Die Tiere der Nacht erfüllten den Wald mit den Geräuschen ihrer Unterhaltungen. Jeder andere hätte es nur für Lärm gehalten oder im besten Fall für Kommunikation auf der untersten Ebene. Klara jedoch wusste, wie viel mehr in jedem einzelnen Ton verborgen war. Sie verstand alles.
Daniel hatte sie einmal gefragt, ob sie das verrückt mache, all die Tiere zu hören, so wie es ihn verrückt machte, die Zeit in einem Raum mit zu vielen Menschen zu verbringen, die alle durcheinanderredeten. Aber so war es für sie nicht. Es war ein Wohlklang. Viele Töne, die zusammen eine Symphonie ergaben. Sie konnte nach Belieben die Melodie der einzelnen Musikanten herauslösen und für sich selbst anhören, wenn sie es wollte.
Am Anfang war das zwar schwerer, mit der Zeit fiel es ihr aber immer leichter. Genau wie ihm. Sie wusste, dass er sie am Ende seines Lebens besser verstanden hätte. Sie wusste es, weil er kurz vor seinem Tod, all seine Erlebnisse aufgezeichnet hatte. Das geschah in einer gewaltigen Informationsexplosion und vieles war deswegen wirr und nicht sofort verständlich. Aber auch aus diesem Chaos konnte sie die Gedankenfäden herausziehen und zu einer wohlklingenden Anordnung kombinieren.
Das Ergebnis ihrer Arbeit, eine Zusammenfassung seiner und auch ihrer Geschichte befand sich auf der Datenkarte im Inneren der Brusttasche ihres Außenweltanzugs. Eine Kopie davon würde sie Captain Lover bei ihrem nächsten Treffen übergeben und er würde sie an den Rat weiterleiten, der für eine korrekte Aufarbeitung der Zitadellengeschichte sorgen und sie in die neue Informationsdatenbank einfließen lassen würde.
Es war jetzt schon fast ein Jahr her, dass die Zitadelle ihre Tore geöffnet hatte, und es herrschte immer noch dieselbe Aufbruchsstimmung, als sei es erst gestern geschehen. Täglich entstanden neue Gebäudekomplexe in den Ringen und Menschen, meist aus der Unterwelt, zogen an die Oberfläche. Es war mit keinem großen Aufwand verbunden, denn viele von ihnen besaßen ja kaum etwas.
Das führte zu Problemen, da leicht kontrollierbare Arbeitskräfte verloren gingen oder plötzlich selbst mehr Wohlstand forderten. Manche Gruppen wanderten sogar komplett aus, mit dem Ziel, sich so weit von der Zitadelle und seinem Herrschaftsgebiet zu entfernen, wie möglich. Die Vögel berichteten von Menschen an den Küsten, die sich dort niedergelassen hatten. Nicht, weil sie das Meer besonders mochten, sondern, weil es ein Hindernis darstellte, das sie mit ihrer Ausrüstung nicht überwinden konnten. Noch nicht.
Bisher stand fest: Sie waren allein hier draußen. Keinem der Tiere, mit denen sie seither gesprochen hatte, waren andere Menschen aufgefallen. Und sie hatte schon mit vielen Tieren geredet. Tiere, die sie aus der Vergangenheit kannte und auch ganz neue Arten. Fremdartige Raubtiere, Riesenkäfer, Dinosaurier. Als hätten sie darauf gewartet, dass der Mensch endlich von der Erde verschwand, waren sie einfach wieder da.
Ihre Gespräche mit den Tieren waren inzwischen mehr als nur ein Zeitvertreib. Es war ein fester Bestandteil bei der Erfüllung ihrer Aufträge geworden. Sie halfen bei der Erkundung der neuen Welt, im Kampf oder erzählten einfach aus ihrem Leben, damit die Zitadelle mit diesem Wissen die Lücken in ihren Bio-Datenbanken füllen konnte. Der Einzige, der vielleicht noch mehr wusste, war der Eiszombie und der war spurlos verschwunden. Die Kammer im Zylinder war leer und nichts deutete darauf hin, dass er jemals existiert hatte.
