Die Hitze wich unvorstellbarer Kälte und ich schlug die Augen auf.
Fahles Licht fiel durch die schneebedeckten Bäume, die mein Auto umringten. Ich packte den Türgriff und drückte, doch die Tür blieb verschlossen. Ich rüttelte daran und als sie nicht nachgab, warf ich mich dagegen. Es half nichts. Durch den Aufprall musste sie sich verzogen haben.
Ich sah mich nach einer anderen Möglichkeit um, wie ich mein Auto verlassen konnte, bis mein Blick auf die Frontscheibe fiel, die auf der rechten Seite gesplittert war und dort nur noch von den Folien des Sicherheitsglases im Rahmen gehalten wurde. Ich kletterte auf den Beifahrersitz, rutschte, so tief ich konnte, nach unten und trat mit beiden Füßen nach der Scheibe. Solange, bis sie knirschend nachgab und mein Weg nach draußen frei war. Ich hatte wirklich Glück gehabt, dass ich mir bei dem Unfall meine Beine nicht gebrochen hatte, oder ähnlich Schlimmes.
Ich kletterte aus dem Wagen und stolperte die Böschung hinauf, die ich hinabgestürzt war, nachdem ich die Kontrolle verloren hatte. Das war ein ganzes Stück und als ich unterwegs nach unten blickte, konnte ich nicht anders, als meine Aussage zu bestätigen. Ich hatte verdammtes Glück gehabt.
Oben stand ein Krankenwagen. Meine Augen mussten etwas abbekommen haben, denn statt den gewohnten Farben, erblickte ich ihn nur in Schwarz und Weiß. Das Blaulicht war, wie der Rest der Umgebung, eingefroren, und warf nur einen blassen monochromen Schein in die Richtung, die nicht verdeckt war. Hier oben auf der Straße, durch das Fehlen der Baumkronen ungeschützt, schneite es noch immer. Falls man das so sagen konnte, denn die Schneeflocken hingen reglos in der Luft. Ich pickte eine heraus und statt zwischen meinen Fingern zu schmelzen piksten mich die winzigen Spitzen des Eiskristalls. Ich musste die Flocken beiseiteschieben, um weiterzukommen, so wie ein Schwimmer das Wasser teilt.
Wohin bewegte ich mich eigentlich?
Ich fühlte mich verloren. Dieses Gefühl überschattete sogar die Merkwürdigkeit, welche diese Szene an sich schon bot. Ich sah mich nach einem Anhaltspunkt um. Ich wusste, wenn ich der Straße weiter ins Tal folgte, würde ich die Stadt erreichen, in der ich wohnte, ging ich nach oben, erreichte ich ein kleines Dorf.
Ich erinnerte mich, dass ich diesen Traum früher oft gehabt hatte. Ich rutschte mit meinem Wagen auf dem Eis, verlor die Kontrolle und stürzte in die Tiefe. Ich wartete sterbend auf Rettung und hörte am Ende noch, wie der Krankenwagen kam. Danach war er vorbei.
Dieser Teil jedoch war neu.
Ein Schneehörnchen huschte an mir vorbei, bis zum Rand der Straße, gegenüber der Stelle, an der ich abgestürzt war. Es blieb stehen und sah mich herausfordernd an. Zumindest schloss ich das aus meiner jahrelangen Erfahrung in der Kunst des Erkennens von Nagetiermimik. Ich ging behutsam auf das Tier zu und entdeckte, als der Schneefall zwischen den Bäumen schwächer wurde, hinter ihm einen Weg, der tiefer in den Wald führte. Ich war diese Strecke als Jugendlicher oft zu Fuß gegangen und dieser Weg war mir noch nie aufgefallen. Als ich das Tier fast erreicht hatte, flüchtete es den Weg entlang, und ich beschleunigte meinen Schritt, damit ich nicht abgeschüttelt wurde.
Irgendwann erreichte ich eine Feuerstelle, in der die Wärme verheißenden Flammen in der Zeit eingefroren waren, wie alles andere außer dem kleinen Nager und mir. Ich streckte dennoch meine Hände darüber, um sie zu wärmen, aber nichts geschah. Mir war immer noch kalt. Dieser kleine Moment der Unachtsamkeit hatte ausgereicht, damit das Schneehörnchen verschwinden konnte. Ich drehte mich im Kreis, suchte den Boden und die Baumstämme ab, aber es war weg.
Das hatte keinen Sinn, wenn es von mir gefunden werden wollte, würde es schon wieder auftauchen. Ich entschied mich, hier zu verweilen, und hoffte, dass das Feuer doch noch eine Wirkung zeigte.
Ich musste schon einige Minuten mit ausgestreckten Armen neben dem Feuer gestanden haben und war mit meinen Gedanken an einem weit entfernten, warmen Ort, als ich von einer Bewegung aufgeschreckt wurde. Aus dem Dickicht trat Klara an das Feuer. Sie war so alt, wie ich sie zuletzt in Erinnerung hatte und an ihre Beine schmiegte sich ein Schaf.
