Der alte Mann im Laborkittel, der irgendwann einmal weiß gewesen sein musste, blätterte durch die vergilbten Seiten auf seinem Klemmbrett und studierte die darauf verzeichneten Daten. Sie stammten noch aus einer Zeit, in der nicht alles auf digitalen Datenträgern gespeichert wurde.
"Das ist doch ein Scherz, oder?", murmelte er.
"Was meinen Sie?", fragte sein ewig nervöser Assistent.
"Dieser Patient wurde anscheinend bereits tiefgefroren vor den Toren der Zitadelle geborgen, bevor er in einer der Kältekammern eingelagert wurde."
"Uuuund?"
"Nun, wie sie vielleicht wissen, ist die Zitadelle von den Wohnbereichen der Ratsfamilien umgeben. Und das bereits seit Beginn der bekannten Geschichtsschreibung der Zitadellenstadt. Wohltemperiert und klimatisiert lassen sie es sich dort gut gehen. Falls es in diesem Gebiet jemals so kalt gewesen sein sollte, dass es fror, hätte der Rat der Technikabteilung aber die Hölle heißgemacht. Unmöglich, dass dort ein Mensch erfroren ist."
"Aber wenn es doch in den Unterlagen steht, Chef?"
Der alte Mann verzog missbilligend die Mundwinkel. "Ja, ja, die Unterlagen." Er seufzte. "Wahrscheinlich hat irgendeiner der Frischlinge die Daten zu dieser Kammer verschlampt und sich dann so einen Quatsch ausgedacht. Der Patient trägt ja nicht einmal einen Namen, sondern nur die Nummer 4107. Wissen Sie, das ist eine sehr niedrige Nummer. Ein weiterer Hinweis, dass jemand einfach nur geschlampt hat. Oder sich einen Scherz mit mir erlaubt." Er betrachtete seinen Assistenten aus dem Augenwinkel. "Das waren aber nicht Sie, oder?"
"Ich bitte Sie, Chef, ich arbeite nun schon seit fast dreißig Jahren als Ihr Assistent. Wenn es jemanden gibt, der weiß, dass Sie keinen Spaß verstehen, dann bin ich es."
Er wusste außerdem, dass sein Chef ihm glücklicherweise nie so genau zuhörte.
"4107, dass ich nicht lache. Die Zahl stammt ja noch aus den ersten Jahren. Wissen Sie, den Aufzeichnungen des Projektes nach, haben sich im Anfangsstadium nur wenige Patienten gefunden, die sich der Behandlung unterziehen wollten. Ein kostspieliges Unterfangen für Privatpersonen, da man bereits im Vorfeld für lange Lagerzeiten bezahlen musste. Übernahm keine der damaligen Krankenkassen. Es gab schließlich kaum Anzeichen auf einen Erfolg, vieles war Theorie und lebte von der Hoffnung auf die Zukunft."
Der Assistent stöhnte. "Nicht schon wieder", nuschelte er. Jetzt würde er sich wieder einen langen Exkurs in die Geschichte der Hypothermie, der Zitadellen und der kleinen Wehwehchen seines Chefs anhören müssen.
"Wissen Sie, erst viel später, zu einer Hochzeit des medizinischen Fortschritts, erklärten sich mehr Patienten bereit, sich einfrieren zu lassen. Patienten, die keine Hoffnung auf Heilung hatten, oder die nach schweren Unfällen im Koma lagen. Die Technik war ausgereifter, Lagerkosten wurden billiger und das Verfahren wurde sogar staatlich subventioniert." Der alte Mann lachte. "Ohne, dass bis dahin auch nur ein Patient wieder aufgetaut und gerettet wurde. Stellen Sie sich das mal vor."
Der Assistent konnte sich sehr gut vorstellen, wie jemand verzweifelt genug war, sich auf ein Wunder einzulassen. Immerhin hoffte er ja auch, dass sein Chef irgendwann einmal in den Ruhestand gehen und er ihn beerben würde.
"Das sollte in jener Ära auch nicht mehr passieren. Niemand wurde damals aufgetaut. Ganz im Gegenteil. Der große Klimawandel kam, die Eiszeit. Industrie und Forschung konzentrierten sich darauf, wie die Menschen in der erbarmungslos gewordenen Welt überleben konnten. Die Zitadellen wurden erschaffen. Die Kunst der Hypothermie wurde zu den Akten gelegt."
