Der nächste Tag kam, ohne dass ich ein Auge zumachen konnte. Es zeigte sich, dass meine Unruhe berechtigt war.
Meine beiden Wächter, die ich schon gestern so richtig ins Herz geschlossen hatte, führten mich durch Gänge und Aufzüge, wieder zum Platz der Ratsherrschaft, der fast genauso gut gefüllt war, wie bei Thulius Rede. Mir wurde flau im Magen.
Auf den großen Medienpanels lief ein Bericht über Thulius Tod. Die Szene, die sich vor dem Tor in die Außenwelt abgespielt hatte, kommentiert von einer Nachrichtensprecherin. Ich hatte keine Zeit, dem Bericht zu folgen, denn meine Eskorte schob mich ungeduldig durch die Menschenmenge.
Kurz bevor wir die Türen des Gebäudes erreichten, auf deren Front eine große Waage prangte, zeigte ein Mann auf mich. "Das ist doch einer von ihnen, oder?" Er erntete Zustimmung. "Die haben Thulius auf dem Gewissen", kam es aus einer anderen Richtung. Mir wurde heiß. Wurde ich gleich vom Mob gelyncht, für etwas, das ich gar nicht getan hatte? Bevor es dazu kommen konnte, stemmte der eine Sik die Tür auf und der andere bugsierte mich hinein. Die Rufe der Meute wurden von den Türen, die schwer hinter mir ins Schloss fielen, erstickt.
Der Verhandlungssaal war prall gefüllt. Die Zuschauer hier drinnen begegneten mir wenigstens nur mit misstrauischen Blicken und die drei Richter hinter ihren massiven Holzemporen strahlten Gleichgültigkeit aus. Ja, die verdammten Medien hatten uns bereits in das richtige Licht gerückt und diese freundliche Stimmung geschaffen.
Die anderen saßen in der ersten Reihe, jeder mit Handfesseln gesichert. Sergej trug eine spezielle Variante, die seine Prothese umschloss, die immer wieder zuckte. Ein Störsender oder so was, vielleicht? Klara war zu einem Häufchen Elend zusammengesunken und Numbaka schien um Jahre gealtert. Kaum zu glauben, dass das überhaupt noch möglich war.
Captain Lover und die Siks, die am Einsatz beteiligt waren, saßen auf der anderen Seite der beiden Sitzblöcke. Anders als wir, waren sie nicht gefesselt.
Als ich Platz genommen hatte, drückte sich ein älterer Herr in grauem Anzug neben mich. Augenringe und müdes Lächeln. "Hallo, ich bin Ihr Verteidiger", sagte er außer Atem.
Der sollte uns verteidigen? Ich hatte ihn noch nie gesehen. Die anderen vielleicht? Auch mit ihnen hatte ich nicht reden können, so lange ich eingesperrt war und nun begann schon die Verhandlung? Ganz ohne Vorbereitung? Mein Körper wusste nicht, ob ihm heiß oder kalt werden sollte.
Sie begannen mit einem Nachruf auf Ratsmitglied Thulius, der sich allein heldenhaft für die Rettung der Zitadelle geopfert hatte. Das sollte wohl die Bühne bereiten, um unsere Rolle in der ganzen Geschichte noch dramatischer darstellen zu können. Der Redner, ein Mittvierziger mit lichtem Haar und dicker Brille, trug als Nächstes eine relativ objektive Auflistung der über uns bekannten Fakten vor. Mitschnitte unserer Verhöre dienten dazu, uns vorzustellen. Nur aus Sergej hatten sie nichts herausbekommen, wie sein Video zeigte. Er hatte den Sik, der ihn abführen wollte, übel zugerichtet. Danach hatte sich das scheinbar niemand mehr getraut.
