Der Griff des Tores entglitt El Robo. Seine Finger rutschten an der Tür hinab und die Kamerabilder des Anzugs flackerten bei jeder Unebenheit auf, über die sie strichen. Schließlich blieb der Zeigefinger an einem Vorsprung hängen und die Bilder stabilisierten sich wieder. Ich war zu schwach, um den Anzug zu bewegen. Konnte mich einfach nicht mehr auf die Befehle konzentrieren, die ich ihm geben musste. Jetzt war ich nicht mehr, als ein stummer Zuschauer, gefangen in den Kameras. Wie war es möglich gewesen, dass ich im Koma bis zum Eiszombie vorgedrungen war, jetzt aber nicht mehr tun konnte, als zu zuschauen? Doch das Tor war geöffnet und die Kameras liefen. Die Kavallerie war eingetroffen und würde sich um den Rest kümmern.
Würde sie das? Schaffte Sergej den Rest ohne meine Hilfe? Ich bäumte mich gegen die Hilflosigkeit auf, aber mir ging es nicht anders als einem normalen Menschen, der davon träumte, eine Kaffeetasse allein mit seinen Gedanken zu sich hinzubewegen. Es blieb nur ein Traum.
Sergej schlug nochmal zu und ließ einen Eishagel auf die Majorin niedergehen, die einen Satz zurück machte, direkt neben mich. Wenn ich mich nur bewegen könnte, hätte ich sie gepackt. Ich schrie, dass er aufpassen solle, weil sie gefährlich war, doch nicht einmal an die Lautsprecher kam ich heran. Er sprang durch die Öffnung und war auf sich allein gestellt.
Während Sergej noch in der Luft war, bildete sich zu ihren Füßen bereits der Schaft einer Eislanze, die sicher auf das Herz meines Freundes zielte. Ich hätte den Atem angehalten, ob er das auch sah, doch da war nichts als gefühllose Logik, die sich fragte, was passieren würde, wenn die Lanze wuchs und er landete.
Die Majorin schrie und trat zu. Ein Eisklumpen flog von ihr davon und ohne ihre gepanzerten Sik-Stiefel hätte sie sich sicher die Zehen gebrochen. Durch die Schicht des Eises blickten einer meiner Kameras die erstarrten Augen einer Riesenratte entgegen. Sie hatte ihr Leben gegeben, um Sergej ein ähnliches Schicksal zu ersparen wie mir. Ganz freiwillig hatte sie sich nicht geopfert, das war mir klar, und obwohl es Unmengen an Ratten gab, trauerte Klara sicher auch um diese eine.
Diese Ablenkung verschaffte Sergej genug Zeit, um in unserer Eishöhle zu landen. Er sah wirklich übel aus. Kratzer und Furchen durchzogen sein Gesicht, seine Klamotten hingen an Brust und Arm in roten Fetzen an ihm herab. Seine Prothese war verbeult und ein dunkelroter Streifen durchzog den freigelegten biologischen Arm. Die Wasserzombies waren nicht zimperlich mit ihm umgesprungen. Dass er hier auftauchte, musste bedeuten, dass sie ein schlimmeres Schicksal ereilt hatte.
Sergej grub seine metallenen Finger in die Wand aus Eis, schleuderte seiner Widersacherin einen Hagel glitzernder Brocken und Splitter entgegen und riss seinen Kopf beiseite. Die Spitze eines Eisspeers riss eine weitere Furche in sein Gesicht. Er zertrümmerte den Speer und wich zur Seite aus, rannte ein paar Schritte entlang der Wand. Die Majorin bewegte sich in entgegengesetzter Richtung und blieb auf Abstand.
Sie standen sich immer noch gegenüber, Sergej jetzt neben El Robo und die Majorin neben dem Loch, das er in ihre Wand gerissen hatte. Sein Blick sprang von ihr zum abgebrochenen Speer, der ihn treffen sollte, hin zu dem, er sich in meinen Rücken bohrte, dann wieder zu ihr. Er hatte verstanden, was hier los war, dass sie der Grund für das Eis war. Das hoffte ich zumindest. Sie hingegen sah an uns vorbei, hin zum sich öffnenden Tor.
"Was gewinnt ihr damit, dass ihr das Tor öffnet?", schrie sie ihm entgegen und mir. "Dort draußen ist nichts von Bedeutung. Nichts! Keine Zivilisation, kein Leben! Ich bin die letzte Vetis auf diesem Planeten und die Menschen in der Zitadelle sind ebenfalls die Letzten ihrer Art. Wollt ihr sie hinaus in den Tod schicken und eure eigene Spezies auslöschen?"
Ich versuchte erneut, die Lautsprecher in Gang zu bringen, aber es ging einfach nicht. Sergej antwortete an meiner Stelle.
"Gefahr? Dass ich nicht lache." Er spuckte einen Klumpen Blut aus. "Dort draußen herrscht keine Gefahr. Es ist sicherer als hier. Keine Zombies, die von verdammten Eis-Aliens auf uns gehetzt werden."
