. Und nein, ich war kein bisschen neidisch.
Als niemand sonst aus dem Nebel auftauchte, ging er in die Knie. Dort lag einer seiner Kollegen. Seine Uniform war zerrissen, löchrig und weitere Details wollte ich mir ersparen. Captain Lover fühlte mit der freien Hand seinen Puls, während er seine Waffe weiterhin ausgestreckt in Richtung Nebel hielt.
In der Ferne hörte ich Schüsse und zuckte zusammen. Waren wir hier jetzt sicher? Nein, das Gefühl, dass sie nur in der Ferne kämpften, war trügerisch. Es war unmöglich, die Schüsse der Energiewaffen zu hören, die sich leise zischend durch ihre Ziele brannten.
Lover zog eine Miene, die noch finsterer war als bisher. Für den Sik konnte er wohl nichts mehr tun. Trotzdem tastete er an seinem Handgelenk herum. Was tat er da?
Schließlich drückte er zu und es knackte. Hatte er ihm mit der bloßen Hand den Arm gebrochen? Nein, das war etwas anderes gewesen.
Stück für Stück verschwand die Uniform von der Haut des Siks, begleitet von einem Klackern, als ob jemand rasend schnell auf einer altertümlichen Tastatur tippte. Dann lag er nur noch in Unterwäsche da, übersät von Löchern und Verbrennungen.
Der Captain warf mir etwas zu, das meinen Fingern erst entglitt, bis ich es schließlich mit beiden Händen und unter Schmerzen zu fassen bekam. Ich wendete es zwischen meinen Fingern. Es war ein kleiner schwarzer Knopf, der das Flackern der Wandverkleidung reflektierte.
"Diese reichen Scheißer bekommen auch den besten Schnickschnack nachgeworfen. Ich musste für sowas die halbe Zitadelle bestechen. Na ja, geholfen hat es ihm trotzdem nicht. Vielleicht nutzt es ja dir was. Nicht, dass du den Eindruck bekommst, dass ich dich hier wirklich sterben lassen will." Er schüttelte den Kopf und starrte grimmig in den Nebel. "Nein, dann würdest du einer gerechten Bestrafung entgehen. Den Mist mit dem Agenten kauf ich dir nicht ab."
Ich scannte das Objekt mit meinem Handschuh. Da steckte so eine Art Spezialanzug drin, der den Träger gegen alles Mögliche schützen sollte. Mein Blick streifte den Sik am Boden. Ein zweifelhaftes Versprechen.
Ich platzierte den Knopf an meinem linken Unterarm und hielt den Zeigefinger der rechten Hand dagegen. Ich wollte wissen, was da passierte, und musste sichergehen, dass es nicht die falschen Stellen meiner Haut bedeckte. Wär blöd, wenn ich den Kontakt zum Handschuh verlor oder die Kontakte beschädigt wurden.
Ich fand heraus, wie der Knopf tickte und wie ich das Aussehen des Anzugs verändern konnte. Ja, ein schlichtes Schwarz sollte es sein, passend zu meinen Socken. Ganz ohne Logo und Dienstgrade der Siks. Ich gab den Befehl und er breitete sich klackernd unter meiner knalligen Oberwelterkleidung und oberhalb meiner Unterwäsche aus. Die Hände ließ ich frei, verdeckte aber den Kopf komplett, mit drei Schichten Extrapanzerung, Sehschlitz und Löchern zum Atmen. Sah vielleicht komisch aus, aber sicher ist sicher.
Ein Hinweis erschien vor meinen Augen. "Fehlende Verbindung zur Datenbrille." Ich sah zum Sik hinab und entdeckte sie auf seiner Nasenspitze. Sie war zersplittert. War das vielleicht der Grund, warum der Anzug bei ihm versagt hatte? Die brauchte ich ja nicht wirklich. Ich ließ den Stoff des Anzugs vorsichtig über meinen Handschuh wachsen und bekam Zugriff auf die Steuerung, das Kommunikationsnetzwerk und alle damit verbundenen Daten.