Ihre Fähigkeit war dank Moritz, Cass und Daniel weithin bekannt, zumindest denen, die glaubten, dass sie real war. Also wurde sie irgendwann, nach all den Jahren im Untergrund, ganz offiziell vom Rat eingeladen und um Hilfe gebeten. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie viele Forschungsexpeditionen sie seitdem begleitet hatte. Jedes Mal, wenn ihr die Forscher dann zu sehr auf die Nerven gingen, verschwand sie einfach wieder, zog sich in einen ihrer vielen Zufluchtsorte zurück, so wie diesen hier. Danach musste sie sich dann eine Standpauke von Lover anhören, aber was sollte der schon großartig machen?
Eigentlich konnte er froh sein, dass er sie nicht dauernd an der Backe hatte. Das sagte zumindest Sergej oft, verdrehte die Augen und klagte über ihre pubertären Launen. Tja, so war das eben, wenn man ein Mädchen in ihrem Alter unfreiwillig adoptierte. Aber er hatte keine Wahl. Er war als einziger Erwachsener aus ihrer Gruppe übrig und irgendwo musste sie ja offiziell unterkommen. Ansonsten machte das Jugendamt der Zitadelle Jagd auf sie, sobald sie die Stadtmauer passierte. Das wollte selbst Sergej nicht. Er wollte zwar auch nicht, dass Klara regelmäßig seine Freundinnen vergraulte, aber die taugten eh nie was.
Am Ende wurde er noch so wie Moritz, wenn er sich eine Freundin anlachte. Und der befand sich jetzt auf einem Rachefeldzug gegen die Vetis. Hatte es erst versucht, es geheim zu halten, aber die Tiere erzählten ihr alles. Irgendwann hatte sie ihn damit konfrontiert und er war abgehauen. Am gleichen Tag brach Nil, der Vetis, den sie gefangen genommen hatten, aus dem Gefängnis aus und El Robo wurde aus den Lagern des Sicherheitskorps gestohlen. Danach gingen die Anschläge los. Auf Bürger in hohen Positionen und Mitglieder der wichtigen Familien. Es war klar, dass es Moritz war und es war genauso klar, dass die Opfer keine Vetis waren. Lover hatte sie um Hilfe gebeten, aber Klara hatte einfach nicht die Kraft, Moritz aufzuspüren, gegen ihn zu kämpfen und am Ende noch einen Freund zu verlieren.
Sie fragte sich, ob es sich gelohnt hatte, so viel zu opfern. Ob die Menschen glücklich waren, die sie befreit hatten oder ob sie sich jetzt einfach nur an einem anderen Ort in derselben Situation wiederfanden. Was sie selbst in dieser neuen Welt anfangen würde, wenn sie keine Lust mehr hatte, Lover zu helfen.
Um einfach nur Kind zu sein, dafür war es jetzt zu spät. Jetzt musste sie helfen, schließlich war sie ja besonders. Würde sie irgendwann fliehen? Noch weiter in die Welt hinausziehen, dorthin, wo kein Mensch sie finden würde?
Die Tiere des Waldes waren verstummt und nur das Rascheln und Knacken der Äste hinter ihr waren noch zu hören. Ein Mensch kam auf sie zu, das merkte sie am Abstand, den die Tiere zu ihm aufbauten, ganz ohne ihre Gedanken lesen zu müssen. Als er näherkam, erkannte sie ihn am Geräusch seiner Bewegungen. Sergej.
"Die Tiere sind so still, bist du traurig?"
Sie nickte stumm und hörte, wie er hinter dem Stein, von dem aus sie in den Nachthimmel blickte, stehen blieb. Er legte seine Hand auf ihre Schulter und fuhr ihr mit der Prothese durch die Haare. Kaltes Metall berührte an einer Stelle ihre Kopfhaut, schickte ihr einen Schauer den Nacken hinab und ließ eine Gänsehaut zurück. Dennoch lehnte sie sich zurück, lehnte sich bei ihrem letzten verbliebenen Freund und ihrem Beschützer an. Auch wenn sie auf sich selbst aufpassen konnte, und sich nach der Freiheit in der weiten Welt sehnte, war es ein gutes Gefühl, nicht vollkommen allein zu sein. Sie fühlte sich sicher.
