Aus meiner Lage hörte ich nur, wie die Helikopter auf dem Boden aufschlugen. Dank des Konsums absolut wahrheitsgetreuer Kinofilme konnte ich mir recht gut vorstellen, wie die Rotorblätter durch die Luft geschleudert wurden und sich in einiger Entfernung in den Boden gruben, irgendwo ein Brand begann und in einer gewaltigen Explosion ein Flammenregen über die Ruinen verteilt wurde.
Ich hatte nicht die Kraft, um aufzustehen und mir die Realität anzusehen. Meine Hoffnung, unsere Hoffnung, Schnee und Tod zu entkommen, war zerschlagen und ihre Trümmer vereinten sich mit dem Schutt der Stadt. Vielleicht würden noch einmal Truppen geschickt werden, sicher aber nicht ohne eine gründliche Beratung und der Beschwichtigung des medialen Aufschreis. Bis das geschah, waren wir schon lange Futter der Wölfe oder irgendetwas anderem, das noch höher in der Nahrungskette stand.
Sergej und seine Mutter erschienen in meinem Blickfeld. Die ältere Frau humpelte und wurde von ihrem Sohn gestützt.
"Was machen wir jetzt?", fragte er. In seinen Zügen konnte ich dieselbe Fassungslosigkeit erkennen, die auch in mir herrschte.
"Weiß nicht. Vielleicht hat jemand überlebt oder es gibt Waffen, die den Absturz überstanden haben. Wir verschanzen uns irgendwo und warten, bis Rettung kommt, die nicht abstürzt."
"Meinst du, die schicken noch mal jemand?" Sergej verlagerte sein Gewicht, damit es etwas bequemer für ihn war, seine Mutter zu stützen.
"Ich weiß es nicht. Ehrlich. Aber was bleibt uns übrig? Jetzt sind wir schon den Wölfen entkommen und dem Maulwurf. Sollen wir etwa aufgeben?"
Sergejs Mutter betete auf Russisch. Ob sie am Verzweifeln war oder wirklich glaubte, dass Gott sie retten würde? Ein Wunder war mindestens nötig, um uns aus dieser Lage zu helfen. Stöhnend drehte ich mich auf die Seite und kam wieder auf die Beine. Wenn ich schon davon sprach, nicht aufgeben zu wollen, konnte ich nicht am Boden liegen bleiben.
Klara stand am Rand des Kraters und starrte in die Richtung, in der die Helikopter abgestürzt waren.
"Sollen wir nicht versuchen, sie zu retten?", fragte sie.
Ich betrachtete das brennende Trümmerfeld und sein Anblick erstickte jeden Keim eines Rettungsversuches in mir. Ich sah mich zu Sergej um, doch der schüttelte nur grimmig den Kopf.
"Tut mir leid, Klara."
Ich konnte ihr nicht in die Augen blicken und ihr erklären, dass ich eigentlich Angst um meine eigene Haut hatte. Selbst wenn keiner den Absturz überlebt haben konnte, ohne danach nicht im Feuer verbrannt zu sein. Feige wandte ich mich ab, suchte die Umgebung nach meinem Rucksack ab und fand ihn schließlich, halb verschüttet. Ich zog an den Riemen und musste meine ganze Kraft dazu aufbringen, ihn ein Stück zu bewegen. Ich zog noch fester, bis Sehnen und Muskeln kurz davor waren, zu reißen. Dann gab das Geröll ihn frei und ich stolperte ein Stück zurück. Den Bogen suchte ich nicht. Wie war ich überhaupt auf die Idee gekommen, dass ich mit ihm irgendetwas ausrichten konnte?
Sergej hatte seine Handschuhe ausgezogen, kramte in seinem Rucksack und holte eine Flasche Wasser hervor. Die Haut seiner rechten Hand war in einer ungesunden Mischung von Blau und Violett verfärbt. Ich erinnerte mich vage, dass er bei der Flucht vor den Wölfen verletzt worden war, so schlimm hatte ich das aber nicht in Erinnerung. Er drehte sich, sodass die Hand wieder aus meiner Sicht verschwand, und gab die Flasche an seine Mutter weiter. Er selbst trank erst, nachdem sie fertig war.
Ich kehrte zurück zum Rand des Kraters, zurück zu Klara, die mit leerem Blick auf die brennenden Wracks herabschaute.
So viele Tote heute. Ich wagte nicht, zu schätzen, wie viele Opfer es hier gegeben haben musste. Warum passierte das alles? Was passierte überhaupt? Waren wir im Krieg? War der Zylinder vor uns eine Rakete und die Monster neuartige Biowaffen? In den Nachrichten war die letzten Monate eine Krise der anderen gefolgt. War das jetzt ein Ergebnis oder eine Randerscheinung davon?