Ich konnte aber unmöglich die ganze Zeit mit geschlossenen Augen herumlaufen, um all diese Daten zu sehen. Sollte ich nur ein Auge schließen? Gott, das würde auf Dauer anstrengend werden. Ich versuchte, die Informationen irgendwie mit geöffneten Augen zu sehen, versagte aber kläglich. Nun, dann würde ich einfach nur mithören. Besser als nichts.
"Hi", murmelte ich vor mich hin und hörte mein Echo klar und deutlich in meinen Ohren. Mann, das würde mich nerven. Ich hatte es schon früher nie geschafft in ein Mikro zu sprechen, ohne dass meine eigene von den Lautsprechern verunstaltete Stimme mich irritiert hätte.
Das Kommunikationsprotokoll erkannte offenbar, dass ich das Wort in die Konversation einfließen lassen wollte, noch bevor es meine Lippen verlassen hatte. Reichte es vielleicht aus, es nur zu denken? Sah mich der Captain deswegen so blöd an?
"Gratulation, du hast es geschafft, dich mit dem ComNet des Sicherheitskorps zu verbinden", sagte er trocken. "Können wir jetzt weiter?"
Doch jetzt war ich in meinem Element. Ich ignorierte ihn und schloss die Augen. Konnte ich auf die Kameras der Etage zugreifen? Was das für meine Überlebenschancen bedeuten würde, musste ja nicht erklärt werden. Ich hatte Pech. Nichts! Die Angreifer hatten ganze Arbeit geleistet und die Kameras in jedem Bereich, den sie eingenommen hatten, ausgeschaltet. Oder, noch schlimmer, sie hatten selber die Kontrolle darüber übernommen.
Ich hörte, wie der Captain sich bewegte und öffnete die Augen. Er hatte wohl die Geduld verloren und stapfte in den Nebel. Ich folgte ihm, mit Sicherheitsabstand.
Ich erwartete, dass jeden Moment jemand auf uns schoss oder aus dem Hinterhalt anfiel. Zumindest den leblosen Körper des Minenarbeiters erreichten wir, ohne dass was passierte. Hatten sie etwa nur diesen einen zurückgelassen?
In der Mitte des Oberkörpers seines Anzuges klaffte ein faustgroßes Loch. Ich wollte nicht wissen, mit was der Captain da geschossen hatte, aber ich blieb besser weiterhin hinter ihm. Diese Anzüge waren eigentlich dafür ausgelegt, starken Belastungen standzuhalten. Dem Druck herabfallender Geröllmassen, der Auswirkung von Gasexplosionen oder den Klauen der Kreaturen, die weit unter der Zitadelle hausten.
Verunglückte Minenarbeiter starben in der Regel trotzdem, einfach, weil es ewig dauerte, bis sie geborgen wurden. Falls denn überhaupt ein Rettungstrupp losgeschickt wurde. Numbaka hatte uns erzählt, dass solche Anzüge auch dann noch hielten, wenn der Besitzer bereits Jahre darin verhungert war. Dank schlecht gewarteter Luftfilter in den Anzügen wurden alle Minenarbeiter, die nicht verunglückten, trotzdem nicht alt.
Dass sich solche Menschen irgendwann einmal gegen das System auflehnten, war zu erwarten, allen Versuchen, sie ruhig zu stellen, zum Trotz.
Der Captain kniete sich auch zu ihm hinunter. Wollte er ihn retten oder noch ein bisschen foltern, falls er noch lebte? Er entfernte eine Sicherung am Helm, betätigte einen Knopf und der Verschluss des Helms schnappte auf. Er offenbarte das Gesicht eines jungen Mannes, der viel zu sauber für einen Minenarbeiter aussah.
"Da ist eindeutig was faul", bestätigte der Captain meine Gedanken. "Unbekannte Roboter? Minenarbeiter, die nicht wie Minenarbeiter aussehen?"
"Er könnte sich vor dem Angriff doch auch einfach nur gewaschen haben", schlug ich vor. "Falls nach dem Sturz des Rates Bilder von den Helden gemacht werden sollen."
