Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und stützte mich mit Handflächen und Nasenspitze am Fenster des Empfangsraums ab, um sicherzugehen, dass der Pförtner nicht tot unter seinem Schreibtisch lag.
Ich entdeckte nichts, auch kein Blut. Dann war zumindest hier noch keine Katastrophe passiert. Wenigstens keine, an der Killerwölfe beteiligt waren.
"Okay, scheinbar ist keiner da." Ich seufzte. "Dann schlagen wir diese Scheibe eben auch noch ein. Führst du eine Strichliste?"
"Nein", sagte Sergej trocken und zertrümmerte die Scheibe.
Wir stiegen über den Rand der zerstörten Glastür und schlichen auf den Warteraum zu. Ich hatte wohl mit den Schneeschuhen ein paar Scherben mitgenommen, die jetzt verräterisch bei jedem Schritt knirschten und jeden warnten, der uns auflauerte.
Der Warteraum war ebenfalls leer.
"Komisch. Meinst du, sie haben das Krankenhaus doch schon evakuiert?", fragte Sergej.
"Nein, das hätte die Ärztin sicher gewusst. Wir gehen einfach rein. Wo liegt deine Mutter?"
"Hier lang."
Wir marschierten zu den Aufzügen und drückten vergeblich auf die Knöpfe. Kein Signal, dass einer kam. Nicht einmal die Positionsanzeigen leuchteten. War er außer Betrieb?
Sergej fluchte auf Russisch und war schon durch die Tür zum Treppenhaus, als ich noch über die Ursache des Ausfalls nachdachte.
Treppen? Ich stöhnte und fingerte am Verschluss des Brustgurts meines Rucksacks herum. Meine Arme brannten, als ich sie durch die Gurte zwängte. Dumpf schlug der Rucksack auf den Boden auf und erleichtert steckte ich meinen Kopf durch die Tür.
"Welche Etage?", rief ich Sergej hinterher. Ich griff mir Bogen und Messer. Eh wir uns versahen, fanden wir uns in einem Horrorstreifen wieder. Da war ich lieber vorbereitet.
"Vierte", keuchte er von weiter oben.
Ich folgte ihm und hörte oben bereits die Tür zuschlagen. Die Wände waren in Krankenhausgrün und Weiß gehalten und selbst das Treppenhaus verströmte den typisch sterilen Geruch eines Krankenhauses. Dank des Ziehens in meinen Oberschenkeln humpelte ich die ersten paar Stufen nach oben.
"Du bist so ein Weichei!", schimpfte ich über mich selbst, biss ich die Zähne zusammen und beeilte mich, ihm zu folgen.
Der Flur der vierten Etage war still. Sergej musste schon weiter voraus sein. Ich spähte in beide Richtungen des Gangs. Vielleicht stand irgendwo eine Tür offen. Damit hatte ich kein Glück, stattdessen entdeckte ich weit hinten das Stationszimmer.
Der Gang war nur schwach beleuchtet. Sparmaßnahmen? Vorsichtig, mit einem Pfeil an der Sehne, humpelte ich auf mein Ziel zu. Nach ein paar Metern hielt ich inne und lauschte. Es herrschte Totenstille und ich setzte meinen Weg fort.
Hinter dem Tresen entdeckte ich tatsächlich einen lebenden Menschen. Eine Krankenschwester, die lautlos mit ihrem Handy beschäftigt war. So beschäftigt, dass sie mich nicht bemerkte.
"Tschuldigung, ist hier grade jemand in einem Schneeanzug vorbeigekommen?" Ich wusste leider nicht mehr, wie Sergejs Nachname war, und etwas Besseres fiel mir nicht ein.
Sie zuckte leicht zusammen, ließ ihr Handy verschwinden und blickte auf. "Zimmer 426. Oh …" Sie starrte mich an. "… wird das ein Überfall?"
Ich musste in meinem Schneeanzug, bewaffnet mit Messer und Bogen, wirklich bedrohlich aussehen. Gut so!
"Nein, lange Geschichte. Draußen ist die Hölle los. Danke für die Info."
"Kein Problem. Ich hoffe, das Wetter wird besser. Meine Schicht ist eigentlich schon vorbei. Natürlich ist niemand …"
Doch ich war schon halb im Zimmer 426 und ihr Klagelied verklang hinter mir. Da stand Sergej, vor seiner Mutter, die in Tränen aufgelöst war. Ich machte einen Schritt zurück, wieder hinaus auf den Gang. Da würde ich nur stören. Wenigstens ihr ging es gut und das Krankenhaus war noch sicher. Ob wir am Ende doch hierbleiben konnten? Mein Kopf überschlug in Windeseile ein Katastrophenszenario und kam zu dem Schluss, dass uns hier schnell die Lebensmittel ausgehen würden.
Meine eigene Wohnung war auch nur eine schwache Alternative. Klar, der Raviolivorrat war existent. Doch was, wenn die Wasserleitungen einfroren oder die Stromversorgung abbrach?
