Unten am Boden kämpfte das Rudel um die besten Beutestücke.
Das konnte ich mir nicht mehr ansehen. Mein Magen rebellierte und ich wandte mich ab. Mein Körper verlangte nach Ruhe und protestierte selbst gegen die wenigen Schritte, die ich brauchte, um mich vom Rand zu entfernen. Ich ließ mich rückwärts in den Schnee fallen und starrte in den Himmel, den die Morgendämmerung gerade aufzuhellen begann.
Der Himmel war klar, jetzt, da der Sturm abgeebbt war, und ich fragte mich, wo all der Schnee hergekommen war. Litt der Rest der Welt jetzt unter einer Dürre? Und dann das hier. Ich wagte den Versuch, eine ernsthafte Erklärung zu finden, gab aber wieder auf. Das war einfach alles zu absurd, es konnte nicht real sein. Meine Gedanken kreisten und ich starrte weiter nach oben.
Vielleicht würde ich ja gleich daheim in meinem warmen Bett aufwachen. Nur ein Traum, der mich einige Minuten beschäftigen würde und dann wieder vergessen war. Ich schloss die Augen.
Knirschende Schritte näherten sich mir.
"Wenn du erfrieren willst, dann bleib ruhig liegen und schlaf ein", hörte ich die teilnahmslose Stimme der Ärztin.
"Würde das einen Unterschied machen?", antwortete ich, die Augen immer noch geschlossen. "Hier oben oder da unten? Was waren das überhaupt für Viecher? Wölfe?"
"So wie du vor ihm davon gerannt bist, scheinst du doch an deinem Leben zu hängen." Das war Sergejs Stimme. Sie klang erschöpft und nach zurückgehaltenen Tränen. "Danke, dass du sie von uns abgelenkt hast."
Nicht, dass das wirklich mein Plan gewesen wäre.
"Sehen aus wie Polarwölfe", erklärte die Ärztin. "Diese hier sind aber viel zu groß und die Proportionen stimmen nicht. Vielleicht irgendeine Mischung?"
"Eine Mischung aus Wolf und was? Einem Bären? So groß, wie die waren. Die Größe hat mir das Leben gerettet, das Vieh wäre fast in der Gasse stecken geblieben." Ich stützte mich auf den Ellbogen ab und verdeckte meine Augen gegen die aufgehende Sonne.
"Ja, dein Glück. Ich kann das einfach nicht glauben, was da grad passiert ist. Und Dimitri …" Sergejs Stimme war schwach und versagte zum Ende des Satzes hin.
Das Bild des Sanitäters, den die Wölfe zuerst angefallen hatten, flackerte vor meinem inneren Auge auf. Ich schüttelte den Kopf, um es zu vertreiben.
"Das mit deinem Bruder tut mir leid. Auch die beiden Sanis …" Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Was sagte man in so einer Situation denn auch?
Es herrschte einige Minuten Stille, während wir uns innerlich sammelten. Ich vermutete zumindest, dass die anderen das auch taten. Wenn das überhaupt möglich war.
"Was machen wir jetzt?", fragte ich in die Runde und brach das Schweigen. "Da runter können wir ja kaum."
"Ich werde mal die Kollegen in der Leitstelle kontaktieren. Vielleicht wissen wir dann mehr." Die Ärztin zog ihr Smartphone aus der Tasche und entfernte sich ein paar Schritte von uns.
Sergej streckte mir die Hand entgegen. "Komm, steh auf. Sie hat recht. Wenn du da weiter liegen bleibst, kühlst du aus." Er sah wieder gefasster aus. Wir Menschen waren gut darin, unsere Masken zu pflegen. Sergej und Dimitri waren vor der Gruppe immer stark aufgetreten. So etwas machte man sich irgendwann zu eigen. Vielleicht war seine Ruhe auch echt.
Ich ließ mir auf die Beine helfen und bereute es gleich wieder. Meine Beine brannten und meine Unterarme pochten wie verrückt an den Stellen, an denen ich auf dem Balkon aufgeschlagen war. Da runter konnten wir wirklich nicht mehr. Ich würde keine drei Schritte weit kommen.
Ich warf einen Blick zur Ärztin. Sie diskutierte mit gedämpfter Stimme und schien sauer auf ihren Gesprächspartner zu sein. Ob uns niemand helfen würde? Diese Situation konnte doch nicht ignoriert werden, oder doch? Stand es nicht nur bei uns so schlimm und es konnte uns niemand helfen?
Die Sonne war jetzt komplett aufgegangen. Es knisterte und knackte, überall wo die Sonnenstrahlen auf Eis oder Schnee trafen.
Sergej massierte seine Oberschenkel. Er war besser durchtrainiert als ich, was keine Kunst war. Die Flucht hatte aber auch bei ihm Spuren hinterlassen. Der rechte Ärmel seiner Jacke und seines Pullovers waren zerrissen, der Arm darunter aufgeschrammt. Doch im Gegensatz zu mir konnte er die Strecke bestimmt noch mal in der gleichen Geschwindigkeit zurücklegen. Ich wusste nicht, welchen Job er jetzt ausübte, aber bestimmt besuchte er wie früher immer noch das Fitnessstudio. Konnte er es mit der richtigen Ausrüstung mit einem der Riesenwölfe aufnehmen?
Damit wäre die Rolle des Kämpfers und des Heilers in unserem Trupp bereits belegt. Oh Mann, jetzt dachte ich schon im Rollenspieler-Jargon. Kein Wunder, eben waren wir Riesenwölfen begegnet. Welche Rolle konnte ich wohl einnehmen? Hoffentlich mehr, als nur den Lockvogel. Doch ich kam nicht mehr dazu, den Gedankengang bis zum Ende durchzugehen. Das Gespräch war beendet und die Ärztin kehrte zurück.
