Okay, ich hatte doch schon einmal so viel Blut gesehen.
Als mir selbst die Nase gebrochen wurde.
In der Ecke des Raums saß ein Mann, der sich ein Tuch vor das Gesicht hielt. Das musste mal weiß gewesen sein und war jetzt, außer an den Rändern, in verschiedenen Rottönen gefärbt, da das Blut an manchen Stellen bereits getrocknet war. Vor ihm auf dem Boden hatte sich eine kleine Pfütze gebildet und eine Spur von Tröpfchen schlängelte sich in meine Richtung und an mir vorbei in die Empfangshalle.
Aber, wie gesagt, meine Knie gaben nach und ich sackte nach unten.
Das war auch der einzige Grund, warum die Metallstange, die auf mich zusauste, mit einem Krachen, statt meinem Kopf nur die Tür traf.
Den Kerl, der sich am anderen Ende der Stange befand, kannte ich. Sergej. Neben ihm stand Dimitri, den ich ebenfalls kannte. Zu meinem Glück erkannten sie mich auch und es folgte kein weiterer Schlag.
Peter und Max packten mich von hinten unter den Armen und halfen mir wieder auf. Als ich mein eigenes Blut gesehen hatte, war mir nicht so schlecht geworden. Das passierte nur, wenn ich das anderer sah.
Oder bei Spritzen. Egal, ob ich von ihnen las, sie im Fernsehen sah oder sie an mir Anwendung finden sollten. Noch etwas, das heute auf der Liste der Sachen landen würde, die ich nicht mochte. Vielleicht hatte Klara doch nicht so unrecht.
"Sorry, wir dachten, ihr wärt jemand anderes", sagte Dimitri und stützte sich auf der Stange ab.
"Wen habt ihr denn erwartet?" Peter schob mich behutsam in den Raum hinein, damit ich nicht länger den Eingang blockierte.
"Seht ihr den da?" Sergej zeigte mit dem Daumen auf den Mann in der Ecke. "Der wurde draußen von Schlägern angegriffen. Unsere Gang war es übrigens nicht."
Dimitri und Sergej waren Brüder und ihre Gang war eigentlich gar keine. Eine Gruppe russischer Jugendlicher, die sich am Wochenende spät abends in der Innenstadt traf und sich die Kante gab. Irgendwann waren sie aber mal mit der örtlichen Motorradgang aneinandergeraten. Die Presse hatte ein Drama daraus gemacht und das Ganze als Bandenkrieg betitelt. Im gleichen Zug hatte sie die Polizei runter gemacht, die der Presse nach bei all der Gewalt in der Stadt nur hilflos zusehen konnte. Das blieb haften und die Jugendlichen bezeichneten sich seitdem stolz selbst als Gang.
"Dann waren es die Biker? Seid ihr auch vor dem Sturm geflüchtet?", fragte ich. Ich riss mich zusammen und stand wieder auf eigenen Beinen.
Nur nicht das Blut ansehen. Augen zu und tief einatmen und wieder ausatmen.
"Wahrscheinlich waren sie es. Die nutzen jede Gelegenheit, um für Chaos zu sorgen. Jetzt können sie nicht rumfahren, da sind sie bestimmt richtig mies drauf", antwortete Sergej. Er war der jüngere der beiden Brüder. Musste jetzt 18 oder 19 sein. Kurze schwarze Haare, athletisch gebaut. Hätte er mich mit der Stange erwischt, würde mir jetzt gewaltig der Kopf brummen. Falls ich noch bei Bewusstsein gewesen wäre. Oder der Kopf noch auf meinem Hals.
"Unsere Mama liegt im Krankenhaus, deswegen sind wir hier", fügte Dimitri hinzu. Er war zwei Jahre älter als Sergej und hatte, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, ein paar Pfunde zugelegt. Aber wirklich dick war er trotzdem nicht. Früher waren sie sich so ähnlich gewesen, dass ich zweimal hinsehen musste, um zu wissen, wer von beiden wer war. Damals wohnten wir im gleichen Haus. An ihre Mutter konnte ich mich nur noch vage erinnern.
"Oh, tut mir leid", sagte ich mit geschlossenen Augen.