Ich legte Klara die Hand auf die Schulter. Ein kläglicher Versuch, sie doch noch zu trösten. Oder um mich selbst zu trösten? Nötig hatte das jeder von uns. Sie griff nach der Hand und drückte sie. Die Hoffnungslosigkeit beim Anblick dieser Situation senkte sich langsam auf mich herab und drohte, mich zu erdrücken. Ich schluckte. Ich musste mich sammeln, damit ich ihr standhielt. Damit es weiter gehen konnte.
"Kommt ihr?", fragte ich ruhig - äußerlich ruhig - und hoffte, dass niemand sah, wie sich die Feuchtigkeit in meinen Augen sammelte. Sanft befreite ich meine Hand wieder.
Sergej stützte seine Mutter und mühsam stiegen wir den Krater hinab in Richtung Trümmerfeld und Zylinder. Ob unter dem Schutt noch Menschen lebten? Unter den Stellen, an die wir jetzt unsere Füße setzten? Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter.
Mit gesenktem Kopf setzte Klara einen Fuß vor den anderen. Vor Kurzem war sie noch die Fröhlichkeit in Person gewesen und Sergej hatte keinen Moment gezögert, zur Rettung anderer zu eilen. Selbst in dieses Inferno wäre er gerannt.
Was hatte wohl mich ausgezeichnet, bevor das alles passiert war? Den ehemaligen Pfadfinder, der Klara und Sergej für die tägliche gute Tat sofort geholfen hatte? Oder eher der Mitläufer, der sowieso nichts Besseres zu tun hatte, und jetzt in eine Katastrophe geschlittert war? Etwa der Held, der sich zu ihrer Rettung opfern würde? Das war doch eher geschehen, weil es keinen anderen Ausweg gab. Ein Anführer, der sie jetzt zum Zylinder und wahrscheinlich zu einem schlimmen Ende geführt hatte? Selbst wenn eine dieser Rollen zutraf, fühlte ich mich in keiner von ihnen wohl.
Wir kamen dem Trümmerfeld näher. Der Geruch von Benzin und verschmorter Elektronik lag in der Luft ... und Anderem, das verbrannt war. Ich konnte ahnen, was es war, und würgte bei dem Gedanken.
"Stopp!", warnte ich die anderen. Gegenüber von uns, aus Richtung des Zylinders, hatte ich eine Bewegung bemerkt. Ich griff nach dem Messer, der letzten Waffe, die mir noch geblieben war.
Die Gestalt trat vollständig zwischen den Ruinen hervor. Sie kam mir bekannt vor, mit ihrem Schneeanzug und dem Gewehr. Es war die Ärztin.
"Ihr habt es also auch geschafft", begrüßte sie uns, ohne dass besonders viel Begeisterung aus ihrer Stimme sprach.
"Sie offenbar auch", erwiderte ich diesen Gruß. "Scheinbar mit weniger Problemen als wir." Sie sah zumindest unverletzt aus.
Sie trat neben uns und musterte die Szene. Suchte sie nach Anzeichen für Überlebende oder eher nach einem sicheren Weg zu den Wracks? An vielen Stellen loderte immer noch das Feuer und es wäre Wahnsinn gewesen, da hindurchzulaufen. Am Ende hatten die Helikopter noch irgendwas Gefährliches geladen, das noch nicht explodiert war. Aber was wusste ich als Zivilist schon?
"Hallo, lebt hier noch jemand?", rief sie halbherzig in Richtung der Trümmer. Keine Antwort. Zumindest war keiner mehr bei Bewusstsein oder in der Lage zu antworten. Doch etwas anderes antwortete oben vom Rand des Kraters, mit einem langgezogenen Heulen. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Hier waren wir schutzlos.
"Wir müssen zum Zylinder!", rief die Ärztin, drehte sich um und lief los. Die Rettungsaktion war vergessen.
"Damit wir da gefressen werden?", rief Sergej ungläubig hinterher.
"Es gibt einen Eingang, eine Tür, die wir vielleicht schließen können."
"Wenn wir da drin sterben, dann wenigstens anders", fügte ich sarkastisch hinzu.
"Ich will gar nicht sterben", protestierte Klara kleinlaut.
"Wirst du auch nicht. Lauf!", rief ich.
"Daniel!" Sergej sah mich hilfesuchend an. Seine Mutter verzog bei jedem Schritt schmerzerfüllt das Gesicht. Ich verstand, was er wollte, und stützte sie auf der anderen Seite.
Je näher wir ihm kamen, desto mehr wurde mir die gewaltige Größe des Zylinders bewusst. Wie ein Hochhaus, dessen Spitze sich irgendwo in den Wolken verlor. Als der Eingang, von dem die Ärztin gesprochen hatte, in Sicht kam, folgte uns das Heulen bereits als mehrstimmiger Chor. Diesmal blickte ich nicht zurück. Jede Verzögerung war gefährlich.
Eine geöffnete Luke in der Seitenwand, hinter der uns schwarze Dunkelheit erwartete. Klara und die Ärztin erreichten sie und verschwanden im Inneren. Nur noch Meter trennten auch uns drei von unserer Zuflucht. Wir würden es schaffen! Mit dieser Erkenntnis kam mir das Heulen gar nicht mehr so nahe vor. Es musste auch nicht immer Rettung in letzter Sekunde sein.