Wir waren dank der Unachtsamkeit eines Mitarbeiters der Hypothermieabteilung der Einsetzung des ID-Chips entgangen. Ein unbekanntes Mitglied der Reformer hatte uns in U102 ausgesetzt, da Kontakte zwischen einem weiteren Mitglied der Reformer, Annadora und dem Besitzer des Etablissements 'Hort' und Mitangeklagten, Numbaka Godwin, bestanden. Dieser hatte uns für den Kampf gegen das Rechtssystem der Zitadelle ausgebildet und für verdeckte Operationen, für die wir, dank fehlender Chips, bestens geeignet waren.
Es folgte eine Schilderung der Straftaten, mit denen wir - dank Kameraaufnahmen und biometrischer Vergleiche - in Verbindung gebracht werden konnten. Klara sank dabei immer weiter in sich zusammen und Sergej starrte regungslos den Redner an. In Gedanken nahm er ihn vielleicht auseinander. Moritz’ Reaktion konnte ich nicht erkennen, weil er neben Sergej verschwand. Mir wurde bei jedem Punkt mulmiger.
Nach dem Einsatz der EMP-Bombe, der letzten dieser Straftaten, hatten die Reformer Kontakt mit uns aufgenommen. Fraglich war noch, in welchem Zusammenhang wir mit den nachfolgenden Aktionen der Reformer standen.
Der Vortrag nahm den gesamten Vormittag in Anspruch und anschließend musste erst einmal eine Mittagspause eingelegt werden. Dazu wurden wir in einen anderen Bereich des Gerichtes gebracht, auf dessen Weg uns der Reporter irgendeines Medienkonzerns auflauerte. Kamera und Mikrofon befanden sich in einem Schwebemodul über seiner Schulter. Dadurch konnte er wild gestikulieren, während er uns ausfragte.
"Wie haben Sie es wirklich geschafft, die Siks all die Jahre an der Nase herumzuführen? Gab es eine Abmachung mit korrupten Beamten?"
Einer der Siks machte sich bereits daran, ihn aus dem Weg zu schieben.
"Stimmt es, dass die Reformer in Wirklichkeit Ratsherrn Thulius unterstellt waren, der seine Macht stärken wollte?", kam es von einem anderen Reporter, der von irgendwo aufgetaucht war.
"Eisenarm, lass mal deine Muskeln spielen. Für das Publikum!", rief eine Reporterin. Für die Fans, oder um uns noch gefährlicher dastehen zu lassen?
Wir wimmelten die Reporter ab und erreichten die Kantine. Die Rufe der sensationsgierigen Presse wurden durch das Schließen der Tür erstickt. Ein Sik wies uns an, uns zu setzen und auf unsere Portionen zu warten. Als wir Platz genommen hatten, zog unser Verteidiger einen Extrastuhl heran und gesellte sich zu uns.
"Wusstet ihr, dass ihr in der Zitadelle inzwischen eine Berühmtheit seid?"
"Ja?", fragte ich, allerdings mit nur wenig echtem Interesse. Wollte er so das Eis brechen, oder was?
"Ja. Ihr habt die Reichen bestohlen und euer Diebesgut an die Armen verteilt. So wird es zumindest in dramatischeren Medienkanälen dargestellt. Das kommt bei den Bürgern an. So gut wie jeder in der Zitadelle sieht sich doch selbst als ungerecht behandelt an, oder nicht? Die Menschen in der Oberwelt sogar noch mehr als die in der Unterwelt, weil sie viel mehr haben, worüber sie sich ärgern können. Jeder wünscht sich Helden, die einem beistehen oder seine Probleme beseitigen."
"Wenn das bedeutet, dass ich auf dramatisch heldenhafte Weise in den Äußersten Ring verbannt werde, kann ich drauf verzichten", murmelte Numbaka.