Wenn ich nur gewusst hätte, wie lange der Schnee anhielt. Jetzt schien das Wetter stabil. Aber es waren in den letzten Stunden so viele merkwürdige Sachen geschehen, dass ich mir bei nichts wirklich sicher war. Am Ende gab es an diesem Abend weitere zwei Meter Neuschnee.
Wenn die Armee Entwarnung gab, konnte ich immer noch zurück in meine Wohnung. Irgendwann musste das ja der Fall sein. Solange konnte ich bestimmt bei Freunden oder Verwandten unterkommen. Oder, im schlimmsten Fall, mein Lager auf der Arbeit aufschlagen. Das gefiel meinem Chef sicher.
Sergej kam aus dem Zimmer.
"Wir packen ihre Sachen und schauen dann, dass wir hier wegkommen."
"Schafft deine Mutter das?"
"Ja, sie ist okay. Sie sollte eigentlich gestern schon entlassen werden, es kam aber kein Arzt vorbei. Stattdessen kam der Schnee. Jetzt warten wir auch nicht mehr auf ihn."
"Okay, treffen wir uns unten? Ich muss vielleicht noch ein paar Sachen aus dem Rucksack aussortieren, das wird mir sonst zu viel."
Er nickte und verschwand wieder im Zimmer. Ich machte mich auf den Weg zurück. Vorbei an der Stationsschwester, die diesmal nicht mehr aufblickte, und runter durch das Treppenhaus. Warum funktionierte dieser blöde Aufzug nicht?
Als ich auf der Höhe des ersten Obergeschosses ankam, wurde die Tür aufgestoßen und ich musste ihr ausweichen, um nicht erschlagen zu werden. Plötzlich standen Klara und der Pförtner vor mir.
"Hey, du siehst aber fertig aus", brach es aus Klara heraus. "Aber deine Klamotten sehen besser aus!"
"Äh, danke? Wir dachten schon, ihr wärt verschwunden." Ich war erleichtert, dass es ihr gut ging.
"Von Eiszombies gefressen?" Sie grölte. Wo hatte sie das bloß her? Von mir definitiv nicht ... oder doch?
"Gefressen werden ist kein gutes Thema." Ich setzte eine ernstere Miene auf. "Nicht nach dem, was uns draußen passiert ist."
"Was ist passiert?", schaltete sich der Pförtner ein.
"Wir treffen uns gleich unten mit Sergej und seiner Mutter. Dann besprechen wir alles", vertröstete ich ihn. "Wo sind Peter und Max?"
Der Pförtner zuckte mit den Schultern. "Die sind wieder nach Hause. Frühstücken. Das Krankenhaus informiert sie, wenn sich etwas mit dem anderen Jungen ergibt."
"Wir waren auch grad frühstücken!" Klara rieb sich den Bauch.
"Ich konnte die Kleine ja nicht allein nach Hause schicken. Und wir hatten noch Notrationen in der Kantine", klärte mich der Pförtner auf.
"Sicher lecker", sagte ich mit gerümpfter Nase.
"Ne, nicht wirklich." Klara zog eine Grimasse und bestätigte meine Meinung über die Nahrungsmittelqualität im Krankenhaus.
Wir kamen unten an und warteten vor Treppenaufgang und Aufzügen. Der Pförtner blieb auch. So sah er wenigstens nicht, was wir seinem Eingang angetan hatten. Nach einer Weile schwang die Tür auf und ich staunte, mit welcher Leichtigkeit Sergej die Reisetasche seiner Mutter schulterte und sie dabei immer noch stützen konnte.
"Setzen wir uns in den Warteraum, da erzähle ich alles." Ich griff nach meinem Rucksack und zog ihn hinter mir her.
Im Warteraum klärte ich die Drei darüber auf, was uns zugestoßen war. Ein Balanceakt, da ich Klara nicht alle Details offenbaren wollte. Wölfe, Zylinder, Militär. Beklommenes Schweigen war das Ergebnis unserer Geschichte.
"Ist es nicht zu gefährlich, bis zu diesem Zylinder zu laufen, wenn draußen Wölfe unterwegs sind?", fragte Sergejs Mutter zögerlich. "Sollten wir nicht hier warten, bis der Schnee weg ist und jemand kommt, um uns zu retten?"
Der Pförtner meldete sich zu Wort. "Bis uns hier die Nahrungsmittel ausgehen, das wird etwas dauern. Warme Mahlzeiten werden normalerweise geliefert. Wir haben aber einen Vorrat an Brot und unverderblichem Aufstrich und abgefülltes Wasser. Vom Wasser noch am meisten. Im Krankenhaus befinden sich nur wenige Patienten und noch weniger Personal. Aber …"
Er atmete durch.
"… nachdem was ich jetzt gehört habe, bin ich mir nicht sicher, ob ich selbst hierbleiben wollte, wenn es nicht mein Job wäre. Das Paar, das diese Nacht angefallen und eingeliefert wurde, konnte nicht gerettet werden. Schläger sind draußen unterwegs. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis eines dieser Übel auch uns heimsucht. Das hier ist keine Festung. Glastüren halten keinen auf."