Der Assistent überlegt sich, ob sein Chef merken würde, wenn er sich jetzt einen Kaffee holte. Wahrscheinlich wäre er immer noch am Reden, wenn er zurückkam.
"Türme, die hoch in den Himmel ragten und tief in der Erde verankert waren. Effiziente Nutzung regenerativer Energien. Energiekreisläufe mit weniger Verlust, als man sich hätte erträumen können. Die Aussicht auf ein Ende der Welt in greifbarer Nähe, statt einer möglichen Rohstoffknappheit oder Umweltkatastrophe, die vielleicht erst die übernächste Generation treffen würde, wirkte Wunder."
Es klang so, als hätte sein Chef die Bücher aus seinem Schulunterricht auswendig gelernt und ihnen noch eine Prise seiner eigenen Begeisterung für Technik und Medizin hinzugefügt.
"Einige der Zitadellen wurden fertiggestellt, bevor es zu spät war, doch es konnten nur vergleichsweise wenige Menschen wirklich gerettet werden. Wer Einfluss oder Wissen hatte, genoss Priorität. Andere wurden über Losverfahren ausgewählt. Sie können sich sicher vorstellen, zu was das führte, oder?"
Der alte Mann sah seinen Assistenten an, der jetzt froh war, sich noch keinen Kaffee geholt zu haben. Zustimmend nickte er. Doch sein Chef fuhr fort, als hätte er das Nicken gar nicht bemerkt.
"Tumulte brachen aus und die Zitadellen wurde von innen versiegelt. Bald konnten die Menschen außerhalb auch nicht mehr auf die Tore der Zitadelle einstürmen, denn es war zu kalt. Vielleicht haben einige von ihnen draußen überlebt, aber die meisten sind sicherlich erfroren."
Der Assistent drückte auf dem ComNet-Interface in seiner Hosentasche den Notfallknopf. Den hatte er für Fälle wie diesen eingerichtet, in denen der Chef einfach nicht aufhörte, zu schwafeln.
"Wissen Sie, wir haben Glück gehabt. Wir wurden in einer Zitadelle geboren, die bereits weiter ausgebaut ist. Wir haben sogar schon Ringe aus Wohnungskomplexen, die den Hauptturm auf der Erdoberfläche umgeben. Davon träumen die anderen Zitadellen nur. Fenster mit Sicht auf den Sternenhimmel bei Nacht und Tageslicht, wenn die Sonne scheint."
Darauf waren nicht nur die anderen Zitadellen neidisch. Die meisten Teile dieser Zitadelle verfügten nicht über diesen Luxus. Sie waren fensterlos und von der Außenwelt isoliert. Selbst der Assistent träumte manchmal davon, echte Sterne sehen zu können, oder im Schein der echten Sonne zu baden.
"Zu Beginn unserer Zeit war aber noch nicht alles perfekt. Es gab noch keine Möglichkeit zur Materieumwandlung, da sind wir erst später drauf gekommen. Gelegentliche Einsätze in die Außenwelt gab es, aber die waren viel zu gefährlich, um Material zum weiteren Anbau zu beschaffen. Deswegen wurde eine strenge Geburtenkontrolle eingeführt, die noch heute gilt."
Nun, wenigstens kamen sie jetzt wieder einem Thema nahe, das mit ihrer Arbeit zu tun hatte. Der Assistent würde sich trotzdem nicht beklagen, wenn er seinen Ohren eine Pause gönnen konnte.
"Das führte dazu, dass Unfälle oder Unglücke, die auch in der sicheren Zitadelle vorkamen, große Lücken in unseren Versorgungskreislauf rissen. Die Unglücke betrafen vor allem die Bevölkerungsschichten der unteren Etagen, die für die Versorgung aller zuständig sind."
Und dann kamen sie ins Spiel. Der Assistent wippte nervös auf der Stelle und wartete auf die erlösende Rettung.
"Wissen Sie, das änderte sich, als es einen Durchbruch in unserem Projekt gab. Die damaligen Verantwortlichen hatten dafür gesorgt, dass ihre Patienten mit ihnen in die Zitadellen gebracht wurden. Es gibt ganze drei Ebenen, allein für deren Lagerung, eine für die Forschung und, nachdem es endlich eine Möglichkeit zum sicheren Auftauen gibt, unsere Labore hier."