"Sie ist schon so gut wie entlassen. Wenn ich raus schau, geht es ihr heute besser als den Meisten. Aber danke." Dimitri senkte die Stimme und fuhr dann fort. "Als es angefangen hat zu schneien, ist noch ein Pärchen eingeliefert worden. Die wurden angeblich von wilden Tieren angefallen. Sahen übel aus." Dimitri verzog das Gesicht. "Wildkatzen! Wahrscheinlich hat es mal wieder jemand lustig gefunden, die Hunde im Tierheim aus den Zwingern zu befreien. Und bei dem Wetter sind die dann durchgedreht."
Das klang plausibel. Wo sollten die Wildkatzen auch herkommen?
Es ging mir besser und ich öffnete die Augen. Ich schaute mich im großen Wartezimmer um. In der einen Ecke saß eine Familie, in Decken gewickelt. Ein Stück neben der Tür stand ein demolierter Stuhl. Den hatten die beiden für ihre Metallstangen zerlegt. Die Stelle mit dem blutenden Mann brauchte ich mir nicht noch einmal ansehen.
"Sind das alle, die heute hier sind?", fragte ich. "Wir suchen nämlich nach dem Opa der Kleinen hier …"
"Hey, ich bin nicht klein, ich bin schon sieben!", protestierte Klara.
"… und einem kleinen blonden Jungen, Moritz, der zu den beiden hinter mir gehört."
Während ich sprach, öffnete sich auf der anderen Seite des Raums eine Tür.
"Außer den Leuten hier ist nach dem Schneesturm niemand gekommen", erklärte eine junge Frau, während sie den Raum betrat. Sie hatte blonde Locken, die hinter dem Kopf zusammengebunden waren, musste etwa Ende zwanzig oder Anfang dreißig sein. Dem Kittel nach ein Mitglied des Ärzteteams, vielleicht eine Assistenzärztin. "Ein paar Patienten, unsere Notbesetzung, zwei Männer vom Rettungsdienst und der Pförtner, mehr sind wir nicht. Wenn sie nicht zu einer dieser Gruppen gehören, tut es mir leid."
Sie winkte den Mann mit der blutigen Nase zu sich und die beiden verschwanden im Gang hinter der Tür. Ich fühlte mich ehrlich erleichtert, als sie den Raum verlassen hatten.
Waren wir umsonst den ganzen Weg hierher gekommen? "Ich schlage vor, trotzdem zu warten, vielleicht tauchen sie ja noch auf", sagte ich zu den anderen. "Es gibt genug Decken, damit können wir es uns gemütlich machen."
Peter nickte und zückte sein Telefon, um seiner Frau Bescheid zu geben. Der wahre Grund, warum ich bleiben wollte? Inzwischen war ich einfach zu müde. Ich wollte nicht mehr rausgehen, in den Schnee. Bis zum Stapel Decken kam ich aber noch. Ich schnappte mir eine, wickelte mich ein, setzte mich auf einen der Stühle und schlief sofort ein.
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Der Scheibenwischer kam kaum hinterher, den Schnee von der Windschutzscheibe meines Autos zu wischen. Unerbittlich wehte er mir entgegen.
Ich war auf der Rückfahrt von Freunden und plötzlich hatte es zu schneien angefangen. Bisher waren wir diesen Winter davon verschont geblieben.
Solange die Straße morgen auf dem Weg zur Arbeit geräumt war, war das auch nicht so schlimm.
Früher war ich gern mal durch den Schnee gewandert. Die Natur kam einem ganz anders vor, wenn sie in Weiß gehüllt war. Seit mit dem Studium und der Arbeit die Zeit knapper geworden war, war ich zu so etwas gar nicht mehr gekommen. Vielleicht fand sich ja am Wochenende jemand für eine kleine Wanderung.
Ich drehte die Musik weiter auf und sang mit.
Ich war so sehr mit dem Ergebnis meiner Gesangskünste zufrieden, dass ich nicht auf die Straße achtete. Mein Auto kam ins Schlittern und ich verlor die Kontrolle.
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Ich schreckte hoch.
Ich wusste nicht mehr, was ich geträumt hatte. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, denn ich konnte mich nie an meine Träume erinnern. Vielleicht war mein Leben zu ereignislos, als das ich mich im Schlaf damit auseinandersetzen musste. Diesmal musste es aber etwas Furchtbares gewesen sein. Ich wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn und atmete tief durch, um meinen Puls zu beruhigen.
Die anderen hatten sich ebenfalls Stühle zurechtgeschoben und versuchten, zu schlafen. Gab es denn keine freien Betten im Krankenhaus? Vom Personal war niemand zu sehen. Davon, dass hier eine Notfall-Sammelstelle sein sollte, war wirklich nichts zu merken.
