Mich begrüßte Klaras Opa mit einem breiten Grinsen und verschmitzten Augen. Er trug einen beigen Wintermantel und stützte sich auf einen schwarzen Spazierstock mit silbernem Knauf. Nur noch ein weißer Streifen Haar zog sich um seinen braun gebrannten Kopf.
Ich stand nur mit offenem Mund da. Da hatte der Alte mich doch all die Zeit auf den Arm genommen und sich sicher köstlich über meine Versuche, mit ihm zu kommunizieren, amüsiert. Und er hatte sich keine sonderlich großen Sorgen um seine Enkelin gemacht. Er hatte einen ganzen Stall voll Enkelkinder. Kam es da auf eines mehr oder weniger nicht an?
"Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Opa. Und wären auf der Suche nach dir fast gefressen worden!"
"Na na. Du scheinst dir die richtigen Beschützer ausgesucht zu haben. Bei der nächsten Möglichkeit werde ich dich aus dem Gefahrengebiet bringen lassen, zurück zu deinen Eltern."
"Och nö! Ich will wissen, was hier noch passiert."
"Kannst du ja. Das wird sicher im Fernsehen gezeigt. Falls nicht, erzähle ich es dir, wenn du mich das nächste Mal besuchst."
Klara schob schmollend die Unterlippe raus und verschränkte die Arme vor der Brust. Ob sich das Mädchen davon wirklich beeindrucken ließ? Natürlich hatte er recht, sie war außerhalb der Stadt besser aufgehoben.
Dann wandte er sich mir zu.
"Die Armee wird vorerst alle Zivilisten evakuieren, bis die Gefahr eingedämmt ist und das Objekt abgeschirmt wurde. Möglicherweise wird die ganze Stadt umgesiedelt. Nachdem, was wir beobachtet und am eigenen Leib erfahren haben, führt daran kein Weg vorbei."
Er legte die Hand auf meinen Arm.
"Vielen Dank, dass du dich um meine Enkeltochter gekümmert hast. Ich werde dafür sorgen, dass du mit einer der ersten Gruppen ausgeflogen wirst."
"Ich habe allerdings nicht vor, zu gehen, Professor." Das Wort Professor zog ich absichtlich in die Länge und schob dabei seine Hand sanft, aber bestimmt beiseite.
"Genau!" Klara hob trotzig ihr Kinn. "Wir bleiben nämlich alle hier!"
"Kommt doch gar nicht in Frage. Die Armee kann keine Zivilisten gebrauchen, die zwischen die Fronten geraten. Kollateralschäden gab es hier schon genug." Er gab den Soldaten, die uns begleitet hatten, ein Zeichen. "Bringt sie raus."
"Wir waren in diesem Objekt, im Zylinder!", rief ich.
So laut, dass es auch die anderen im Zelt hörten und hoffte, dass uns das retten würde. Schließlich hatten wir eine Aufgabe. Die Armee und die Berater würden kaum von alleine auf die Idee kommen, das Schiff samt Tieren wieder zurück auf seinen Weg zu schicken.
"Wir haben wichtige Informationen. Wissen, wie wir das Problem friedlich lösen können. Sie brauchen uns. Uns alle. Da gibt es noch zwei weitere Personen, die Sie vor Kurzem vor dem Zylinder gefangen genommen haben. Wenn Sie unsere Hilfe ignorieren, wird es zu noch mehr unnötigen Verlusten kommen!"
Ich ließ das Gesagte wirken. Köpfe wurden zusammengesteckt und der Professor kratzte sich nachdenklich an Kopf.
Da ich nicht genau wusste, wer von uns wirklich über Informationen verfügte und welche Pläne das Schiff mit jedem von uns hatte, musste ich alle einschließen. Selbst wenn ich dadurch Moritz und Klara nicht aus der Schusslinie brachte. Aber nur so konnte ich das Ziel erreichen, das ich erreichen musste. Die Tiere retten. Die Menschen in der Stadt vor Unheil bewahren. Endlich den verdammten Schnee wieder verschwinden lassen.
"Welches Wissen können Sie denn beisteuern", fragte einer der Militärs, der wie der Rest der Gruppe um einen Besprechungstisch stand. Ich kannte mich mit den Rängen nicht aus. Doch wenn er das Wort ergriff, musste er wohl jemand Wichtiges sein.
"Wir wissen, worum es sich beim Zylinder wirklich handelt und wie wir die Gefahr eindämmen können, die von ihm ausgeht."
Er musterte mich eindringlich und zog gekonnt eine einzelne Augenbraue nach oben. Ein Trick, den ich selbst nach stundenlanger Übung vor dem Spiegel noch nicht perfekt beherrschte.
"Nun gut, junger Mann, Sie haben zehn Sekunden für eine Kurzfassung."
Zehn Sekunden? Also gut.
"Der Zylinder ist ein Raumschiff, eine Art außerirdische Arche mit Habitaten für verschiedene Tierarten. Die Tiere, welche jetzt frei herumlaufen und die Bevölkerung bedrohen. Einige Ebenen wurden beschädigt, die Tiere sind entkommen. Schnee und Eis wurden vom Schiff, zum Schutz der entkommenen Arten, künstlich erzeugt. Wenn wir die Tiere zurückbringen, kann das Gebiet wieder aufgetaut werden. Die Tiere haben außerdem eine höhere Lebenserwartung in ihren Habitaten. Studiert werden können sie nicht mehr, wenn sie tot sind. Studiert werden kann das Schiff auch nicht mehr, wenn ihr es zerstört."
Ich hatte das alles in einem Rutsch heruntergeleiert, ohne Luft zu holen, und atmete erst einmal tief durch. Ich wollte nicht erfahren, was passierte, wenn ich länger als zehn Sekunden gebraucht hätte.
