"Wow, was war das?" Klara hüpfte vor Schreck.
"Wahrscheinlich ist die Armee jetzt angerückt und schießt mit Raketen auf Wölfe", scherzte ich. "Können die nicht warten, bis wir draußen sind?"
"Haaaaallo, wir sind noch hii-iier!", rief Klara, den Kopf nach oben gerichtet. Nur ein langgezogenes Echo antwortete ihr.
Sergej hatte eine finstere Miene aufgesetzt. Ich verstand, dass ihm nicht nach Scherzen zumute war. "Wir sollten uns beeilen", murmelte er. "Geht das bei dir, Mama?"
Sie nickte, aber mir entging der Schweiß nicht, der ihr auf der Stirn stand. Auch Sergej nicht. Unsere Blicke trafen sich und ich sah, dass er es wusste. Sie war tapfer. Nun, von irgendwem mussten ihre Söhne das ja geerbt haben. Doch wenn hier etwas schief ging, war sie vielleicht die Erste, die es erwischte.
Der Boden erzitterte. Eine konstante Vibration, die einige Sekunden anhielt.
"Wenn das weiter so wackelt, werden meine Füße taub", stellte Klara fest und kicherte.
Ich war versucht, darauf zu antworten, die Situation aufzulockern, aber Sergejs ernstes Gesicht, starr auf den Tunnel vor uns gerichtet, verunsicherte mich. Klara würde es guttun, wenn wir als Erwachsene die Ruhe bewahrten, so taten, als wäre alles nur halb so schlimm oder eine Art Spiel. Und vielleicht würden wir in ein paar Tagen ungläubig zurückblicken, auf das, was hier geschehen war. Zumindest sie würde das können, hoffte ich. Ich vielleicht auch, denn ich hatte niemanden verloren.
Das Beben setzte wieder ein und Klara machte große Augen. Ich wusste, dass ihr bereits der nächste Spruch auf der Zunge lag, doch Sergej hatte keine Geduld mehr.
"Kommt weiter!", fuhr er uns an, die Augen aufgerissen. "Keine Zeit für Scherze!"
Er hatte natürlich recht damit, die Sache ernst zu nehmen, aber er musste doch auch auf Klara Rücksicht nehmen. Ich warf ihr einen entschuldigenden Blick zu.
Sergej beschleunigte seinen Schritt und trieb unsere Gruppe durch den Tunnel. Seine Mutter keuchte. Sie würde das nicht mehr lange durchhalten.
Das Beben gipfelte in einer Erschütterung irgendwo hinter uns. Steinchen rieselten auf uns herab und ein Riss in der Wand überholte mich.
"Schneller!", rief Sergej.
Wir legten noch einmal einen Zahn zu. Was auch immer hier passierte, wir sollten auf keinen Fall da sein, wenn es größeren Schaden anrichtete.
Ein Krachen ließ den Tunnel erzittern. Es war so stark, dass ich einen oder zwei Zentimeter vom Boden abhob. Dann brach der Tunnel hinter uns zusammen.
Ein Geräusch, ohrenbetäubend wie das Zischen einer Dampflok, erklang hinter uns. Ich drehte mich um und starrte in ein trübes Auge, größer als mein Kopf. Umgeben von einem Meer an weißem Fell.
"Was ist das?", rief ich ungläubig.
Wie groß musste der restliche Körper sein, wenn das alles war, das ich davon erkennen konnte?
Auge, Fell und der Rest des Monstrums setzten sich in Bewegung und ließen den Boden erbeben. Schaben und Kratzen begleiteten seinen Vormarsch, und ich biss mir bei dem Geräusch unwillkürlich auf die Unterlippe.
Die anderen waren bereits ein Stück voraus, während ich noch zurückgeblickt hatte, und ich versuchte aufzuholen.
Hinter mir fielen weitere Teile des Tunnels in sich zusammen, bis die Kreatur innehielt. Auch wenn es total selbstmörderisch war, drehte ich mich nochmal um.
Das Auge war sogar noch größer, als ich zuerst gedacht hatte, und füllte sicher ein Viertel des Tunnels aus. Ich hielt inne und den Atem an. Wir starrten uns gegenseitig an. Das dachte ich wenigstens. Es schnüffelte. War es am Ende blind?
So lautlos wie möglich legte ich die Schaufel, die ich trug, beiseite. Stattdessen befreite ich meinen Bogen aus den Klettverschlüssen meines Rucksackes, legte einen Pfeil auf und zielte auf die Kreatur. Zischend sauste der Pfeil davon. Der Schuss verfehlte das Auge.
"Mist!", fluchte ich still. Ich hatte meine Fähigkeiten deutlich überschätzt und musste mir eine neue Rolle für die Abenteurergruppe suchen.
Das Vieh heulte auf und setzte die Zerstörung des Tunnels fort. Ich schnappte mir die Schaufel und rannte den andern hinterher. Das würde ich sicher kein zweites Mal versuchen.
Ein Stück vor mir sah ich Sergej, wie er mit der Feueraxt ausholte. Holz splitterte. Ein weiterer Schlag, dann verschwand die Gruppe. Das musste der Weg in den Park sein! Jetzt würden sie jedoch Zeit brauchen, um das Schloss zu öffnen. Mit dem Bogen konnte ich nicht viel ausrichten, aber opfern wollte ich mich auch nicht.
Ich tastete im Laufen meine Taschen ab und stieß dabei auf die Leuchtpistole. Hastig zerrte ich sie heraus, legte eine Patrone ein und drehte mich um.
"Schau mir ins Gesicht, du Monster!", brüllte ich theatralisch in seine Richtung. "Wenn du mich schon fressen willst, schau verdammt nochmal her!"