"Okay. Es gibt eine gute und eine Menge schlechte Nachrichten." Sie hielt kurz inne und ließ ihr Handy in eine Jackentasche rutschen. "Der Schnee liegt auch einige Kilometer um die Stadt höher als üblich. Vororte sind begraben, der Verkehr staut sich und die weiträumigen Umleitungen haben noch nicht gegriffen. Die Räumdienste haben aufgegeben, sich nach drinnen vorzuarbeiten, da es einfach keinen Platz gibt, an den man so viel Schnee räumen könnte. Medizinische Unterstützung und Polizei kommen auf dem Boden also nicht zu uns durch. Helikopter wären eine Möglichkeit gewesen. Aber die Landeplätze sind zugeschneit."
Keine tollen Neuigkeiten. Wo blieb die Gute? Es gab mehr Eis für unsere Drinks, als wir uns jemals erträumen konnten?
"Der Bevölkerung wird geraten, in den Häusern zu bleiben. Besonders nach meinem Bericht über die wilden Tiere. Die Warnung wird auf allen möglichen Kanälen gesendet."
"Die haben Sie nicht für bekloppt erklärt?", warf Sergej ein.
"Nein, im Angesicht der anderen Umstände nicht."
Irgendwie zweifelte ich inzwischen daran, dass es wirklich eine gute Nachricht gab. "Es gibt Umstände, die noch schlimmer sind, als der Winter des Jahrtausends und riesige Mutanten-Wölfe?" Ich blickte sie fragend an.
"Ja, kommt mal hier rüber."
Sie ging zu der Seite, auf der ich auf das Dach geklettert war, und zeigte in die Ferne.
Ein schmaler, langer Metallzylinder ragte dort wie der Schiefe Turm von Pisa aus dem Boden, umgeben von einem Ring aus Trümmern. Die Gebäude, die sich dort befunden hatten. Dieser innere Teil des Rings war schneefrei. Ein schwacher Trost für alle, die sich in den Gebäuden befunden hatten.
"Scheiße, was …", stammelte ich.
"Die Umstände waren Grund genug, den Notstand auszurufen. Die Armee wird Truppen in der Nähe des unbekannten Objekts abwerfen und Experten, um es zu untersuchen."
Ich verbog meinen Verstand und es klickte.
"Sie denken, dass es einen sicheren Ort in der Stadt geben wird. Diesen … Zylinder, weil es dort vor Militär nur so wimmeln wird? Ist das die gute Nachricht?"
"Ja, das ist alles, was ich der Situation an Gutem abgewinnen kann."
"Na, wenigstens ist das Wolfsrudel auf der anderen Seite." Sergejs Stimme war bitter und er starrte in Richtung des Zylinders. "Was ist mit den Leuten im Krankenhaus?"
"Die sind dort sicherer als wir hier." Sie verschränkte die Armee vor der Brust. "Oder willst du wirklich noch einmal da durch?" Sie zeigte in Richtung des Rudels. "Und dann auf dem Weg zum Zylinder gleich noch mal? Dann sterben wir mit Sicherheit."
"Meine Mutter ist noch im Krankenhaus! Ich kann sie nicht zurücklassen!" Sergejs Gesicht war verzerrt und seine Fäuste geballt. Ließ er sie zurück, verlor er gleich das nächste Familienmitglied. Ob sie in der Verfassung war zu fliehen? Ich hoffte es für ihn.
"Und ich habe Klara versprochen, ihren Opa zu finden", sagte ich ruhiger als Sergej. Ruhiger, als ich es in dieser Situation sein sollte. "Wenn er draußen war, als der Sturm anfing … Ich denke nicht, dass er noch lebt. Aber ich würde mich auch nicht wohl dabei fühlen, Klara zurückzulassen. Können wir nicht einen Bogen um die Wölfe machen?"
"Wenn ihr das wirklich wollt, halte ich euch nicht auf. Aber ich werde direkt zu dem Zylinder gehen. Ich denke nicht, dass ihr noch einen Arzt braucht, falls es euch erwischt."
Sergej hob eine Faust. Wollte er sie schlagen? Dann ließ er sie wieder sinken. Ich verstand ihn. Es kam auch mir so vor, als kümmerte es sie nicht im Geringsten, was gerade passiert war, was uns passiert war. Er stieß einen Brüller aus, der die ganze Nachbarschaft wecken musste und entspannte sich dann etwas. "Wir lassen sie nicht zurück", sagte er entschlossen und ich nickte zustimmend. "Mir ist egal, was Sie tun, aber wir müssen uns vorher besser ausrüsten." Er ließ eine kleine Pause, als überlegte er. "Ich kenne dieses Gebäude. Im obersten Stock ist mein Fitnessstudio."
Ich lag wohl nicht so falsch damit, dass er noch trainierte.
"In den Etagen darunter gibt es verschiedene Läden, auch ein Sportgeschäft. Keine Ahnung, wie begehbar die Strecke ist. Aber wir brauchen richtige Schneekleidung. Vielleicht sogar eine Kletterausrüstung."
"Und Waffen", warf ich ein. "Oder irgendwas, was man dazu umfunktionieren kann."
Sie blickte uns mit kalten Augen an.
"Na gut, ich bin überzeugt", gab sie zu. "Aber wie kommen wir hinein?"