Wir saßen gemeinsam vor dem großen Fensterbereich der Kuppel. Klara im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen auf einer roten Decke, die sich vom Grün des Grases abhob, dessen plattgetretene Halme sich inzwischen knisternd wieder aufrichteten. Sergej und ich hatten uns gegen das Fenster gelehnt und blickten in Richtung der Siedlung, um möglichen Besuchern zeigen zu können, dass sie nicht erwünscht waren.
"Ich habe gleich den Hang erreicht, bis hierher liegt immer noch Schnee", flüsterte Klara.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Ich war mir unsicher, welches Ergebnis ich erwartete. Stimmte mein Traum und wir waren lediglich Spielfiguren in der Rettung der Menschheit oder würden wir, wenn auch die Welt hinter dem Hang in tödliches Weiß gehüllt war, die Suche nach unserer Vergangenheit fortsetzen?
"Oh!", rief sie aus. "Das glaubt ihr sicher nicht!" Dann schwieg sie.
"Spann uns nicht auf die Folter!", drängte Sergej. Er hatte sich einen Grashalm in den Mundwinkel gesteckt, wie ein grimmiger Westernheld.
"Es ist Sommer und alles ist grün." Klara gluckste. "Das ist fast, als ob man eine magische Grenze überquert und in ein geheimnisvolles Reich geraten wäre."
Sie hatte einen der umherstreifenden Wölfe eingefangen und mit ihm den weiten Weg bis zum Rand des Tals zurückgelegt, in dem sich die Zitadelle befand. Es war verblüffend, über was für eine Entfernung sie noch mit dem Tier kommunizieren konnte.
"Also war das Ganze kein Traum und ich habe es tatsächlich geschafft, über das Netzwerk der Zitadelle und einen Satelliten mit dem Eiszombie in seinem Zylinder zu sprechen", stellte ich fest. Jetzt hatte ich meine Antwort und wusste nicht, ob sie mir gefiel.
Sergej gab einen brummenden Laut des Missfallens von sich. "Also sind alle unsere Erinnerungen falsch? Nur eine Geschichte, um uns zu einer Gruppe zusammenzuschweißen und als Werkzeuge für einen Außerirdischen zu dienen, der seit Jahrzehnten in seinem Turm verrottet?"
"Ich denke nicht, dass alles falsch ist", warf ich ein. "Die Thages können unmöglich von unserem Leben gewusst haben, von unseren Familien und unserer Stadt. Ich denke, dass das meiste meiner Erinnerungen wirklich mir gehört. Alles, was nicht mit dem Zylinder zu tun hat."
"Aber wissen können wir es nicht." Sergej spuckte den Grashalm aus und verschränkte die Arme.
"Also ich finde meine Erinnerungen ganz gut. Außer, die vom Zylinder", sagte Klara kleinlaut.
"Du hast ja auch eine tolle Fähigkeit bekommen, als sie dir die Gehirnwäsche verpasst haben", beklagte sich Sergej.
"Jeder von uns hat Fähigkeiten erhalten", korrigierte ich ihn.
"Ach ja? Was soll denn meine tolle Fähigkeit sein, mal abgesehen davon, dass ich mit dem Ding hier rumlaufen muss?" Wie um den Göttern zu drohen, die ihm dieses Schicksal zuteilwerden ließen, streckte er seine künstliche Faust gen Himmel.
"Du hast einen besonders harten Schädel?", scherzte Klara.
"Komm her und du bekommst ne Kopfnuss!"
"Uh, fang mich doch!", rief Klara lachend, sprang auf und war sofort von einem schützenden Meer an Schafen umgeben.
"Laut dem Eiszombie trägst du die Essenz des Kriegers in deinem Körper", erklärte ich. "Was das auch immer bedeuten mag. Dass du dich gerne und auch erfolgreich mit anderen Leuten anlegst, steht außer Frage. Möglicherweise hältst du auch besonders viel aus oder …" Ich machte eine Pause, als ich mich an etwas erinnerte, "… heilst schneller. Nachdem wir die Chips gestohlen haben und geflohen sind, hast du doch einiges abbekommen, oder nicht?"