"Das waren aber mehr als zehn Sekunden", nuschelte Klara neben mir und ich hoffte, dass das niemand sonst gehört hatte.
"Ha! Ein Raumschiff, alles klar", kam es sarkastisch von einem anderen Zivilisten, der einen grauen Pelzmantel trug.
"Wir haben eher den Einsatz einer neuen Waffe vermutet. Biologische Kriegsführung." Der Militär sah in die Runde. "Auch wenn der Einsatz von Rentieren und Pinguinen ungewöhnlich erscheint." Gezwungenes Gelächter in den Reihen der Anwesenden. Wenigstens verwarf er meine Erklärung nicht sofort als Unsinn. "Wozu brauchen wir Sie dazu? Jetzt wo wir diese Information haben? Falls sie denn wahr sein sollte?"
"Durch eine unglückliche Fügung des Schicksals bin ich der Einzige, der die außerirdischen Schiffssysteme bedienen kann."
Vielleicht konnte auch jemand anders den Handschuh benutzen oder einen anderen Weg finden, aber darauf ließ ich es nicht ankommen. Den Blicken nach hatte ich sie noch nicht überzeugt.
"Und ich allein kann die Verteidigungssysteme deaktivieren."
Das schien sie schon etwas mehr zu beeindrucken und auch die zweite Augenbraue des Militärs wanderte nach oben.
"Jeder von uns verfügt über einzigartige Fähigkeiten, auf die Sie nicht verzichten können. Wenigstens nicht, wenn Sie nicht eine totale Katastrophe heraufbeschwören wollen!"
Vielleicht trug ich etwas dick auf. Ich wusste nicht, ob ich Dr. Pfaff wirklich brauchte, aber wenigstens Sergej wollte ich aus dem Gewahrsam des Militärs befreien.
"Nehmen wir einmal an, dass das alles stimmt", begann der Militär. "Sie und Ihr Team kehren zum Zylinder zurück, begleitet von einer Eskorte und Wissenschaftlern, wie sieht dann der Plan aus, um Tiere und Eis loszuwerden?"
Wenn der nur schon vollständig stehen würde. Mit Hilfe der Armee ließen sich einige Lücken schließen.
"Die kleineren Tiere können betäubt werden und müssen dann zum Schiff transportiert werden. Mit dieser Aufgabe haben wir bereits begonnen."
Ich ignorierte das ungläubige Gemurmel.
"Um die Größeren näher zum Schiff zu locken, wollen wir den Bereich verkleinern, der von der Vereisung betroffen ist. Wenn wir richtig liegen, werden sie sich in dieses Gebiet zurückziehen. Wie wir die Kreaturen dann in das Schiff bekommen, weiß ich noch nicht. Ein Tier, das ich gesehen habe, war größer als ein LKW. Vielleicht mit einem Kran. Aber hier gibt es sicher genug Experten, die eine Lösung dafür bieten können."
An den Blicken der Experten konnte ich ihre Meinung ablesen. 'Überlass gleich alles uns.'
Klara meldete sich, wie in der Schule, fing aber an zu reden, ohne aufgerufen zu werden: "Wir können die Tiere auch einfach fragen, ob sie zurückkommen. Bin ich jetzt ein Experte?"
Einige der Anwesenden lachten und ich versuchte sie wieder zu beruhigen.
"Sie mögen das komisch finden. Aber es kann tatsächlich sein, dass dieses Mädchen mit Tieren reden kann. Eine Folge ihres Aufenthalts auf dem Schiff."
"Das hört sich ja alles ganz fantastisch an, was sie da erzählen", kam es wieder vom Zivilisten im Pelzmantel, "Aber haben Sie auch nur einen einzigen Beweis für irgendeine der Behauptungen? Bevor wir noch mehr Menschen in Gefahr bringen?"
Oder er sich gar selbst in Gefahr begeben musste?
Ich sah mich im Zelt um. Die Ausstattung war sparsam. Kisten, Stühle, Tische, Lampen und diverse Laptops. Ja, mit denen konnte ich sicher etwas anstellen.
Ich ging zu einem der Laptops, schloss die Augen und berührte mit dem Handschuh die Rückseite des Bildschirms. Ich sah die Oberfläche des Betriebssystems vor mir, Dokumente und geöffnete Lagepläne der Umgebung. Ich veränderte die Lagepläne und markierte die Stellen, an denen ich mit den Überwachungskameras Tiere gesehen hatte. Ich verteilte die markierten Lagepläne an alle Geräte, die mit dem Netzwerk verbunden waren.
Erstaunte Ausrufe erfüllten den Raum. Ein Mann neben dem Pelzträger zeigte ihm sein Tablet. Nun verstummte auch das letzte Gelächter.
"Das sind die letzten, mir bekannten Positionen der ausgebrochenen Tiere. Etwa eine halbe Stunde alt. Das ist nur eine Kostprobe von dem, was ich kann. Nur mit der Berührung meiner Hand und einem Gedanken habe ich diese Informationen an sie alle verteilt. Und das ist nur ein Bruchteil meines Potenzials."
Ob ich hier nicht zu viel versprach? Ich hatte ja keine Ahnung, wo meine Grenzen lagen. Aber jetzt hatte ich sie am Haken. Ich hoffte wirklich, dass Klara nicht nur in ihrer Fantasie mit Tieren reden konnte. Wenn es stimmte, würde das die Sache um einiges beschleunigen. Und einen peinlichen Auftritt vermeiden. Vielleicht konnte ich Weihnachten doch noch mit meinen Freunden verbringen und die Kinder wieder zu ihren Familien.
Eine Sirene ging los und draußen fielen Schüsse.
Die Zeltplane am Eingang wurde aufgerissen und ein bleicher Soldat stürmte herein.