Von unserem Missmut schien sich der Verteidiger nicht beirren zu lassen. Ich hatte beinahe das Gefühl, dass er nach diesem ermüdenden und anstrengenden Vormittag aufgeweckter und motivierter geworden war. "Das bleibt abzuwarten. Das Sicherheitskorps versucht verzweifelt, seine Haut zu retten und euch offensichtlich mehr anzuhängen, als ihr tatsächlich getan habt. Diejenigen, die eine gewisse Ahnung haben, was in der Zitadelle vor sich geht, wissen das. Einige Medienkanäle blasen genau in dieses Horn. Die Menschen, die es sehen, bilden sich ihr eigenes Urteil. Diejenigen, die in der Lage dazu sind, jedenfalls."
Also fiel so ein Drittel der Unterwelt weg. Doch die hatten hier eh nichts zu melden. Es gab andere, die wichtiger waren. "Wie sieht es mit den Richtern aus?", fragte ich. "Wissen die Bescheid?"
"Mit Sicherheit. Aber die sehen sich einer ähnlichen Situation gegenüber, wie das Sicherheitskorps. Wenn das alte System bröckelt, ist auch ihr Stand gefährdet. Es könnte Urteile der Vergangenheit geben, die Fragen aufwerfen würden, wenn man sie genauer untersucht."
"Mein Bruder hatte doch eine Reform des Sicherheitskorps geplant, oder?", schaltete sich Moritz ein. "Da hätte es bestimmt nicht nur etwas gebröckelt. Das kommt diesen Leuten doch sicher recht, dass er jetzt tot ist."
"Hast du mit ihm über irgendetwas in der Richtung sprechen können?", hakte ich nach.
"Nein, soweit sind wir gar nicht gekommen. Ich habe versucht, ihn mit Geschichten aus unserer Kindheit aufzulockern, aber er hat mir nichts verraten, das uns helfen könnte. Ich glaube, er hat der Sache nicht ganz getraut."
"Vielleicht hat er auch einfach nur sich selbst vertraut und keinem sonst", vermutete ich.
"Stellt genug Vermutungen an und es wird welche geben, die der Wahrheit entsprechen", bestätigte unser Verteidiger. Ich wusste nicht, ob ich es verdächtig finden sollte, dass er seinem eigenen System so kritisch gegenüber stand. Oder gehörte das einfach zu seinem Job? "Allerdings wird euch das nicht retten. Wie in allen Bereichen der Zitadelle gibt es auch unter den Richtern solche und solche. Wenn ihr Glück habt, ist heute niemand mit dabei, der eine Gefahr in Thulius gesehen hat, aber ..."
"Bedeutet das, dass wir aus dieser Sache noch heil herauskommen können?", unterbrach ich ihn. "Ich will wirklich nicht ins Gefängnis. Ich habe keine tollen Dinge gehört ..."
"Gibt es im Gefängnis eigentlich auch Tiere?", fragte Klara, die bis dahin stumm geblieben war.
"Tiere?" Er sah Klara verwirrt an. "Ich weiß es nicht. Es kommt ja niemand zurück, um davon zu berichten. Wir haben Tiere in der Zitadelle, also ist es nicht unmöglich, dass es auch welche in den Ring geschafft haben." Er machte eine Pause, schüttelte die Verwirrung der unerwarteten Frage ab. "Auch was den Ausgang der Verhandlung angeht, kann ich nichts mit Sicherheit sagen."
"Haben wir denn eine Strategie", fragte Numbaka müde.
Der Verteidiger verzog das Gesicht. "Das kommt drauf an, für wen von euch."
"Was bedeutet das?", brummte Sergej. "Kleine Kinder werden begnadigt, fiese Schläger wandern in den Bau?"
Ich warf ihm einen mahnenden Blick zu, den er hoffentlich verstand. "Sergej, das ist nicht hilfreich."
"Ganz unrecht hat er aber nicht", sagte der Verteidiger. "Das Hauptargument der Verteidigung wird darauf beruhen, dass ihr in vielen Bereichen keine Wahl hattet und in eure Situation durch das Verschulden anderer geraten seid. Das Argument wirkt natürlich besser bei den beiden Kindern. Für sie ist es generell wahrscheinlicher, dass sie von der Verbannung in den Äußersten Ring verschont werden. Falls es keine schlagenden Argumente gibt, dass ihr nicht doch den Reformern zugespielt und sie im Attentat und dem Angriff unterstützt habt."
