Wir konnten keine Konfrontation mit diesen Parteien riskieren. Oder dazwischen stehen.
Schließlich ging es doch immer bergab, wenn sich das Militär unerwarteten Situationen stellen musste. Wusste eigentlich jeder, der einmal Filme mit Außerirdischen gesehen hatte.
Wie würden die Soldaten reagieren, wenn sie erfuhren, dass wir bereits im Schiff waren. Dass wir dabei waren, als ihre Kameraden abstürzten? Im besten Fall würden wir aus der Gefahrenzone evakuiert werden. Nachdem wir aber bewaffnet waren, dazu noch mit außerirdischer Technologie, konnte ich mir die Reaktion nicht ausmalen.
Wir mussten Sergej und die Ärztin irgendwie zurückholen, bevor es zu spät war. Wieder einmal fragte ich mich, warum ich es immer noch nicht geschafft hatte, Handynummern auszutauschen. Wofür hatte ich das Teil eigentlich?
"Hat das Schiff außer Kameras nicht zufällig auch Lautsprecher an der Hülle montiert?", richtete ich mich an Moritz.
Er zuckte mit den Schultern.
"Große Hilfe, danke!"
Was hatte ich auch erwartet? Ich ließ den Blick über den Tisch mit den fremdartigen Apparaten schweifen. Waren das Waffen, Staubsauger oder Zahnbürsten? Irgendetwas, das mir helfen konnte? Wahrscheinlich nicht.
"Klara, kannst du die beiden zurückholen? Aber nur, wenn sie noch alleine sind. Sonst kommst du sofort zurück. Ich schau, ob ich irgendwas an den Schiffssystemen drehen kann."
"Yes, Sir!" Klara salutierte und rannte davon. Wo sie das wohl herhatte?
"Moritz, spiel weiter an der Fernbedienung rum, vielleicht findest du ja was." Ich wartete nicht auf seine Antwort und legte meine Hand auf das Panel an der Wand. Etwas zu schnell, denn das Kribbeln des Verbindungsaufbaus traf mich diesmal wie ein Schlag. Der Geruch verschmorter Elektronik kitzelte in meiner Nase, die Funktion schien aber nicht beeinträchtigt.
Nachdem ich den Datenstrom gedanklich geordnet hatte, legte ich mir zuerst drei Videoausschnitte auf meinen inneren Bildschirm. Die beiden potenziellen Bedrohungen und unser Team.
Dann ging ich die Systeme durch, die mit der Schiffshülle in Zusammenhang standen. Kameras und Türen? Kannte ich bereits. Weg damit! Verteidigungssysteme und Waffen? Gott, ich wollte doch keinen von denen umbringen. Sirenen? Besser als nichts, also schaltete ich sie an.
Ein ohrenbetäubendes Kreischen drang von draußen zu mir in den Raum. Das mussten sie ja gehört haben. Ich wartete einige Momente, bis ich den Lärm nicht mehr aushielt, und schaltete die Sirene wieder ab. Ich prüfte das Bild, auf dem sich Sergej und Dr. Pfaff befanden. Sie hatten die Sirene jedenfalls bemerkt, es folgte nur nicht die erhoffte Reaktion. Statt so schnell wie möglich zum Schiff zurückzukehren, luden sie ihre Gewehre durch. Dann runter in die Knie, Rücken an Rücken und das Gewehr im Anschlag. So überwachte jeder einen Radius von 180 Grad.
Da kamen die Militärfahrzeuge bereits in Sichtweite. Meine Mühe war umsonst gewesen.
Zu allem Überfluss tauchte Klara ebenfalls am Rand des Kamerabilds auf. Über den Lärm der Sirenen hatten sie das Mädchen natürlich nicht hören können. Jetzt war es zu spät. Sie erkannte die Gefahr und versteckte sich hinter einer zerstörten Hauswand, auf der noch Teile des Schriftzugs einer Drogeriemarktkette prangten.
Der Konvoi kam zum Stehen und die Heckklappen der Fahrzeuge wurden aufgestoßen. Kampfbereite Soldaten sprangen heraus, stürmten nach vorne und umringten ihren vermeintlichen Feind. Ich sah, wie mein Team die Waffen streckte. Zwei der Soldaten liefen, gedeckt von ihren Kameraden, auf Sergej und die Ärztin zu und nahmen ihnen die Betäubungsgewehre ab.
Sie wurden mit erhobenen Händen zu einem der Fahrzeuge abgeführt, dagegen gedrückt und abgetastet. Eh ich mich versah, verschwanden sie im Inneren und waren auf dem Weg in die Richtung, aus dem der Konvoi gekommen war.
Ich wurde blass. "Verdammt! Was machen wir denn jetzt? Das hätte nicht schlimmer laufen können."