"Hallo Daniel", begann sie. Ich wollte antworten, aber sie fuhr fort. "Du siehst echt schlimm aus." Ja, ich glaubte, dass ich mir doch die Beine bei dem Unfall gebrochen hatte. Zumindest war das in den anderen Versionen des Traums immer der Fall gewesen. Dennoch konnte ich diesmal laufen. Aber warum sagte sie mir das, wenn es sowieso nur ein Traum war?
Es sah nicht so aus, als ob sie auf eine Reaktion gewartet hatte, als sie weitersprach. "Weißt du, ich gebe dir keine Schuld daran, was passiert ist. Ja, ich habe meine Familie verloren und ich vermisse meine Eltern heute immer noch so sehr, wie ich sie am ersten Tag vermisst habe. Ich war die jüngste von sechs und sie hatten wenig Zeit für mich, doch die Zeit, die sie sich für mich nahmen, habe ich immer genossen. Ich habe wirklich lange gebraucht, bis ich ihren Verlust verschmerzt habe. Aber ihr seid in den letzten Jahren meine neue Familie geworden." Sie blickte an die Stelle, an der eben noch das Schneehörnchen gelaufen war, und vergrub dann ihre Finger im Fell des Schafs. "Und die Tiere. Hier gibt es viel mehr Tiere, als in der Zitadelle, das ist großartig. Wenn ich dir nicht gefolgt wäre, hätte ich nie ihre Stimmen gehört. Ich denke, dass ich am Ende mehr gewonnen als verloren habe." Eine Pause folgte und Klara blickte gedankenverloren in das Feuer, das stumm und starr vor sich hin brannte. Dann sah sie mich wieder an, mit festem Blick. "Deswegen will ich dich nicht auch noch verlieren. Du musst bei uns bleiben. Du bist unser Freund. Für die anderen musst du der Held werden, den sie bereits in dir zu sehen beginnen. Sie setzen ihre Hoffnungen in dich, dass der Ring zu einem friedlicheren Ort wird."
Klara lächelte, drehte sich um und trat zwischen die Bäume. "Komm bald zurück", hallte es aus der Ferne und ihre Gestalt verblasste, als sie im Unterholz verschwand.
Sergej stand neben mir. Er musste über denselben Weg gekommen sein, der auch mich hierher geführt hatte.
"Hey", begrüßte er mich knapp. "Das war echt eine knappe Sache, die du da abgezogen hast. Tut mir leid, dass wir nicht rechtzeitig da waren, um dir zu helfen. Es tut mir wirklich leid. Ich mein, früher hätte ich dir so etwas gewünscht, für das, was du meiner Familie angetan hast. Ich hätte mit keiner Wimper gezuckt und dich einfach verbrennen lassen. Aber jetzt, wo ich dich so sehe, bereue ich es. Ich weiß, dass du, genauso wie ich oder die anderen, das Opfer einer Sache geworden bist, auf die keiner von uns Einfluss haben konnte. Meine Wut auf dich zu richten, war falsch. Genauso, wie den Groll so lange aufrechtzuerhalten. Ich hoffe, du kommst zurück, dann können wir zusammen einen trinken und Frieden mit der ganzen Sache schließen. Wenn wir damit fertig sind, ziehen wir los und treten den Idioten im Ring und in der Zitadelle kräftig in den Arsch."
Als Sergej wieder ging, fragte ich mich, ob es wirklich ihre Gedanken waren. Oder waren das genau die Sachen, die ich hören wollte, damit ich Frieden mit mir selbst schließen konnte? Sozusagen als Vorbereitung, um danach meine letzte Reise anzutreten.
Nach und nach erschienen die anderen. Numbaka, der sich inzwischen von den Strapazen der Verbannung erholt hatte, Moritz und Cass, die trotz ihres eigenen Glücks so traurig über meinen Zustand schienen.
Aber das waren nicht alle, es kamen noch mehr. Leute aus der Siedlung, mit denen ich noch kaum etwas zu tun gehabt hatte. Aber sie alle hegten aus irgendeinem Grund den Wunsch, dass ich zurückkehrte. Nur, wohin? Wohin sollte ich denn gehen? Zurück zur Unfallstelle? Hinab in die Stadt und in meine Wohnung, falls ich sie dort noch vorfand. Während ich mir darüber den Kopf zerbrach, kam Ruiz vorbei.
"Es tut mir leid, dass es so ausgehen musste. Du hast dich wacker geschlagen und bist kämpfend untergegangen. Das haben wir gesehen, nachdem wir das Feuer gelöscht haben. Du hast den Schlitzer zur Strecke gebracht und den Alchemisten. Ich weiß, wem du gegenübergestanden bist. Hätte ich das vorher gewusst, wären wir die Sache anders angegangen. Aber es ist noch nicht alles verloren. Du kannst immer noch zurückkommen. Deine Freunde warten auf dich. Und du musst doch immer noch zum Zylinder und die Wahrheit herausfinden. Kannst du diese Welt wirklich verlassen, ohne die Wahrheit zu kennen? Denk darüber nach!"