Die Öffnung begann etwa einen halben Meter über dem Boden. Sergej machte mit seinen Händen eine Räuberleiter für seine Mutter und ich schob sie hinein. Anstand oder nicht, Rettung ging vor. Als sie in die Öffnung gekrabbelt war, kletterten wir ihr hinterher.
"Wie bekommen wir sie jetzt zu?", fragte Sergej.
Eine Stange verlief quer über die Innenseite der Lukentür, die nach oben aufgeklappt war. Instinktiv lehnte ich mich aus der Luke, griff danach und rüttelte. Die Stange ließ sich ein Stück nach unten ziehen und schwang dann zurück, ohne das mehr passierte. Sollte das einen Mechanismus auslösen, der nicht funktionierte? Vielleicht half auch einfach mehr Kraft?
Ich hielt mich an der der Stange fest, hob die Füße vom Boden und knirschend sackte die Tür ein paar Zentimeter nach unten.
"Ich helfe dir." Sergej setzte einen Fuß auf die Schwelle, hielt sich am Rahmen fest und lehnte sich weit hinaus. Er griff sich die Stange mit dem unverletzten Arm und zog. Nun schwang sie zu. Ich ließ mich auf den Boden fallen und sie rastete zischend vor uns ein. Hoffentlich würde sie auch so leicht wieder aufgehen. Von innen.
Ich lehnte mich gegen das helle, weißliche Metall der Innenwand. Es gab hier drinnen mehr Licht als von außen vermutet. Sergej war neben seiner Mutter zu Boden gerutscht und Klara schien zu zögern, ob sie sich weiter umsehen sollte. Die Ärztin war verschwunden, offenbar, als wir versucht hatten, die Tür zu schließen. Nur wohin?
Das war mir erstmal egal. Nach dieser Strapaze musste ich verschnaufen und nutzte die Gelegenheit, um meine Umgebung zu mustern. Die Wände gegenüber der Tür waren von Glasbahnen durchzogen. Hin und wieder zuckten Lichter auf diesen Bahnen vorbei. Andere leuchteten dauerhaft und tauchten die Wände in einen blauen Schein. Es gab Symbole an den Wänden, Zeichen, die ich nicht verstand. Mir fiel es schwer, mich auf sie zu konzentrieren und über ihre Bedeutung nachzudenken. Überhaupt hatte ich das Gefühl, dass meine Konzentration von Augenblick zu Augenblick schwächer wurde. Und irgendwas stimmte mit der Temperatur nicht. Es wurde immer kälter. Sogar kälter als es draußen gewesen war. Bildeten sich dort Eiskristalle auf den blinkenden Glasbahnen?
Ich öffnete meinen Mund, um Sergej auf meine Beobachtung aufmerksam zu machen, aber meine Kehle war so trocken, dass ich kein Wort heraus bekam. Ich drehte meinen Kopf zu ihm und sah, dass er zusammengesunken war. Klar, auch er musste erschöpft sein.
Oder stimmte etwas nicht?
Mir wurde schwindelig. Die Lichter an der Wand flackerten und drehten sich. Ich griff vergeblich nach der Querstange der Tür und mein Arm rutschte schlaff die Wand hinab. Dann kippte ich nach rechts und mein Kopf schlug mit einem dumpfen Knall auf dem Boden auf. Keine Kraft, um den Sturz abzufangen oder mich wieder vom Boden hochzudrücken.
Der pochende Schmerz in meinem Kopf war nur ein ferner Gedanke. Meine Augenlider wurden schwer und ich kämpfte dagegen an, dass sie zufielen.
Am Ende des Ganges erschien eine helle Gestalt. Wie aus Eis. Sie kam näher. Nein, sie schlurfte näher, das eine Bein hinter sich herziehend. Ein Mann. Stämmig. Eis auf seiner Kleidung. Er griff nach Klaras Beinen - sie lag auch auf dem Boden - und zog sie hinter sich her.
Dann verlor ich den Kampf gegen meine Augenlider und sie fielen zu.
Dunkelheit.
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Ich hatte die Kontrolle über den Wagen verloren.
Er schlitterte wild hin und her, als ich versuchte gegenzulenken. Nur Eis unter den Rädern.
Ich raste auf den Randstein zu. Ein Schlag und der Wagen überschlug sich über die Leitplanke. Der Boden über mir, dann die Felswand.
Der Wagen stürzte in die Tiefe.
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Ich schreckte auf und japste nach Luft. Wasser füllte meine Lungen.
Ich war umgeben von Glas. Ich schlug darauf ein, gegen den Widerstand des Wassers. Ohne Wirkung. Ich riss die Augen auf, als ich erkannte, dass ich nichts tun konnte. Ich wollte schreien, doch ich konnte es nicht.
Eis oder Wasser? Ich wusste nicht, welcher Albtraum schlimmer war.