Im Treppenhaus brannte Licht.
Sonst sah ich nichts.
Tock.
Da war das Klopfen wieder! Ruckartig zog ich die Tür auf und schwang das Beil nach oben.
Die ganze Sache musste für einen Betrachter sicher lustig ausgesehen haben. Ein junger Mann, Mitte 20, nur in Hausschuhen und Handtuch, mit hoch erhobenem Beil. Stellt sich im Flur seiner Wohnung einer wilden Bestie. Vielleicht hätte ich noch einschüchternd knurren sollen.
Die Bestie schaute mich in Form eines kleinen schwarzhaarigen Mädchens von unten herauf eher verdutzt als erheitert an.
Ich ließ das Beil sinken und lehnte es mit einem schiefen Entschuldigungslächeln gegen den Türrahmen.
"Hallo. Bist du ein Einbrecher?", fragte das Mädchen. Wie lang war mein 3-Tage-Bart wohl, dass ich diese Frage verdiente?
"Nein, sehe ich wie einer aus?"
"Also. Gerade hat es geklirrt und das Fenster hinter dir ist eingeschlagen. Und nur Einbrecher kommen durch das Fenster rein!"
Der Adrenalinpegel, der sich in Erwartung eines Monsters aufgebaut hatte, sank und mir wurde der eisige Wind wieder bewusst, der durch das zerschlagene Fenster herein blies. Meine Zähne fingen laut zu klappern an, als ich mich erklärte. "Ich wohne hier. Ich bin Daniel. Schau, hier steht mein Name auf dem Klingelschild."
"Ich kann lesen. Ich bin nämlich schon sieben. Deine Klingel funktioniert übrigens nicht."
"Ich weiß."
Ja, die Klingel hatte ich vor einer Weile abgestellt. Das Haus lag zum einen direkt im Kneipenviertel des Ortes. Betrunkene, die nicht nach Hause fanden, oder sich einen Spaß daraus machten, Leute in der Nacht aus dem Schlaf zu klingeln, waren keine Seltenheit. Zum anderen hatte mein Nachbar, ein armenischer Rentner, eine Heerschar an Enkelkindern, die nicht immer wussten, wo sie klingeln mussten. Außerdem war er schwerhörig. Wenn er sie nicht hörte und sie stattdessen die Nachbarn nervten, kamen sie schneller ins Haus. Wer mich kannte, wusste das und rief mich an, wenn er vor der Tür stand. Pakete musste ich zwar regelmäßig selbst abholen, aber alles hatte seine Nachteile. Sollten mal die Zeugen Jehovas oder die Polizei klingeln, na ja, nicht schlimm. Wer ließ die schon gerne herein?
Wenn ich richtig lag, war sie eines der erwähnten Enkelkinder.
"Du willst doch sicher nicht zu mir, oder? Dein Großvater lebt in der Wohnung gegenüber."
Bedeutungsvoll zeigte ich auf die andere Tür, die einen Spalt offen stand.
"Ich weiß, dass mein Opa da wohnt, aber er ist seit Stunden nicht da, ich komme nicht raus, überall liegt Schnee und überhaupt würde ich sonst gar nicht bei dir klopfen!", plapperte sie los.
Ob ihr nur langweilig war? Ich war einmal in der Wohnung des Nachbarn gewesen und wusste, dass er keinen Fernseher hatte. Worte, wie Smartphone, WLAN und Internet hatte er wahrscheinlich noch nie gehört. Dass sie sich Sorgen machte, war aber auch nicht ganz auszuschließen.
"Willst du hereinkommen und dir irgendwas ansehen, bis er wiederkommt?"
Wobei das bei dem Wetter eher nicht in absehbarer Zeit passieren würde. Dass er, wie ich, über den Balkon kletterte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Sie nickte und huschte mit leuchtenden Augen an mir vorbei, mit einem Satz über die Scherben am Boden.
Ich hatte eine große Auswahl an Filmen und fand etwas, das ihrem Alter entsprach. Zufrieden saß sie vor dem Fernseher.
Ich ging ins Zimmer nebenan, schloss die Tür und suchte mir etwas zum Anziehen. Dabei führte ich gleich eine Inventur meiner Winterkleidung durch. Viel war es nicht. Wanderstiefel, die aber imprägniert werden mussten, um die Feuchtigkeit abzuhalten. Eine Schneehose, die mir vor bestimmt zehn Jahren meine Mutter gekauft hatte, als ich noch bei ihr wohnte. Etwas eng und in grässlicher Farbe, aber besser als nichts. Eine Winterjacke, wenigstens die war schwarz. Allerdings hatte ich mir die eher ausgesucht, weil sie mir optisch gefiel und nicht in Hinsicht auf eine arktische Apokalypse.
Das Mädchen saß immer noch gebannt vor dem Fernseher. Ich schaltete den Computer an, vielleicht gab es Lebenszeichen von der Außenwelt.
"Wie heißt du eigentlich?"
Meine sozialen Kompetenzen waren nicht die besten, deswegen fiel mir jetzt erst ein, dass ich das noch gar nicht wusste. Mein Beruf verlangte mehr, dass ich mich mit Maschinen als mit Menschen unterhielt.
"Klara."
Nicht besonders armenisch, aber wer weiß, wie lang die Familie schon hier wohnte. Mit dem Nachbarn musste ich mich immer noch in Zeichensprache unterhalten. Einmal wollte er mir ein Sofa schenken und es hat eine halbe Ewigkeit gedauert, bis ich das verstanden hatte. Und noch länger, bis ich ihm verständlich gemacht hatte, dass ich keins brauchte.