Das ComNet-Interface des Assistenten klingelte in genau dem nervigen Ton, den er extra für seinen Chef ausgewählt hatte, weil der ihn nicht leiden konnte.
"Nun gehen Sie schon ran", brummelte der alte Mann nach dem dritten Klingeln.
Gehorsam drückte der Assistent den Annahmeknopf. "Ja, Sie brauchen mich in Labor 4? Ich weiß nicht, ich bin gerade in einem wichtigen Meeting mit meinem ..."
Der alte Mann winkte ab. "Gehen Sie schon. Ich schaff das alleine."
"... okay, ja, ich kann kommen, bis gleich." Der Assistent nickte seinem Chef zu und hastete aus dem Raum.
Der alte Mann ließ sich nicht davon beirren, dass er nun alleine war, wenn man mal von den Menschen in den Kältekammern absah.
"Immer, wenn also durch einen Unfall Nachschub an Biomasse nötig wird, tauen wir einen Satz der Patienten auf, damit sie zeitnah den Platz der Verstorbenen einnehmen können. So wie jetzt. Diese vier werden eine Familie ersetzen, deren Wohnungen weit unten in der Zitadelle lagen und einem Beben zum Opfer gefallen sind. Zwei Männer und zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge."
Nun, es war doch nicht dasselbe, wenn ihm niemand zuhörte, das musste der alte Mann schon zugeben.
Zwei Männer und zwei Kinder? Eine seltsame Zusammenstellung.
Der alte Mann ging auf eine andere Kammer zu, suchte in seinen Unterlagen nach den passenden Daten. Dabei klopfte er ungeduldig, fast im Gleichtakt der Herzfrequenzmessung des Patienten, gegen das Glas im Sichtbereich. Dann wischte er darüber, um die Nummer besser lesen zu können, und fand mit diesem Hinweis die Daten. Patient 192024, Sergej Bolschakow. Hatte seinen rechten Arm bei einem Industrieunfall verloren. Zu großer Blutverlust, um ihn noch zu retten. Die Firma bezahlte das Einfrieren in einer Kältekammer. Das war billiger für alle Beteiligten, besonders für die Lebensversicherung, da eingefrorene Patienten damals bereits als 'rettbar in unbestimmter Zeit' und nicht als tot eingestuft wurden.
Der Patient hatte die Augen geöffnet und auf einem Display wurden seine Nervenströme angezeigt. Gedanken, die in Worten fassbar waren, waren dort ablesbar. 'Was bist du', dachte er.
"Ich bin ein Engel, siehst du meinen Heiligenschein denn nicht?" Der alte Mann zeigte auf den weißen Haarkranz, der seinen künstlich gebräunten Kopf einfasste, und zwinkerte dem Patienten zu. Dieser kleine Scherz würde die Simulation sicher nicht beeinträchtigen. Wer wusste heutzutage schon noch, was ein Engel war?
Jede Patientengruppe war vernetzt und durchlief gemeinsam eine Simulation, die ihr zum einen vorgaukelte, innerhalb der Zitadelle geboren worden zu sein, und dass sich die Mitglieder kannten. Dadurch war es einfacher, eine Gruppe zu erschaffen, die arbeitsfähig war, weil sie sich bereits zurechtfand. Viele Patienten hatten durch die Behandlung und die lange Lagerung ohnehin ihr Gedächtnis verloren. Und sie füllten es mit etwas Nützlichem.
Bevor diese Simulationen entwickelt wurden, war es nicht selten zu unnötigen Verlusten unter den frisch aufgetauten Patienten gekommen. Manche rebellierten gegen ihre neue Aufgabe und andere verloren einfach den Verstand und gingen ins Eis.
Er schritt zur nächsten Kammer. Patient 24366, Daniel Adler. Autounfall bei Glätte, Komapatient. Seine Eltern waren wohlhabend genug gewesen, um die Behandlung und Lagerung zu bezahlen. Statt Jahre an seinem Bett zu warten, bis er wieder aufwachte, hatten sie ihn eingefroren. Sie hofften, dass es bald eine Möglichkeit gab, ihn aufzutauen, die Ursache für sein Koma zu finden und behandeln zu können.
Der alte Mann konnte sich nicht vorstellen, dass diese Art zu warten wirklich besser war, nur anders. Der Vorteil für den Patienten selbst war aber nicht von der Hand zu weisen. Er würde leben und war biologisch nur einen Monat älter als bei seinem Unfall.