"Ja, habe ich. Der Captain hat mir ein paar üble Schläge verpasst und unterwegs haben ein paar Siks versucht, mich zu betäuben."
"Warst du danach in einem MedCenter und hast dir etwas gegen die Wunden geben lassen?"
"Nein, Klara hat mir nur ein paar Verbände angelegt, weil es doch nicht so schlimm war."
"Und als wir nach oben sind, um Thulius zu treffen, warst du schon wieder vollkommen fit. Ich will damit jetzt nicht sagen, dass du dich achtlos in die Schusslinie werfen kannst, aber ich denke, dass in dir bestimmt noch mehr versteckt ist, als du ahnst."
"Meinst du seinen weichen Kern? Den kennen wir doch alle." Klara rannte kichernd in Reichweite von Sergejs Armen an ihm vorbei, bereit, blitzschnell einem Klaps auszuweichen. Doch Sergej sah so aus, als dächte er über meine Worte nach und ignorierte sie.
"Und was ist mit dir? Du brauchst doch den Handschuh, um Dinge zu bedienen. Ähnliche Werkzeuge besitzen sie in der Oberwelt auch, wie wir jetzt wissen. Wie macht dich deine Essenz wirklich besonders?"
"Ich weiß nicht genau, wie es andere Menschen wahrnehmen, wenn sie mit ihren Gedanken eine Tür öffnen. Aber so wie ich das verstanden habe, ist das eine einseitige Verbindung. Sie wissen nicht, ob es erfolgreich war, wenn sie einem Aufzug den Befehl gegeben haben, nach Etage sowieso zu fahren, bis er sich schließlich in Bewegung setzt und es anzeigt." Ich hielt meine Hand gegen das Sonnenlicht, dass durch die Glaskuppel auf uns fiel und bewegte meine Finger. "Wenn ich den Aufzug berühre, kann ich nicht nur mein Ziel angeben und erfahren, dass er sich in Bewegung setzen wird, sondern weiß in einem Sekundenbruchteil ebenfalls, wie warm es darin ist, wohin sich die anderen Aufzüge nebenan bewegen und wer die letzte Stunde damit gefahren ist. Ich könnte, wenn ich wollte, auch mitten in der Fahrt das Licht dimmen, den Aufzug anhalten und eine nervige Fahrstuhlmelodie abspielen lasen. Und dazu müsste ich noch nicht einmal viel nachdenken." Ich blickte Klara hinterher, die mit den Schafen um die Wette lief, während ich fortfuhr. "Das alles ist seit meinem Auftau-Szenario immer einfacher geworden. Jetzt habe ich es sogar geschafft, über das Netzwerk der Zitadelle mit dem Eiszombie zu kommunizieren, der sich wer weiß wie weit von uns befindet, also stellen nicht einmal dessen Sicherheitsmaßnahmen noch ein Hindernis für mich dar. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie genau ich das geschafft habe."
Ich zuckte mit den Schultern, dann schob ich mich etwas von Sergej weg. "Und seit meiner Reparatur habe ich noch einen neuen Trick auf Lager. Zeig mal mit der Hand deiner Prothese auf mich."
Sergej gehorchte, streckte beiläufig seinen Arm in meine Richtung, während er zusah, wie die weiße Welle der Schafe den Hügel hinaufschwappte. Als sein Unterarm, wie in einem Roboterdiskotanz, ruckartig nach unten klappte und dort hin und her schwang, sah er zuerst erstaunt seinen Arm und dann meinen ausgestreckten Finger an.
Ich grinste.
"Machst du jetzt dasselbe mit Maschinen, was Klara mit den Tieren macht? Die Verteilung der Fähigkeiten wird immer unfairer. Ich dachte, du wolltest mich aufbauen."