"Hältst dich wohl für besonders komisch, was?" Er funkelte mich an. Dann öffnete er die Augenlider des Mannes und strahlte mit der Taschenlampe seiner Waffe hinein. "Keine Verfärbung der Augen. Der hat nie im Leben eine Mine von innen gesehen."
Die Verfärbung der Augen war eine der Nebenwirkungen der defekten Filter und trat meistens schon im ersten Jahr auf, das sie in den Tiefen verbrachten. Diesen kränklich gelben Stich, der das Weiß ersetzte, hatte ich schon bei vielen Kunden im Hort gesehen.
"Wer ist es dann, der den Rat angreift? Unzufriedene Oberweltler vielleicht, denen einen Abend lang die Anbindung an das Mediennetzwerk ausgefallen ist?"
"Was?" Lover stöhnte. "Hör auf mit dem Mist, sonst scheiß ich auf Thulius Anweisung und verpass dir ne Kugel." Er ließ den Minenarbeiter los und sein Auge schloss sich wieder. "Ich hab keine Ahnung, wer das ist. Trägt zwar eine ID, aber mit der ist keine einzige Information verknüpft. Aber darum kümmer ich mich, wenn wir diese Etage befreit haben."
Er erhob sich und blickte in den Gang hinein, in den sich der Verteidigungstrupp zurückgezogen hatte.
"Captain Lover?", ertönte eine weibliche Stimme aus dem ComNet. Ich schloss ein Auge, um zu sehen, wer da sprach.
HQ-SGT Hill: "Captain Lover?"
CPT Lover: "Ja?"
HQ-SGT Hill: "Ich bin Ihnen als Operator zugewiesen worden. Wir haben den angeforderten Statusbericht für Sie zusammengestellt und ich werde Sie durch den Rest dieses Einsatzes leiten."
CPT Lover: "Die Informationen reichen mir, den Rest kann ich selbst entscheiden. Danke für die Mühe."
Er war wirsch. Nicht nur unfreundlich zu mir, sondern zu allen. Sollte mich das aufbauen?
HQ-SGT Hill: "Ich helfe Ihnen auf besondere Anweisung des Rates. Hier, ein aktueller Lageplan der Bereiche, in denen wir keinen Zugriff mehr auf die Kameras haben. Das sind Momentaufnahmen unserer Drohnen."
CPT Lover: "Aha. Interessant. Danke."
Ich konnte die Daten nicht sehen, sie waren wohl nur dem Captain zugespielt worden, nicht allen im ComNet.
UNKWN1: "Ich hätte gerne ebenfalls Zugriff auf die Informationen. Ich befinde mich im Trupp des Captains."
HQ-SGT Hill: "Etwas stimmt nicht mit ihrer Identifikation, bitte verbinden sie sich erneut mit dem ComNet."
CPT Lover: "Verdammt, was machst du denn in der Leitung? Stör uns nicht. Andererseits ... das lässt sich jetzt wohl nicht mehr ändern. Ich setze es einfach mit auf der Liste der Anklagepunkte. Sergeant Hill, das ist vermutlich Daniel Adler. Aufgetaut und dann verschwunden, bevor ein ID-Chip eingesetzt werden konnte. Geben Sie die Daten weiter, dann ist er mir vielleicht nicht mehr so ein Klotz am Bein."
HQ-SGT Hill: "In Ordnung. Ich fasse Sie zu einem Trupp zusammen und gebe die Informationen in Zukunft auf Truppebene frei."
P17-ZIV Adler: "Vielen Dank. Sie retten mir wahrscheinlich gerade das Leben."
P17-CPT Lover: "Sehr witzig. Beschränk die Kommunikation auf ein Minimum."
Vor meinem Auge erschien eine aktualisierte Version des Grundrisses, so wie ich sie zuvor bei Lover gesehen hatte. Stellen, an denen sich noch Kameras befanden, zeigten mit grünen Punkten Mitglieder der Siks, die sich bewegten oder ihre Stellungen besetzt hatten. Diese Punkte konzentrierten sich an 3 Stellen. Von Trupp 13, mit dem Lover vorher gesprochen hatte, waren noch 2 Mann übrig. Dann gab es noch einen Trupp 11 und 16 mit mehr Mitgliedern.