Die Drohne flog über die Szene. Ich war es nicht, der sie steuerte. Aber ich sah, was sie mit einem Arm hinter dem Rücke versteckte. Eismesser, die zwischen ihren Fingern wuchsen. Doch ich konnte nichts dagegen tun. Wer auch immer die Drohne bediente, auch nicht.
"Das Klima würde sie töten!", schrie sie. "Kapierst du das nicht?"
"Erzähl keinen Scheiß! Wir waren am Rand des Tals. Wir wissen, dass das Eis nur eine Täuschung ist. Sobald der Erste durch dieses Tor geht, ist es vorbei!"
Ihr Arm schnellte nach vorne und schleuderte ihm die Messer entgegen. Sergej wich zurück und wehrte eins der Messer ab, das an seiner Prothese in tausend winzige Kristalle zerbrach. Doch es waren mehr Messer, als er unverwundbare Arme hatte. Die anderen beiden bohrten sich links und rechts in seine Oberschenkel. Sergej grunzte und ging in die Knie.
Gut, dass ich schon einen Hilferuf an die Meds losgeschickt hatte.
Ein neuer Eisspeer bildete sich im Boden vor Sergej und raste auf ihn zu. Er schlug ihn beiseite und stöhnte dabei. Das Stöhnen ging in ein Husten über. Ich wollte nicht wissen, was in ihm alles kaputt war, wenn er schon von Außen so aussah.
Bei dem einen Speer blieb es nicht. Jedes Mal, wenn die scharfe Klinge eines Geschosses über seinen Arm schabte, schrie das Metall kreischend auf. Das war nicht einfach nur Eis, sondern eine tödliche Waffe. Wie gefährlich es war, hatte ich ja schon selbst erlebt. Es war wirklich Glück, dass Sergej hinter sich die Hülle der Zitadelle hatte, sonst hätte sie ihn wahrscheinlich ebenfalls rücklings durchbohrt.
Der Boden um ihn herum färbte sich rot. Ich konnte nur hoffen, dass die Essenz des Kriegers ihn am Leben halten würde. Das musste ja so sein, denn ich wäre an seiner Stelle schon lange zusammengebrochen.
Die Majorin keuchte, dann hielt sie inne. Sie hatte wohl auch ihre Grenzen.
"Keiner wird durch dieses Tor gehen", presste sie atemlos hervor. "Ich werde es wieder schließen, sobald ich euch beseitigt habe. Niemand wird erfahren, wie es dort draußen wirklich aussieht."
Sie bückte sich zum Panzerjäger, der zu ihren Füßen lag, und richtete ihn auf Sergej. Eine Lafette aus Eis bildete sich darunter und stützte die Waffe.
Scheppernd landete ein handgroßer Kasten neben ihr und rutschte auf sie zu. Geistesgegenwärtig stoppte sie ihn mit ihrer Stiefelsohle. Das Scheppern wurde vervielfältigt und steigerte sich in ein ohrenbetäubendes Fiepen, bevor es wieder still wurde. Verdammte Rückkopplung ...
"Was soll das?", fragte sie verwirrt. "Wollt ihr mich mit einem Medienpanel außer Gefecht setzen?"
Das tragbare Medienpanel wiederholte ihre Worte, diesmal ohne Fiepen. Sie hob es auf und betrachtete die Anzeige. Dann blickte sie zur Decke des Raums, zu einer der Kameras, die dort hingen.
"Ihr strahlt das aus? Die Kameras sollten aus sein. Die Systeme laufen doch im Notbe..."
Sie sah zu El Robo hinüber.
"War er das?"
Aus der Öffnung im Eis kam Moritz Stimme. "Nein. Sie haben noch andere Feinde in der Zitadelle. Jemand anderes hat alles wieder eingeschaltet, bevor wir den Raum gestürmt haben. Es ist aus. Ergeben Sie sich!"
Also war es nicht Brutus gewesen, der uns blockiert hatte, und jemand half uns. Wir hatten Zuschauer, darunter musste statistisch ja auch mindestens einer sein, der auf unserer Seite stand.
Sie starrte weiter ihr eigenes Bild auf dem Medienpanel an. Ob sie ihre Chancen abwog? Ein Blick zum Tor. Wollte sie jetzt selbst die Zitadelle verlassen? Dann ein Blick zu Sergej. Zorn stieg ihr ins Gesicht und vertrieb das Eis. Sie warf das Medienpanel beiseite und bückte sich zum Panzerjäger. Sie würde auf Sergej feuern.
Die Statusanzeigen des Anzugs, die irgendwo in meinem Sichtfeld geschlummert hatte, wies mich darauf hin, dass die Temperatur nun auf einen gefährlichen Wert sank. Nicht nur meine Temperatur, sondern die des ganzen Raums. Jeder weitere Augenblick in dieser Kälte konnte zu ernsthaften Verletzungen führen. Zu noch mehr ernsthaften Verletzungen, korrigierte ich meine Gedanken, als ich an mich selbst und an Sergej am Boden dachte.
Sie senkte ihre Hand zum Auslöser und das Eis der Lafette zitterte. Alles zitterte, sie taumelte und verfehlte den Griff. Ihre Augen weiteten sich und ihr Blick raste durch unser Gefängnis aus Eis. Meiner auch, aber da war nichts.