Wenigstens sah keiner, wie ich mich kurz vor meinem Ende noch einmal lächerlich machte.
Das Rumpeln stoppte und das Monster kam Auge in Auge mit mir zum Stehen. Ich schloss die Augen und drückte ab.
Und traf?
Ich blinzelte.
Mit einem Zischen hatte sich das Signalgeschoss in das Gesicht des Monsters gebohrt und leuchtete dort nun anstelle des Auges. Es bäumte sich auf und floh unter lautem Getöse. Licht brach durch die Decke des Tunnels, wo es sich gerade noch befunden hatte. Ein verlockender Fluchtweg, doch mit meinem Gepäck würde ich dort nicht hinausklettern. Stattdessen kletterte ich durch die zersplitterte Holztür.
Am Ende des Tunnels sah ich Licht und die Silhouetten der anderen. Ein Knacken, ein Klirren, dann fiel die Kette zu Boden und der Weg war frei. Der stetige Lauf des Wasserfalls hatte verhindert, dass sich direkt vor dem Eingang Schnee ansammelte. Es war aber kalt genug, dass er nicht mehr in voller Kraft vorankam. Links und rechts musste der Bach gefroren sein, denn nur in der Mitte plätscherte das Wasser noch herab. So konnten wir uns nacheinander am Wasserfall vorbeizwängen und bekamen nur ein paar Spritzer Wasser ab. Von dort aus balancierten wir den Hügel in den Park hinab.
Der Zylinder war jetzt viel näher, umgeben von Ruinen. Er war der Länge nach in mehrere gleichartige weiße Segmente unterteilt. Eine glatte Oberfläche, beinahe wie von einer dünnen Eisschicht überzogen. Das Ding ragte verdammt weit in den Himmel hinauf. Da wollte ich nicht hinaufklettern müssen.
Stattdessen wollte ich sein Aussehen genauer studieren, wurde aber von einem Krachen hinter mir an den Ernst der Lage erinnert. Eine Wolke aus Schnee, Eis und Dreck flog durch die Luft und das riesige Ungetüm grub sich aus der Erde. Vielleicht so groß wie ein kurzer Lastwagen. Entfernt erinnerte es an einen Maulwurf. Einem mit tödlichen Klauen, Stoßzähnen und weißem, wallendem Fell. Und es hatte, statt dem einem Auge, eine ausgebrannte Höhle. Seine Vorderpfoten gruben sich in die Erde und wirbelten noch mehr Schnee auf. Es schnaubte, dann trampelte es auf uns zu.
"Verdammt!", stöhnte ich. Das war unser Stichwort, nun selbst zu rennen, und mein Körper tat es sogar, ohne sich zu beklagen. Das Adrenalin trieb mich zu neuen Höchstleistungen an.
Irgendwie schaffte ich es, mich aus den Gurten meines Rucksacks zu befreien und die anderen folgten meinem Beispiel, warfen alles weg, was sie nicht brauchten und rannten um ihr Leben.
Sergejs Mutter fiel zurück. Nein!
Aber es war kein Wunder. In ihrem Alter war ein Sprint keine leichte Sache mehr. Sergej wurde langsamer und zog sie seitlich in den Schutz eines Hügels. Das Monster ignorierte sie und donnerte an ihnen vorbei. Gut.
Weiter hinter Klara und mir her. Nicht gut!
Klara stolperte und schrie. Ich bremste meinen Lauf und half ihr hoch, während der Mammut-Maulwurf näherkam. Dann rannten wir weiter. Weiter auf den Zylinder zu.
Ein paar Häuser am Rand der Ruinen standen noch. Vielleicht konnten wir dort irgendwo entkommen. Wahrscheinlicher war es aber, dass die Häuser wie der Tunnel einfach zertrümmert wurden.
Der Maulwurf brüllte und ein Luftzug, angereichert mit dem Gestank fauliger Erde, trieb uns noch schneller nach vorne. Mein Herz raste. Das Geschehen lief wie in Zeitlupe vor mir ab. Das rhythmische Stampfen des Monsters gab den Takt zum Wechseln der Bilder an.
Klara schrie etwas, aber ihre Stimme ging im Getöse unter. Ich drehte mich zu dem Monster um und hörte nur Stampfen und Schnauben. Sergej zeigte hinter mich, doch auch ihn verstand ich nicht. Ich drehte mich in die angezeigte Richtung um. Dezent mischte sich das Geräusch von Rotoren in das Stampfen.
Ein Helikopter stieg hinter dem Haus vor uns in die Höhe. Offene Seitenluke, ein Maschinengewehr im Anschlag und er eröffnete das Feuer auf das Monster.
Die Zeit holte mich wieder ein.
Der Riesenmaulwurf wurde von mehreren Salven durchlöchert, brach im Lauf zusammen, rutsche aber weiter auf uns zu. Ich hechtete zur Seite und zog Klara hinter mir her.
Eine Lawine ging neben uns in den Krater hinab, der sich um den Zylinder gebildet hatte.
Der Schütze am Maschinengewehr zeigte uns den Daumen und der Helikopter schwenkte in Richtung Zylinder, die Nase im Sinkflug. Aus dem Schatten der Ruinen erhoben sich zwei weitere, die den Ersten flankierten.
Ich hätte erleichtert aufgeatmet, wenn mein Atem nicht so gerast hätte. Ich ließ mich rückwärts in den Schnee fallen, den Blick auf den Zylinder gerichtet. Die Welt stand nun kopf. Zylinder und Helikopter.
Wir hatten es geschafft. Die Kavallerie hatte uns gerettet. Vielleicht konnte ich meinen Chef gleich anrufen und sagen, dass ich heute einfach nur etwas später zur Arbeit kam.
Dann fielen die Helikopter wie Sternschnuppen vom Himmel.