Dimitri und Sergej standen immer noch Wache an der Tür. In ihrer Gang waren sie die Ältesten und hatten eine Vorbildfunktion. Die mutigen Anführer, die für den Schutz der Jüngeren einstanden.
Mein Puls normalisierte sich gerade, da schwang die Tür auf der anderen Seite des Raumes auf und trieb ihn mit einem Schlag wieder in die Höhe.
Die junge Ärztin, jetzt in weißer Wintermontur, orangefarbenen Leuchtstreifen und einem roten Kreuz auf der Brust, sowie zwei Männer in der Uniform des Rettungsdienstes kamen hereingestürmt.
"Gibt es einen Notfall?" Sergej hatte die Stange an die Wand gestellt, streckte sich und lockerte seine Muskeln.
"Ein Hundebiss. Das Bein ist schwer verletzt. Ist in der Nähe passiert, sonst würden wir nicht rausgehen", antwortete ihm einer der Sanis, als er an ihm vorbei eilte.
"Könnte gefährlich werden, bei dem, was da draußen so unterwegs ist. Schläger und freilaufende Hunde. Zumindest den Hunden ist es egal, ob ihre Opfer zum Rettungsdienst gehören." Die Worte richtete Sergej an Dimitri. Der Rettungstrupp war schon außer Hörweite.
"Oder Eiszombies, denen wär das auch egal. Bei all den Bissen, nicht unwahrscheinlich, dass die heut Nacht ebenfalls ihr Unwesen treiben." Das war mein leidlicher Versuch, komisch zu sein. Aber Dimitri und Sergej starrten mich nur fragend an. Sie hatten offenbar nicht die gleichen Social-Media-Beiträge gelesen wie ich.
"Schlimmere Eiszombies als dich kann es doch gar nicht geben." Klara gähnte. Sie war genau an der richtigen Stelle der Unterhaltung aufgewacht. Wenigstens waren wir, wenn es um Eiszombiehumor ging, auf der gleichen Wellenlänge. Ich kommentierte ihren Satz mit einem Eiszombiestöhnen.
"Wer rettet am Ende den Rettungsdienst, wenn was passiert? Jetzt wo die weg sind, ist ja nur noch die Notbesetzung hier. Wir sollten hinterher." Dimitri hatte seine Entscheidung gefällt und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu.
Die beiden Brüder griffen sich ihre improvisierten Waffen und Sergej sah zu mir rüber. "Kommst du auch mit? Je mehr wir sind, desto weniger kann passieren."
"Ist das euer Ernst?" Ich hatte doch nach all den Strapazen gerade erst ein paar Minuten Schlaf bekommen und ich war wirklich der Letzte, der sich zum Kämpfen eignete.
"Ach komm schon, Daniel", antwortete Sergej. "Wegen der alten Zeiten ... und du schuldest uns sicher mehr als nur einen Gefallen."
Ein Bild blitzte auf. Ich war umringt von den falschen Leuten, meine Nase blutete und wenn mir die beiden nicht geholfen hätten, wäre noch mehr kaputt gegangen.
"Au ja, Eiszombies jagen!", jubelte Klara.
Ich fluchte innerlich und seufzte. Aber wenn selbst ein kleines Mädchen sich in die Gefahr stürzen wollte, wie konnte ich da kneifen? Außerdem hatte Sergej recht.
"Ich gehe mit. Du bleibst hier, Klara." Dann richtete ich mich an Peter. "Könnt ihr auf sie aufpassen, solange wir weg sind?"
"Ja, natürlich. Vor Tagesanbruch wollte ich sowieso nicht zurückgehen, das hab ich auch meiner Frau gesagt. Vielleicht kommt Moritz ja doch noch hierher."
"Aber …", begann Klara zu protestieren.
"Nein, du bleibst hier", unterbrach ich sie. "Was soll ich denn deinem Opa sagen, falls dir was passiert?" Ihm das in Zeichensprache klar zu machen, das wollte ich mir gar nicht vorstellen.
Max rettete mich und wandte sich Klara mit einem gewinnenden Lächeln zu. "Klara, willst du mal schaun, was ich für Spiele auf meinem Handy hab?"
Klara zögerte erst, dann breitete sich ein begeistertes Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Beruhigt legte ich die Decke beiseite und schloss mich der Gruppe an.