"Die gibt es nicht, weil wir es nicht getan haben", sagte ich mit Nachdruck.
"Na dann, Kopf hoch. Seht, da kommt euer Mittagessen."
Der dampfende Inhalt der Synthetikschüsseln, die von zwei Kantinenangestellten gebracht wurden, sah bereits besser aus, als der Fraß, den ich in der Zelle genießen durfte. Diese Mahlzeit roch und schmeckte sogar nach etwas. Während des Essens tauschten wir uns über die Geschehnisse aus, seitdem wir uns am Platz der Ratsherrschaft getrennt hatten. Besprachen mögliche Beweise, die unser Verteidiger in letzter Sekunde vielleicht noch heranziehen konnte. Er machte Notizen auf seinem tragbaren Medienpanel und schickte Befehle an seine Assistenten aus, damit sie nach Beweismaterial suchen konnten. Dass wir unseren Verteidiger erst während der Verhandlung zu sehen bekamen, verpasste uns einen entscheidenden Nachteil. Unsere Widersacher nutzen jedes Mittel, um uns zu verbannen.
Wir überlegten, ob es einen Unterschied machte, wenn bewiesen werden konnte, dass Moritz wirklich Thulius Bruder war, sahen aber keinen wirklichen Nutzen. Jetzt, da er tot war, konnten wir weder auf seine Hilfe in dieser Verhandlung hoffen, noch würde es uns weitere Informationen verschaffen. Und allein das Wissen war den Aufwand nicht wert, den es bedurfte, um die bürokratischen Hürden für einen DNA-Vergleich zu überwinden.
Die Mittagspause endete und erneut mussten wir uns durch Scharen von Reportern kämpfen, die wie zuvor ähnliche, aus der Luft gegriffene Fragen stellten.
Im Saal begann die Beweisführung der Anklage, falls man das so nennen konnte. Ein beleibter Mann in weißem Anzug wies anhand von Schaubildern und Statistiken auf dramatische Weise nach, welchen Schaden unsere Raubzüge angerichtet hatten. Das Ganze wurde auf mehreren großen Medienpanels im Saal angezeigt und an jedes Medienpanel übertragen, das sich in die Verhandlung eingeklinkt hatte. Neben dem entstandenen Mangel bei den eigentlichen Adressaten der Lieferungen und Ersatzteile, wurde der Schaden über die eingereichten Klagen bis zur geschätzten gesunkenen Lebenserwartung der Beamten hochgerechnet, die sie bearbeiten mussten. Der materielle Gegenwert wurde auf den Sachschaden aufgerechnet, den wir verursacht hatten. Die Summe wuchs in schwindelerregende Höhen, deren tatsächliche Ausmaße ich aber nur raten konnte. Wir hatten die meiste Zeit in der Zitadelle verbracht, ohne mit Geld oder einem Gefühl für seinen Wert in Kontakt zu gekommen zu sein.
Dann kam die Beweisführung zum Einsatz der EMP-Bombe, die Summe des Schadens vervielfachte sich und als Überleitung zum Thema Reformer wurde unser Gespräch mit Annadora angezeigt. Es ist immer merkwürdig, wenn man seine eigene Stimme auf einer Aufnahme hört, da sie dort so anders klingt, als im eigenen Kopf, wenn man spricht. Das war aber nicht der Grund, der mich beim Verfolgen des Dialogs zur Unruhe trieb, sondern der Inhalt, der nicht mit dem übereinstimmte, was ich in Erinnerung hatte. Im Wechsel erschienen mein Gesicht und Annadoras auf dem Bildschirm, der Untertitel wiederholte, was wir sprachen.