Ich lachte und machte seinen Versuch zunichte, mich vorwurfsvoll anzustarren.
"Nein, so kann ich keine Maschinen steuern. Dr. Pfaff sollte eigentlich nur meinen Handschuh reparieren, hat aber einen der Sender darin eingebaut, wie ihn die reichen Kids in der Oberwelt in ihren Chipmodulen haben. Damit kann ich Befehle an Geräte mit einem entsprechenden Empfänger senden. Sehr simpel und ohne die Tricks, die mir bei einem direkten Kontakt möglich wären. Ich kann aber auch einen gezielten elektromagnetischen Impuls auf die Elektronik eines Gerätes loslassen, das dann einfach seinen Geist aufgibt oder unvorhergesehen reagiert."
"Ich hoffe, du kommst nicht auf die Idee, das bei mir zu tun, wenn es brenzlig wird."
"Nein, du bist schließlich mein Freund."
"Da bin ich beruhigt." Sergej bewegte seinen Arm, der ihm jetzt wieder gehorchte, und ich konnte ihm ansehen, dass ihm dennoch etwas unbehaglich zumute war.
"Hey, das meine ich ernst. Du bist mein Freund. Wenn auch unsere Erinnerungen an die Zeit vor der Zitadelle nicht stimmen, haben uns die Jahre hier doch zusammengeschweißt."
"Ja das haben sie", gab er zu. "Immerhin kann ich jetzt sicher sein, dass du nichts mit dem Tod meiner Familie zu tun haben konntest. Ich weiß ja nicht einmal, ob wir uns davor jemals begegnet sind oder überhaupt zur gleichen Zeit gelebt haben."
"Ich denke, dass wir das niemals erfahren werden. Vielleicht geben unsere Akten etwas über unseren Wohnort her, aber was hilft uns das am Ende wirklich? Ohne klare Erinnerung sind das nur ein paar Worte auf einem Stück Papier."
Sergej nickte. "Zumindest wissen wir jetzt, dass wir es nie genau erfahren werden. Ich versuche, meinen Frieden damit zu schließen."
"Das ist ein guter Vorsatz", stimmte ich ihm zu. "Ich habe gedacht, dass das Wissen über meine Vergangenheit irgendwie das Ende meiner Reise sein würde, vielleicht den Typen in der Zitadelle noch eins auswischen, aber danach hätte ich keine Ahnung mehr gehabt, was ich tun soll. Den Helden für die Leute im Ring spielen?" Ich lachte trocken. "Um zum Zylinder zu gehen, brauche ich El Robo jetzt nicht mehr. Den Leuten, die uns hierhergeschickt haben, will ich immer noch einen Denkzettel verpassen. Aber das ist erst der Anfang."
"Und mit El Robo geht das, meinst du? Willst du alleine rüber? Und wie kommst du hinein?"
"Ich denke, wir können alle gehen. Wenn es draußen nicht so kalt ist, wie uns immer weiß gemacht wurde, können wir durch einen der Tunnel zurückkehren, die Zitadelle und Ring verbinden. Die Tunneleingänge sind, anders als das Tor in die Außenwelt, nicht versiegelt, und wir sollten sie öffnen können. Mit meiner Fähigkeit oder zur Not mit Gewalt."
"Für etwas Gewalt bin in ich zu haben." Sergej hieb mit seiner Prothese eine Schneise durch den Boden. "Nach deiner letzten Aktion haben sich alle anderen Banden ja erst mal verkrochen. Das war richtig langweilig."
"Die Frage ist nur, wer dort drüben das wirkliche Ziel ist." Ich lehnte mich wieder gegen das Panzerglas, legte den Kopf zurück und starrte zur Kuppel hinauf, über der wohlgeformte Wolken ihre Bahnen zogen. "Vielleicht geben Thulius Unterlagen her, wer zu diesem Inneren Feind gehört, den er erwähnt hat und ob es sich bei denen tatsächlich um die Vetis handelt."