Wie recht er hatte.
"Doch es gibt eine Möglichkeit, einen großen Teil der Strecke ohne Gefahr zurückzulegen", fuhr er fort. "Die Tunnel unter der Stadt. Es gibt ein paar zwischen den wichtigen Gebäuden, die auch heutzutage gelegentlich noch benutzt werden. Andere wurden verschlossen, könnten aber noch begehbar sein. Die Gänge wurden alle mit Wegweisern versehen. Sich in den zugänglichen Tunneln zurechtzufinden, sollte also kein Problem sein."
Ich packte die Karte der Stadt aus und zeichnete den Zylinder und den geschätzten Bereich ein, der jetzt in Ruinen lag. "Hier müssen wir hin".
"Darf ich?" Er machte eine Geste in Richtung meines Kugelschreibers und ich reichte ihn weiter.
"Hier liegt das Rathaus. Bis dorthin führt ein Tunnel, der zugänglich ist. Man braucht allerdings Schlüssel, um dort hinzukommen."
"Und ihr habt hier keine Schlüssel?", fragte ich.
"Jeder hat nur die Zugangsschlüssel für das eigene Gebäude. Wir haben welche für die Zugänge zum Krankenhaus."
Diese anderen Türen waren sicher nicht aus Glas.
"Aber, ihr könntet Glück haben." Er zeichnete eine Linie zu einem grünen Bereich in der Nähe des Rathauses. "Hier im Park gibt es auch einen Zugang. Ein Teil des künstlichen Baches, der durch den Park fließt, geht vor dem Eingang als Wasserfall herunter. Der Eingang ist vergittert und nur mit einem Vorhängeschloss versehen. Kein Problem für einen Bolzenschneider."
"Den wir aber grad auch nicht zufällig dabei haben", warf ich ein.
"Da finden wir sicher etwas im Schuppen der Hausmeisterei. Auch wenn ich den Hausmeister schon fluchen hören kann, dass wieder mal was fehlt." Er grinste. "Natürlich nur, falls die Stadt nicht im ewigen Eis versinkt." Er sah sich die Karte an. "Von dort aus ist es nicht mehr weit bis zum Zylinder."
"Das klingt gut", stimmte Sergej zu. "Hoffentlich nicht zu gut." Seine Mutter nickte langsam. Sie war von dieser Situation eindeutig überfordert. Und Klara? Die strahlte. In großen Lettern stand das Wort 'Abenteuer' in ihr Gesicht geschrieben.
Wir rüsteten uns neben dem Bolzenschneider auch mit einer Hacke und zwei Schaufeln aus. Wir konnten ja nicht wissen, wie zugeschneit der Eingang war. Waren wir wieder mal total überladen? Nun, wie konnte es auch anders sein?
Der Pförtner führte uns in das Untergeschoss des Krankenhauses. Vorbei an Schulungsräumen, Lagerhallen und der Leichenhalle. Ich bildete mir ein, das Stöhnen hinter den verschlossenen Türen zu hören. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter.
Je weiter wir gingen, desto älter wurden die Türen und Wände der Räume. Bis wir schließlich vor einer stabilen grün gestrichenen Metalltür anhielten. Er schloss sie auf und Dunkelheit empfing uns.
Der Gang war nicht beleuchtet.
"Tut mir leid, das Krankenhaus läuft seit zwei Stunden auf Notstrom."
Deswegen funktionierten die verdammten Aufzüge nicht.
Er zog eine alte Taschenlampe aus der Tasche.
"Das hilft euch vielleicht. Viel Glück."
Ich nahm sie ihm ab. "Du kommst nicht mit?"
"Nein, einer muss ja den Eingang bewachen." Er grinste schief, kratzte sich am Hinterkopf und schob dann seine Mütze wieder zurecht.
"Danke für deine Hilfe. Wir melden uns beim Krankenhaus, wenn wir mehr wissen."
Er war mir inzwischen viel sympathischer als noch in der Nacht. Auch die anderen verabschiedeten sich, dann ging es in den Tunnel.
Der sterile Krankenhausgeruch schwand und ein Hauch von Moder nahm seinen Platz ein. Die Wände waren anfangs noch verputzt, später kam mehr und mehr vom Mauerwerk zum Vorschein, mit dem die Tunnel wohl das vorletzte Mal restauriert wurden. Ich stellte mir unseren Marsch mit Fackeln vor. Flackernde Schatten an den Wänden und das Rascheln der Flammen. Abenteuerlicher, aber auch unheimlicher. So war ich mit der Taschenlampe bewaffnet und jeder der anderen hatte sein Smartphone gezückt und der Weg vor uns wurde von gleichmäßig hellem Kunstlicht erleuchtet.
Stumm marschierten wir durch diese Tunnel, die Jahrhunderte überdauert hatten und von einer anderen Zeit berichteten. Ich fragte mich, was für eine Zeit uns wohl bevorstehen würde. Da ließ ein dumpfer Schlag den Tunnel erbeben und Putz rieselte von der Decke auf uns herab.