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Adler: "Das war sehr geschickt, unseren Einsatz zur Platzierung einer politischen Botschaft zu nutzen. Und uns mit in den Abgrund zu reißen. Die Siks sind schon auf dem Weg in die Minen und dieses Gespräch kann ihnen auch nicht entgehen."
Reformer: "Keine Sorge, das gehört alles mit zur Show. Die Bekennerbotschaft stammt natürlich von uns, gespickt mit Hinweisen, welche die emsigen Ordnungshüter in die Minen führen sollen. Damit ist der Weg in die oberen Etagen nicht mehr so stark gesichert."
Reformer: "Die Systeme der Zitadelle werden ausfallen und alle hier drinnen werden sterben. Nicht sofort, es ist eher ein schleichender Prozess. Die gehäuften Unfälle, welche in letzter Zeit Opfer unter den Minenarbeitern gefordert haben, sind nur der Anfang. Eine Fehlmischung in der Nahrungsversorgung, die zu Konzentrationsschwierigkeiten führt, weil die Leute abhängig von den fehlenden Inhaltsstoffen sind. Die Luftversorgung wird schlechter, weil die Systeme so alt sind. Die Ressourcen, die wir aus dem Boden holen können oder selbst produzieren, reichen nicht aus, um alle Mängel zu beheben."
Adler: "Deswegen der Angriff auf den Rat in der Medienbotschaft?"
Reformer: "Ja. Der Rat ist blind. Seit vierzig Jahren sind wir von der Außenwelt abgeschnitten. Keiner kann genau sagen, warum und keiner hinterfragt es, zumindest nicht ernsthaft genug, um den Rat zu einer Antwort zu bewegen."
Adler: "Und jetzt wollt ihr genug Schaden anrichten, um den Rat dazu zu zwingen, dass er die Tore öffnen muss, um draußen nach neuen Ressourcen zu suchen?"
Reformer: "Nein, unser Plan sieht vielmehr vor, die Position der aktuellen Ratsmitglieder zu schwächen. Es laufen gerade die Vorbereitungen zu Neuwahlen. Es wird Zeit, dass Ratsmitglied Thulius in den Ruhestand geht und jemand seinen Platz einnimmt, der weniger konservativ ist."
Reformer: "Wir haben schon lange nach einem Weg gesucht, die Chips loszuwerden. Bei den Freiwilligen, bei denen wir es anfangs versucht haben, hat die Operation bleibende Schäden in verschiedenen Bereichen hinterlassen. Deswegen haben wir diesen Weg aufgegeben."
Reformer: "Hier kommt ihr ins Spiel. Ihr besitzt keine ID und seid zudem jung. Nach dieser Mission verfügt ihr über 4 Chips, die ihre Gültigkeit nicht verlieren werden. Dafür wurden Vorkehrungen getroffen. Ich gehe davon aus, dass ihr sie so einsetzen könnt, wie ihr es seit einiger Zeit plant."
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Ein Schauer lief mir den Rücken hinab und gesellte sich zum Unwohlsein, als ich der Wiederholung unseres Gesprächs lauschte. Sie hatten zwar an den gesprochenen Worten nichts geändert, aber wichtige Stellen weggelassen! Jetzt erschien das Gespräch in einem ganz anderen Licht. Ich hörte, wie Sergej fluchte, und der Ankläger griff das Ende des Dialogs auf und verpasste ihm gleich die, in seinen Augen, einzig wahre Interpretation.
"Der Junge, Moritz, hat nach diesem Gespräch vorgegeben, Thulius' jüngerer Bruder zu sein. Mit einem vorgetäuschten Attentat und anschließender Rettung versuchten sie, sein Vertrauen zu erschleichen und in die Kreise des Ratsmitglieds zu gelangen. Der Angriff auf das Tor war ebenfalls ein Vorwand, um das zu verstärken. Adler sollte die Überlebenden Einheiten des Sicherheitskorps aufhalten, während Thulius und der Junge mit dem Reformer allein am Tor konfrontiert wurden. Der Junge hätte die Situation gelöst und wäre in den Augen Thulius und der anderen Zeugen zum Helden aufgestiegen. Eine ideale Ausgangslage für eine Karriere in der Oberwelt. Sie hatten aber nicht mit Thulius' Heldenmut gerechnet, der sich selbst opferte, und mit dem Eintreffen des Sicherheitskorps, das der Situation schließlich ein Ende bereitet hat."