"Mir reicht es, erst mal bei den Leuten anzufangen, die uns hergeschickt haben. Diese Majorin von den Siks, die uns verhören wollte, die Richter und unser verdammter Verteidiger. Falls das zufällig auch böse Außerirdische sind, umso besser."
Das wollte ich ebenfalls, aber nicht nur das. Ich verspürte irgendwie ein tiefes Verlangen, das Tor in die Außenwelt zu öffnen, nachdem ich jetzt die Wahrheit kannte. Ob das an meinem leidigen Charakterzug lag, allen helfen zu wollen? Oder es lag an der Essenz der Thages?
Wenn es diese Vetis tatsächlich gab, würden die das nie zulassen. Wenn ich ihnen gegenüberstand, würde ich sie wirklich besiegen können? Ohne Gnade zu zeigen? Ich hatte auf den Alchemisten geschossen und in der Folge meines letzten Kampfes waren Menschen gestorben. Auch wenn ich nicht direkt daran schuld war, bereitete mir der Gedanken Unbehagen. Ich war einfach kein erbarmungsloser Killer und fühlte mich auch nicht, wie der strahlende Held oder wie ein mutiger Krieger. Das waren immer noch Rollen, in die ich lieber Sergej stecken wollte. Doch wenn ich das durchzog, war ich sowieso eher derjenige, der Chaos brachte. Ich würde dem ganzen System einen Schlag verpassen, wenn ich das Tor öffnete. Das würde alle treffen, die in einer Machtposition saßen und darauf angewiesen waren, dass jeder in der Zitadelle blieb und das System am Laufen hielt.
Eine Bewegung unterbrach meinen Gedankengang. Ich bemerkte, wie drei Gestalten über die Hügelkuppe kletterten und auf uns zukamen. Moritz, Cass und ihr Roboter. Moritz hatte sich inzwischen in Lederklamotten gehüllt, die denen von Cass sehr ähnlich waren. Jetzt liefen sie bereits im Partnerlook herum. Gruselig.
"Seid ihr bereit?", fragte Moritz.
"Für was?", stellte ich die Gegenfrage.
"Mann, dass du in der Kühlkammer den Verstand verloren hast, glaub ich ja noch, aber dass auch der Muskelprotz rumsitzt und blöd in die Gegend starrt, wenn es doch Wichtigeres zu tun gibt, hätt ich nicht gedacht!", pampte Cass uns an.
Dafür kassierte sie einen Klumpen Erde, den Sergej nach ihr warf. "Ich weiß noch, was wir heute vorhaben. Aber es gab etwas zu besprechen."
"Findet jetzt etwa das Treffen mit dieser Bande statt?", fragte ich, weil es das einzige Ereignis war, das ich überhaupt auf dem Schirm hatte.
"Genau, du Blitzmerker."
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen. So unverschämt hatte ich Cass gar nicht in Erinnerung. War das ihre Art, sich zu benehmen, wenn sie in einer Gruppe angekommen war? Vielleicht war das aber auch der wahre Grund, warum man sie in den Ring geschickt hatte. Ich würde ihr wirklich den Hals ...
"Komm Daniel." Sergej legte seine Hand auf meine Schulter. "Wir machen uns fertig. Und Cass, lern besser, dich zu benehmen, sonst muss dich Moritz demnächst tragen!"
Ich hatte gedacht, er wollte mich besänftigen, damit ich Cass nichts antat. Doch er nutzte meine Schulter nur als Stütze, um so schwungvoll aufzustehen, dass Cass einen erschrockenen Schritt rückwärts gehen musste. Ich rieb mir die Schulter und erhob mich ebenfalls, nur weniger eindrucksvoll, dann ließen wir die Gruppe links liegen. Klara gesellte sich, inzwischen ohne Schafe, zu uns und wir liefen in Richtung der großen Halle, um uns auszurüsten, bevor wir uns auf den Weg zu El Robos Vervollständigung machten.