"Wenigstens haben sie Klara nicht gefangen." Moritz klang gelassen, während er am Tisch hantierte. Vielleicht war er auch konzentriert oder irgendwo in seiner eigenen Welt versunken.
Ich ließ eine der Kameras dem Fahrzeug folgen, in der Hoffnung herauszufinden, wohin es ging. Hoffentlich nicht aus der Stadt hinaus.
Sergej war schließlich wie ein Bruder für mich. Wir hatten beide jung unsere Eltern verloren und waren im gleichen Waisenhaus aufgewachsen. Bevor wir uns trafen, waren wir beide allein in einer Welt, ohne Verbündete. Wie oft hatten wir uns schon aus der Klemme geholfen? Ich würde einen Weg finden, ihn da wieder rauszuholen.
Dieser Gedanke fühlte sich richtig an. Dennoch passte etwas nicht zusammen, das ich nicht genau fassen konnte. Ich spürte einen unangenehmen Druck im Kopf, wie ein Vorbote stärkerer Kopfschmerzen. Diese Arbeit machte mich noch fertig.
Die Soldaten stiegen wieder in die Schneefahrzeuge und steuerten zielstrebig auf das Schiff zu. Die Tür stand offen. Wenn das so blieb, würden sie in das Schiff eindringen. Dann war alles vorbei. Wenn ich aber die Tür schloss, konnte Klara nicht zurück ins Innere.
Jetzt wurde mir warm. Ich spürte, wie Schweißtropfen an der Unterseite meiner Oberarme hinab liefen und sich mein T-Shirt innerhalb von Sekunden vollsog. An meinem Rücken klebte es bereits. Ich hatte Angst, nicht nur meine Freunde zu verlieren, sondern auch, als Einziger an Bord zurückzubleiben. Ja, Moritz war auch noch da. Die einzige Qualität, die er bis jetzt aufzuweisen hatte, war sein glückliches Händchen mit den Kameras. Ansonsten wusste er weder, wer er war, noch was er hier zu suchen hatte. Gruselig. Ich würde sicher den Verstand verlieren, wenn alles, was er tat, darin bestand, teilnahmslos in die Gegend zu starren und alle fünf Jahre ein Wort zu sagen.
Also am Ende doch die Verteidigungssysteme? Ich navigierte auf der dreidimensionalen Ansicht zu den Hüllensegmenten, die dem Konvoi zugewandt waren. Eine Reihe von Subsystemen wurden sichtbar. Der Handschuh übersetzte mir Namen und Funktionen, für vieles schienen wir auf unserem Stand der Technologie aber keine Entsprechung zu haben. Ich erkannte ein paar Sachen. Elektromagnetische Abwehrmaßnahmen, Projektilkanonen und Hochleistungslaser. Sollte ich die Elektronik der Fahrzeuge lahmlegen? Dann liefen die Soldaten eben. Die anderen beiden Optionen? Doch ich wollte auf keinen Fall jemanden verletzen.
"Wenn du nichts unternimmst, sind sie bald da", bemerkte Moritz mit nervig monotoner Stimme.
"Das weiß ich selbst!"
Ein Warnschuss mit dem Laser vielleicht? Wie berechnete ich die Zielkoordinaten? Bei diesem Gedanken erschien neben den Kamerabildern eine dreidimensionale Karte des Außenbereiches und ich konnte einen Punkt auswählen. Dann gab ich den Befehl zum Abschuss.
Nichts.
"Abschuss verweigert!", schwebte in roten Lettern über der Karte.
Hatte ich etwas falsch gemacht? Durfte ich es einfach nicht? Ich gab den Befehl erneut. Mit dem gleichen Ergebnis. Ich schlug mit der freien Hand gegen das Panel. Tat mir mehr weh, als dem Raumschiff. Was nun? Ich zögerte. Ich konnte die Tür einfach nicht geöffnet lassen. Also suchte ich nach den Kontrollen für die Türsysteme.
Das Videobild, das dem Konvoi folgte, flackerte. Eins der Fahrzeuge kam ins Schlingern und stieß mit einem Zweiten zusammen, bevor es schlitternd zum Stehen kam. Die restlichen Fahrzeuge hielten mit etwas Verzögerung ebenfalls an.
Auf dem Rücken seines Bären preschte der weiße Mann in das Bild, ohne seinen Speer. Hatte er ihn geworfen? Ein einsamer Indianer gegen die ganze Kavallerie. Wütend, dennoch alleine. Die Soldaten gingen in Stellung, gestikulierten wild und schrien stumm. Der Reiter setzte seinen Weg unbeirrt fort und sie eröffneten das Feuer. Wie erwartet mähte das Abwehrfeuer ihn und seinen Bären nieder. Der Bär brach zusammen und der hünenhafte Mann stürzte vornüber in den Schnee.