Eine Träne kullerte ihre Wange hinab und dieser folgte ein kleiner Wasserfall, begleitet von ihrem Schluchzen.
Sergej blieb stumm hinter ihr stehen. Er wusste, warum sie weinte, und es waren keine Worte des Trostes nötig. Er hatte auf seine eigene Art getrauert und hatte mit diesem dunklen Abschnitt ihrer Vergangenheit bereits abgeschlossen. Sie würde noch etwas brauchen. Als sie sich beruhigt hatte und der Strom ihrer Tränen versiegt war, trauten sich die Tiere, ihre Unterhaltungen wieder aufzunehmen, und auch Sergej sprach.
"Willst du mit in die Siedlung kommen? Sie feiern Weihnachten. Sie würden sich freuen, wenn du kommst, und haben schon nach dir gefragt."
"Weihnachten?"
"Ja, ein paar konnten sich noch vage daran erinnern, die anderen haben ein paar wirre Ideen aus den Datenbanken ausgegraben. Erwarte nicht zu viel, aber sie feiern. Kommst du?"
Das letzte Weihnachten, auf das sie gewartet hatte, war im tiefsten Schnee versunken. Hier war es immer noch warm. Es hatte in der Zeit, in der sie die Zitadelle verlassen hatten, kein einziges Mal geschneit. Verrückte Welt, in der sie lebten.
Eine Sternschnuppe flog über den Himmel und zog einen blauen Schweif hinter sich her. Das war ein Zeichen, oder? Sie fasste ihren Entschluss und erhob sich.
"Ja, ich komme mit."
Gemeinsam gingen sie in den Wald, hinter dem sich die neue Siedlung von Ruiz und seinen Leuten befand. Ruiz sah in ihnen eine neue Familie. Sie hoffte, dass er recht hatte. Dass er ein Zuhause finden würde, falls sie irgendwann davonzog. Dass es vielleicht aber auch ein Ort sein konnte, an den sie zurückkehren konnte.
Sie drehte sich noch einmal um und blickte in den Nachthimmel. War es jetzt noch zu spät sich etwas zu wünschen?
Sie wünschte sich, dass Daniel, wo immer er jetzt auch sein mochte, seinen Frieden gefunden hatte. Sie wünschte sich, dass auch Moritz seinen Frieden fand. Lebendig und ohne dabei die gesamte Zitadelle auszulöschen. Dass Numbaka noch viele Jahre in seiner neuen Kneipe von den Abenteuern seiner Jugend erzählen konnte. Dass Sergej in der Siedlung eine Heimat fand, auch wenn sie ihm dabei manchmal Steine in den Weg legte.
Und für sich selbst? Das war das Schwerste. Ihre Zukunft war ungewiss.
Sie sprang Sergej hinterher.
"Ich hoffe, du hast mir ein richtig tolles Geschenk besorgt!"
"Was? Denkst du, es geht an Weihnachten nur um Geschenke?"
"Nein, aber wenigstens mir hast du doch eins besorgt?"
"Okay, ich hab eins für dich. Aber weißt du, es war echt schwer, in der Zitadelle eine Puppe aufzutreiben."
"Du machst Witze, oder? Weißt du, wie alt ich bin?"
Sergej grinste breit und Klara begann zu lachen. Den ganzen Weg zurück zur Siedlung hielt diese Stimmung an. Auch die Siedler schienen in guter Laune, als ihnen ihr Gelächter entgegenschallte. Hoffnung keimte auf, dass es ein wunderbarer Abend werden würde. Dass auch sie noch etwas fand, dass sie hier hielt.
Sie traten in den Schein der Fackeln, die das Dorf erhellten und ihre Sorgen waren vergessen.
--- Ende ---