Wir waren Trupp 17. Wurden alle anderen bereits ausgelöscht oder waren sie nur in anderen Ebenen der Zitadelle unterwegs?
Dann gab es einige Gruppen mit roten Punkten, die unbeweglich an den Stellen verharrten, an denen sie zuletzt gesehen wurden. Die Angreifer.
Es gab noch viele graue, weiter von der Gefahrenzone entfernt. Waren Moritz und Sergej dort, zusammen mit Thulius?
Mir fiel auf, dass sich keine rote Gruppe mehr in der Nähe von Trupp 13 befand. Sie alle schienen andere Wege eingeschlagen zu haben. Ich rieb mir die Augen und blinzelte, versuchte, die Farben des Grundrisses loszuwerden, die sich invers vom hellgrau der Wände abhoben.
"Leben die Leute aus Trupp 13 eigentlich noch, die uns hier angezeigt werden?", sprach ich in das ComNet.
"Am Leben, bei Bewusstsein und immer noch einsatzbereit. Sollen die beiden sich Ihnen anschließen?", antwortete Sergeant Hill.
"Noch mehr Ballast? Klasse!", beklagte sich der Captain genervt.
"Ich frage eigentlich aus einem anderen Grund", erklärte ich.
"Ja, dann schieß mal los", brummte der Captain.
"Hinter der Position von Trupp 13 befinden sich haufenweise Zivilisten. Ratspersonal oder Ratsmitglieder? Da sind so viele rote Punkte in der Nähe von Trupp 13, warum haben die den Rest nicht einfach plattgemacht und dann den Rat gestürmt? Kennen die sich nur nicht aus, oder ist in der Richtung, in die sie jetzt unterwegs sind, ein interessanteres Ziel?"
"Das sind Verrückte, was brauchen die schon für ein Ziel?" Ihm war die Ungeduld anzuhören. Er wollte weiter.
"Moment, ich überprüfe das", kam es von unserem Operator. Es dauerte eine Weile, bis sie fortfuhr: "Dort befindet sich das Kontrollzentrum des Ratsbereichs."
"Energie und Sauerstoffversorgung?", vermutete ich.
"Unter anderem. Datenüberwachung, Steuerung verschiedener Systeme …"
"Türen und Aufzüge?"
Ich hielt an und schloss die Augen wieder, um Grundriss und Kommunikation im Auge zu haben. Ich wollte nichts Wichtiges verpassen oder übersehen.
HQ-SGT Hill: "Ja, im Prinzip kann alles von dort aus gesteuert werden."
P17-CPT Lover: "Okay, das war tatsächlich hilfreich. Danke, Zivilist. Sergeant Hill, veranlassen sie die Evakuierung aller Zivilisten in den Ring des Sicherheitskorps."
HQ-SGT Hill: "Ja, Sir."
P17-CPT Lover: "Fügen sie die beiden Soldaten aus Trupp 13 unserem Trupp hinzu, wir werden sie brauchen, auch wenn sie wahrscheinlich nur linke Hände haben. Na, wenigstens haben sie so lange überlebt."
HQ-SGT Hill: "Schon geschehen."
Zwei weitere grüne Punkte flackerten in unserem ComNet auf.
P17-CPL Torochew: "Sir?"
P17-PVT Henrik: "Sir?"
P17-CPT Lover: "Männer, halten Sie sich bereit, zu uns zu stoßen, wir sind gleich da. Sergeant Hill, lassen sie mehr Drohnen durch das Gebiet fliegen. Keine Rücksicht auf Verluste. Die Aufklärung hat Vorrang."
HQ-SGT Hill: "Ja, Sir."
P17-CPT Lover: "Und du, Zivilist, mach endlich deine Augen auf. Kann ja nicht wahr sein, dass du so viel Angst vor ein bisschen Action hast."
Ich war nicht sicher, ob ich mehr Angst vor der Action hatte, als sie zu überleben und danach vielleicht weitergefoltert zu werden. Aber das verkniff ich mir.
Stattdessen öffnete ich die Augen und sah ihm hinterher, wie er mit ausgestreckter Waffe weiter durch den Gang tänzelte.