Dann ging auch er und ihm folgte niemand mehr, der sich zu mir ans Feuer gesellen wollte. Der Zylinder ... sollte der mein eigentliches Ziel in diesem Traum sein? Befand er sich zur Zeit meines Unfalls schon in der Stadt? Ich wusste es nicht. Aber ich hatte auch keine Idee, was ich jetzt tun sollte, also konnte ich auch nachsehen.
Ich ging den Pfad zur Straße zurück und fand die Szene so vor, wie ich sie zurückgelassen hatte. Ich berührte den Krankenwagen, weil mir das richtig erschien, und er erwachte zum Leben. Das Heulen der Sirene schrillte durch die Nacht. Es war der einzige Ton, den ich hörte, alles andere blieb stumm. Da niemand auftauchte, um sich über den Lärm zu beschweren oder mich vom Wagen wegzujagen, setzte ich mich hinter das Steuer und fuhr die Straße hinab in die Stadt.
Hinab zum Ort, an dem sie einst gestanden haben musste. Statt ihr fand ich nur noch Ruinen vor. Doch es war meine Stadt. Ich fuhr über die den Rest der Straße, wich Schlaglöchern und Bäumen aus, die durch den Asphalt gebrochen und in die Höhe gewachsen waren. Ich kam an einigen Gebäuden vorbei, die ich nur noch anhand der Größe und Form wiedererkannte. Eine unserer drei Kirchen, im gotischen Baustil, das größte Hochhaus der Stadt und das Krankenhaus. In der Ferne ragte bedrohlich und weit über die Trümmer, der Zylinder auf.
Je näher ich ihm kam, desto schlechter wurde der Zustand der Straße und der Häuser. Irgendwann wurden Schutt und Vegetation zu dicht und ich musste den Krankenwagen zurücklassen. Zu fahren war ohnehin ein Luxus gewesen, der mir seit Jahren vergönnt war, und ich legte den Rest zu Fuß zurück.
Bald waren die Häuser nicht mehr von Schäden gekennzeichnet, die dem natürlichen Verfall geschuldet waren. Es sah so aus, als seien sie systematisch abgetragen worden. Irgendwann gab es überhaupt keine Gebäude mehr, ein Stück weiter war auch nichts mehr von den Straßen zu erkennen, und schließlich schien es, als hätte jemand auch im Boden gegraben. In Stufen hatte sich ein Kreis um den Zylinder gebildet, der tiefer hinabführte, als es der Krater in meiner Erinnerung getan hatte. Einige Meter über mir konnte ich den Eingang ausmachen, über den wir dieses unsägliche Ding einst betreten hatten.
Die Stufen führten zu einem Riss in der Außenhülle. Ich zögerte nicht und trat einfach ein. Schließlich träumte ich, was hatte ich schon zu verlieren?
Das Innere war dunkel. Ich berührte eine der Wände und spürte, wie Energie hindurchfloss. Ich gab den Befehl und die Wände wurden hell. Zumindest etwas heller. Eine Erdschicht bedeckte den Boden und dicke Spinnweben die Wände, durch die das Licht nur diffus hindurchdringen konnte. Ich schritt weiter, in Richtung der Mitte des Zylinders, wo sich meiner Erinnerung nach der Aufzug befinden musste.
Ich erreichte den Schacht. Es gab kein Bedienfeld, um den Aufzug anzufordern, also berührte ich die Wand. Genau wie das Licht einzuschalten, stellte das Rufen des Aufzugs kein Problem da. Kein Widerstand der KI, keine Barrieren, die es zu überwinden galt. So hätte es ablaufen müssen, als wir das erste Mal hier waren.
Der Aufzug kam und beförderte mich in die Etagen, in denen sich die Kapseln befanden. Was erwartete mich dort? Welche Bilder würde mir mein Verstand zeigen?
Im Gegensatz zur Etage, auf der ich den Zylinder betreten hatte, war es hier erstaunlich sauber. Als ein kleiner Reinigungsroboter an mir vorbeifuhr, wusste ich warum. Auf den glasklaren Wänden blitzen Datenströme entlang. Das war sonderbar. Ich hatte den Eindruck, als wären sie synchron zu meinen eigenen Gedanken. Unheimlich.
Ich tat einen Schritt und der Gang blitze auf. Mit jedem Schritt, der mich näher zu meinem Bestimmungsort führte, flackerte der ganze Gang, heller und heller. Als ich den Raum mit den Kapseln erreichte, bebte ich vor Spannung und die Lichter zitterten.
Ich sah die Kapseln. Einige waren belegt, einige leer und diejenigen, die bei unserem Kampf damals beschädigt wurden, waren es auch jetzt noch. Genau wie in meiner Erinnerung oder der Aufzeichnung von Numbaka.
Doch eine Sache war anders.
Auf der rechten Seite stand, einem Thron gleich, ein mechanischer Stuhl. Darauf saß, in erhabener Haltung und mit geschlossenen Augen, der Eiszombie.
Er schlug die Augen auf und starrte mich an.
Wäre mein Körper real gewesen, aus Fleisch und Blut, wäre mir Letzteres mit Sicherheit gefroren.