Ein eisiger Windstoß erinnerte mich erneut an das kaputte Fenster. Ich ging zur Abstellkammer und holte einen Karton, um damit das Fenster notdürftig zu verschließen. Das würde zwar nicht ewig halten, aber das Wetter war ja hoffentlich kein Dauerzustand.
Ich fegte die Scherben zusammen, warf ein Handtuch auf den feuchten Boden, damit er irgendwie trocknete, und schüttete die Überreste des Fensters in den Mülleimer in der Küche. Knurrend machte mein Magen mich darauf aufmerksam, dass dieser Ort auch anderen Zwecken diente.
"Magst du was zu essen?", rief ich in Richtung des kleinen Wohnraums. "Ich habe Ravioli."
Davon hatte ich wirklich viel. Ich hatte auch ein paar Tütensuppen, damit niemand behaupten konnte, dass ich mich einseitig ernährte. Aber Ravioli waren einfach schneller zubereitet.
"Au ja!"
Ich öffnete eine Dose, füllte zwei tiefe Teller und stellte den ersten in die Mikrowelle.
"Zum Trinken hab ich nicht so die große Auswahl. Wasser, Cola oder Tee."
"Cola!"
War ja klar. Ich hätte vielleicht noch Milch im Kühlschrank gehabt. Da ich aber nicht so regelmäßig frühstückte, war ich mir nicht vollkommen sicher, ob die noch genießbar war. Morgens war die Zeit meistens knapp, besonders wenn man, so wie ich, lieber noch ein paar Minuten länger im Bett blieb. Zum Glück wachte ich trotzdem auch nach langen Nächten immer rechtzeitig auf, um noch pünktlich zur Arbeit zu kommen.
Auch die zweite Portion war jetzt fertig. Ich stellte Klara die Cola und ihren Teller auf den Tisch neben dem Sofa. Freudig stürzte sie sich auf die Mahlzeit.
Ich hatte kein Problem damit, ihr eine Weile Unterschlupf zu gewähren. Ich hatte selber drei kleine Schwestern und die jüngste war etwa in ihrem Alter. Solange sie meine Wohnung nicht auf den Kopf stellte, war alles in Ordnung.
Meinen Teller nahm ich mit zum Computer, der schon eine Weile hochgefahren war und geduldig auf die Passworteingabe wartete. Ich konnte mit der Recherche beginnen.
Der Wetterdienst zeigte unseren Ort mit sonnigen 6 Grad Celsius Nachttemperatur und klarem Himmel an. Vielleicht war ja der Wettersatellit kaputt oder irgendjemand fand es witzig, mich mit falschen Daten zu versorgen. Den irrwitzigen Gedanken, dass es in unserem Ort Winterspiele geben sollte und die Kunstschneeautomaten Amok liefen, verwarf ich wieder. Darüber stand nichts auf der Homepage der Stadtverwaltung.
Soziale Netzwerke und Foren gaben keine Informationen her, die mir nicht schon bekannt waren. Leute waren ratlos und in ihren Häusern und Wohnungen eingeschlossen. Einige hatten von unterwegs mit ihren Smartphones von ihrer Flucht nach Hause berichtet. Bei ein paar hörten die Berichte unterwegs auf. Ohne Hinweis auf eine sichere Rückkehr. Ob sie es nicht geschafft hatten? Oder auch erst mal die Vorzüge der eigenen warmen Wohnung genossen und sich von der Strapaze erholten?
Jemand meinte, er hätte einen Bären gesehen und andere erlaubten sich einen Spaß und fügten weitere Sichtungen hinzu, die sich immer weiter steigerten. Yetis, Mammuts und eine Horde Eiszombies. Verschwommene Bilder unbekannter Kreaturen und gestellte Fußspuren im Schnee. Jetzt würde sicher die nächste Eiszeit anbrechen oder die Welt untergehen.
Ich schmunzelte und gab ihnen neuen Stoff in Form einer Challenge. Wer würde wohl gewinnen, wenn sie sich im Eis trafen? Die Eiszombies oder die Yetis?
Dann wechselte ich wieder auf die Seite Stadtverwaltung. Hier gab es jetzt einen Hinweis auf eine Sammelstelle im alten Krankenhaus des Ortes. Für Menschen, die ihre Wohnung nicht mehr erreichen konnten.
Ich griff mir das Telefon, wählte die angegebene Nummer und landete prompt in einer Warteschleife mit nervtötender Musik. Die endete nach ein paar Minuten mit dem Hinweis, ich solle es doch später noch einmal versuchen, also legte ich wieder auf.
Das Krankenhaus war zwei Kilometer Luftlinie von meiner Wohnung entfernt. So wie es draußen aussah, musste man auf die Straßenführung nicht mehr achten. Wenn ich besonders viel Glück hatte, lag der Schnee bald so hoch, dass ich über die Dächer meiner Nachbarn marschieren konnte. Ich grinste. Die Armen.
Ich war zwar froh, jetzt im Warmen zu sitzen, ja wirklich. Und eigentlich hätten mich keine tausend Schneehörnchen nach draußen bekommen, mochten sie auch noch so süß sein, aber ich würde mich besser fühlen, wenn das Mädchen wusste, dass es ihrem Großvater gut ging. Und so fasste ich einen Entschluss.
"Hast du Winterklamotten, Klara?"