Sergej nutzte die Chance, stemmte sich vom Boden hoch, wollte sich ihr entgegenwerfen, doch seine Beine gaben unter ihm nach.
Die Majorin fasste sich und griff erneut nach der Waffe. Als sich ihre Finger dem Abzug näherten, begann die Erde zu beben, die Lafette zerbrach und der Griff des Panzerjägers entglitt ihren Fingern. Ein wilder Chor piepsender Stimmen machte sich Luft und wurde beständig lauter. Ich hörte das Eis im Boden und an den Wänden knacken, als es von den Schwingungen der Töne und Bewegungen erfasst wurde.
Die erste von vielen grauen Schnauzen streckte sich durch die Öffnung, dicht gefolgt von einer Heerschar weiterer Riesenratten. Das Eis brach und die Flut an Körpern bahnte sich einen Weg. Sie umspülte die Majorin, samt ihrer Waffe und rissen sie mit. Hinaus durch das Tor, das jetzt weit offen stand. Hier und da blitzte eine der Ratten auf, als sich ihr Körper in Eis verwandelte. Doch es war aussichtslos, gegen diese Armee an Ratten konnte sie am Ende nichts ausrichten. Wunderbar, ein Kämpfer und ein Kampfanzug, beide gerettet von Ratten.
Die Flut ebbte ab und es wurde still. Schritte, unter denen das Eis knisterte, näherten sich uns, dann kletterten Moritz und Klara über das Trümmerfeld aus Barrikaden und Eisbrocken zur uns herüber.
"Oh", sagte Klara und verzog das Gesicht zu einer traurigen Grimasse, als sie Sergej in seinem eigenen Blut liegen sah. Sie kniete sich zu ihm herunter und redete mit ihm, aber die Worte konnte ich nicht verstehen. Es war, als hätte jemand die Lautstärke heruntergedreht und ich sah nur noch, wie sich ihre Lippen bewegten. Im Raum war es still geworden. Nicht einmal ihre Bewegungen verursachten Geräusche. Hatte der Anzug seinen Geist aufgegeben, oder war ich es, der plötzlich taub geworden war?
Dann brach der Speer, der mich gegen die Wand drückte und El Robo kippte rückwärts in den Raum. Nun zeigte die Hälfte der Kameras die Welt von unten. Wie die Meds anrückten und ein frischer Trupp des Sicherheitskorps. Wie sich Klara und Moritz bereit machten, unsere Körper gegen sie zu verteidigen.
Captain Lover führte die Siks an, hielt sie davon ab, uns gleich niederzuschießen. Er zeigte auf mich und die Kameras, während die anderen Siks durch das Tor eilten und zwei der Meds sich neben Sergej knieten und ihn versorgten.
Die Siks kehrten zurück und führten zwischen sich Majorin Melnikowa ab, Gesicht und Hände übersäht mit Bissen und Kratzern. Sie war zusammengesackt, ihr Kampfgeist gebrochen. Auf dem Gesicht des Captains erschien ein zufriedener Ausdruck. Das Blatt hatte sich gewendet und diesmal war er es, der sie abführen ließ.
Er redete mit Moritz und Klara, dann standen sie über meinem Anzug. Sie sahen beunruhigt aus. Warum? Wir hatten doch gewonnen. Dann fiel den Kameras die rote Pfütze auf, die sich um mich herum bildete, jetzt, da der Speer die Wunde nicht mehr verschloss.
Moritz griff nach El Robos Hals. Er würde die Notentriegelung betätigen. Nach dem ersten Handgriff wurden die Bilder des Anzugs fehlerhaft. Er schaltete sich ab. Bereiche meines Sehfeldes wurden nicht mehr aktualisiert und Reste der Bilder, die sie eben noch angezeigt hatten, blieben verpixelt zurück. Nachdem er die zweite Sicherung geöffnet hatte, flackerte die Bilder. Mit der Öffnung der Letzten wurden sie schwarz.
Es war sonderbar. Die Bilder des Anzugs waren ausgefallen, aber ich sah meinen Körper immer noch durch die Augen der Drohne und er Kamera, die über dem Tor hing. Der Gedanke kam nüchtern, ganz ohne Emotionen. Ich befand mich nicht mehr in meinem Körper. Nein, irgendwie war ich im Netzwerk der Zitadelle gelandet.
Und ich kam nicht mehr zurück.
Müsste dort nicht ein Licht erscheinen, falls ich gestorben war? Dieser Tunnel, von dem alle sprachen?
Ich hatte meinen Geist nur mit dem Fokus auf unser Ziel wach gehalten, dann mit dem Wunsch zu überleben. Das hatten wir doch jetzt erreicht, oder nicht? Wo war der Beifall der Mengen, die sich für ihre Befreiung bedankten? Empfing er mich, wenn mein Körper wieder wach war?
Darauf würde ich warten und mich ausruhen. Ich schloss meine digitalen Augen und träumte.
Ich träumte vom Eis. Dieses verdammte Eis …