All das spielte sich nur wenige Meter von Klaras Versteck ab. Ein Querschläger und es konnte auch um sie geschehen sein.
Der Mann erhob sich wieder aus dem Schnee.
"Wow, der ist wohl kugelsicher." Nein, Moritz, Begeisterung klang nicht überzeugend, wenn man sie in diesem Tonfall vortrug!
Ich fokussierte die Kamera auf ihn und zoomte heran. Der Mann schüttelte den Schnee von sich ab und ich entdeckte nicht einen Kratzer und auch kein Blut an ihm. Anders als bei seinem Bären, um den sich langsam ein roter Teppich ausbreitete.
Eine weitere Salve schlug in seinen Körper ein und er wurde zurückgestoßen, blieb aber auf den Beinen. Ein Schuss traf sein Gesicht, schleuderte Eissplitter durch die Luft und hinterließ ein tiefes Loch. Unbeirrt machte er einen Schritt nach vorne. Unter seinem Fuß verschwand der Schnee. Nicht nur, weil er unter seinem Gewicht zusammengepresst wurde. Der ganze Schnee in einem Radius von einem halben Meter war einfach weg und der Mann versank bis zur Hüfte im Schnee. Eine Eiskruste bedeckte jetzt die Stelle, an der ihn die Kugel getroffen hatte, und das Loch war verschwunden.
"Das ist doch niemals ein Mensch", murmelte ich fassungslos.
Da hatte Klara ihren Eiszombie. Ich hoffte, dass sie das gesehen hatte. Nein, das hoffte ich natürlich nicht. Sie sollte gefälligst in ihrem Versteck bleiben.
Mr. Eiszombie, wie ich ihn ab jetzt nennen würde, stieg aus dem Loch heraus. Es war sonderbar. Er stapfte einfach vorwärts und der Schnee vor ihm machte ihm Platz. Schritt für Schritt gewann er an Höhe, bis er wieder an der Oberfläche war. Die Soldaten schossen immer noch auf ihn. Aber nichts konnte ihn aufhalten.
Als er das erste Fahrzeug erreichte, vollzog sich ein Wandel im Verhalten der Soldaten. Statt ihn weiter zu bekämpfen, versuchten sie nun, chaotisch ihre Wagen zu besteigen und die Flucht zu ergreifen. Ohne sichtliche Anstrengung riss er eine Beifahrertür aus ihrer Halterung und zerrte einen Soldaten von seinem Sitz, der vergeblich auf den Hünen einschlug. Mit nur einer Hand rammte Mr. Eiszombie sein Opfer gegen die tarnfarbene Hülle und schmiss es beiseite, wo es reglos liegen blieb. Die anderen Insassen hatten den Wagen schon verlassen und flohen panisch.
Er verfolgte sie nicht. Er stapfte zu der Stelle, an welcher sein Speer gelandet war, und hob ihn auf. Dann blickte er direkt in die Kamera, mit der ich ihn verfolgte. Wusste er etwa, dass ich die Szene beobachtete?
"Mach lieber die Tür zu", hörte ich Klaras Stimme.
Ich hatte ihre Flucht nicht bemerkt. Ich war so von diesem Kampf gebannt gewesen, dass ich nicht auf sie geachtet hatte. Das galt sicher auch für jeden anderen auf dem Schlachtfeld.
Als ich die Tür schloss, hob der Mann seinen Speer gen Kamera. Zeigend oder etwa herausfordernd? Nach dem, was ich gesehen hatte, wollte ich ihn nicht zum Feind haben. Wenn ihm schon Gewehrkugeln nichts anhaben konnten, was konnte ich dann ausrichten. Ich hatte ja noch nicht einmal Waffen, die mir gehorchten.
Er drehte sich um und ging zurück zu der Stelle, an der sein Bär zusammengebrochen war. Er beugte sich herab, streckte seinen Arm aus und berührte das Tier an der Seite. Ein weißer Schwall brach aus seinem Ärmel hervor. Was war das? Ich konnte nicht mehr weiter heranzoomen, um genauer zu erkennen, worum es sich dabei handelte.
Der Schnee um den Bären verschwand. Ganz als ob er der grellen Sommersonne schutzlos ausgesetzt wäre, jemand das gefilmt hätte und nun per Zeitraffer abspielte. Der Eisbär erhob sich und wartete treu, bis sein Herr wieder auf seinen Rücken gestiegen war. Dann setzten sie sich in Bewegung, in die Richtung, in welcher der Konvoi verschwunden war. Wohin sie Sergej und die Dr. Pfaff gebracht hatten. Die Richtung, in die auch wir mussten, wenn wir sie befreien wollten.
An meiner Seite hatte ich zwei Kinder. Gegen mich Soldaten, Mr. Eiszombie und seinen Bären. Das konnte ja nur gut gehen.