Er hielt inne, um es wirken zu lassen.
"Der restliche Plan sah die gezielte Sabotage der Zitadelle und das Aufklären durch diese Terroristen vor, an dessen Ende die tatsächliche Öffnung des Tores und der Untergang der Zitadelle gestanden hätten."
Er ließ eine weitere Pause.
Dann folgte ein weiterer Medieneinschub, in dem ich mit dieser Aussage konfrontiert wurde und alles gestand. Das war eine Szene aus dem Verhörraum, in dem mir allerdings eine ganz andere Frage gestellt worden war.
Es gab nur wenige Momente in meinem Leben, in denen ich wirklich zornig geworden war. Das war einer davon. Mein Puls raste und das Blut rauschte in meinen Kopf. "Das ist eine Lüge!", schrie ich, während ich aufsprang. Vielleicht wäre ich sogar auf den Ankläger zugerannt und hätte ihn angesprungen, doch die kräftigen Arme zweier Siks rissen mich zurück in den Sessel. Ich spürte einen Stich im Hals. Ich versuchte, mehr zu sagen, doch meine Stimme versagte. Ich blickte mich um. Auch die anderen blieben stumm.
"Als einzig mögliche Strafe im Angesicht dieser Taten kann nur eine Verbannung in den Äußersten Ring erfolgen!", forderte der Ankläger. Damit war seine Redezeit beendet und unser Verteidiger war an der Reihe.
Er ging nach vorne, verneigte sich vor den Richtern und vor den Zuschauern und sprach nur einen einzigen Satz:
"Die Verteidigung nimmt demütig jedes Urteil an, das die ehrenwerte Richterschaft für angemessen erachtet."
Der Zorn verebbte und mir wurde stattdessen eiskalt. Es war alles nur ein Scheinprozess gewesen! Keine Zeugen waren aufgerufen worden. Die Indizien waren nicht mehr als Augenwischerei und Betrug. Ich wollte aufstehen und diesmal unseren Verteidiger anschreien und schlagen, aber die Injektion, die mir erst die Fähigkeit zu sprechen genommen hatte, sorgte jetzt dafür, dass mein Körper immer ruhiger wurde. Der Saal um mich herum und die Besucher verschwammen zu Schlieren. Mir war bewusst, was da passierte, aber ich hatte plötzlich keine Motivation mehr, mich zu wehren, sondern gab mich mit einem Gefühl der Zufriedenheit meinem Schicksal hin.
Ich erblickte Klara und sah, wie ihr Tränen die Wangen herabliefen, und verstand nicht warum. Einer der drei Richter, der in der Mitte, hatte etwas vom Äußersten Ring gesagt. Die anderen Menschen im Saal klatschten und ich konnte nicht anders, als mich mit ihnen zu freuen. Dem Mann in der schwarzen Uniform, der mich am Arm ergriff, lächelte ich zu, als er mich aus der Sitzreihe zog.
Dann waren die Gesichter nur noch hautfarbene Flecken, deren Merkmale ich nicht mehr ausmachen konnte. Nach dem ersten Versuchen, meinen Blick auf sie zu fokussieren, gab ich es auf. Ihre Kleidung verwandelte sich in bunte Striche und nach einer Weile bildeten sie zusammen mit den Gesichtern und dem Hintergrund, nur noch eine Anordnung von Farbklecksen, die keinen Sinn mehr ergaben.
Aber es war mir egal. Ich träumte. Was konnte mir in einem Traum schon passieren? Ich ließ mich treiben und versank ganz im Schlaf, den ich mir nach all den Strapazen auch verdient hatte.