Als er sich umdrehen wollte, um sich zum letzten Behälter zu begeben, riss 24366 seine Augen auf und starrte ihn entsetzt an, als ob er gerade aus einem Albtraum erwacht wäre. Nun, nicht jeder durchlebte den Prozess des Auftauens auf die gleiche Weise. Der Mann bemerkte die Messwerte. Die Auftautemperatur war eindeutig zu hoch eingestellt. So frisch aus dem Eis, musste sich der Patient fühlen, als würde er verbrennen. Er verringerte die Temperatur um ein paar Grad, bis die Messwerte wieder innerhalb der zulässigen Abweichung lagen.
Als er sich dem letzten Behälter zuwandte, folgte ihm der Blick des Patienten. Vor Jahren hätte ihm das einen eiskalten Schauer über den Rücken gejagt, inzwischen hatte er aber so viele von ihnen gesehen und über ihre Schicksale gelesen, dass es ihn kaum noch berührte.
In der letzten Kammer lag ein kleines Mädchen, Patient 356330, Klara Kudyan, Krebs. Ironisch, denn kurz nachdem sich das Projekt etabliert hatte und die kleine Klara in der Kältekammer gelandet war, wurde eine Methode gefunden, die garantierte Heilung für jede Art Krebs versprach. Nur eine Methode, um eingefrorene Menschen aufzutauen, gab es zu dem Zeitpunkt noch lange nicht. Sie hatte die Augen geschlossen und sah friedlich aus.
Es würde noch einige Minuten dauern, bis er die Kammern öffnen konnte, um ihnen ihre Identifikationschips einzusetzen, ein essenzieller Bestandteil des Lebens in der Zitadelle. Über die gespeicherte Identität konnte die Zitadelle zuordnen, wer der Besitzer war, in welchen Bereichen er sich aufhalten durfte oder ob er durch kriminelle Handlungen aufgefallen war. Mit der Identität waren so viele Dinge des täglichen Lebens verknüpft. Wohnort, Krankenakte, Kontostand. Ohne Chip war man niemand. Man kam nirgends hin, man konnte nichts kaufen, kaum eines der Grundbedürfnisse überhaupt erfüllen.
Der alte Mann strich nachdenklich über den Injektor, mit dem er ihnen den Chip in den Hinterkopf schießen würde. Früher wurde dafür die Hand verwendet. Aber Unfälle, gerade in den unteren Bevölkerungsschichten, die gefährlicheren Aufgaben nachgingen, hatten gezeigt, dass dies ein schlechter Ort war. Die Hand konnte man verlieren und wie identifizierte man dann den Patienten und entschied, welche Art der Behandlung ihm zustand? Verlor man hingegen den Kopf, war es ohnehin meist zu spät für eine Rettung.
Bis die Patienten so weit waren, würde auch er eine Pause machen und sich einen Kaffee aus der SNM holen, der Synthetischen-Nahrungsmittel-Maschine. Diese kombinierte Elemente aus dem Speicher der Zitadelle zu Gegenständen. Sie erzeugte sowohl den Kaffee als auch den Kaffeebecher. Der Becher wurde später wieder zerlegt und die Rückstände des organisch verarbeiteten Kaffee ebenfalls, gefiltert und wieder dem System hinzugefügt. Wenn man das System nicht kannte, konnte die Vorstellung eklig sein. In einer Gesellschaft aber, die auf Wiederverwertung angewiesen war, trat so etwas irgendwann in den Hintergrund, bis sich niemand mehr fragte, wie es eigentlich funktionierte, sondern einfach akzeptierte, dass es so war. Deswegen erzählte er diese alten Geschichten auch immer wieder, damit sich die jungen Leute daran erinnerten, wie gut es ihnen eigentlich ging.
Die Türen des runden Raumes öffneten sich automatisch, als das System der Zitadelle seinen Chip las und er trat auf den Gang, zielstrebig auf den Automaten zu. Dann schlossen sich die Türen mit einem sanften Rauschen hinter ihm.
Nun, da auch er aus dem Raum war, konnte die Gestalt, die sich im Lüftungskanal über dem Raum verborgen hatte, ihr Versteck verlassen. Sie konnte die Ereignisse in Gang setzen, die den alten Mann in Kürze seinen Job kosten und das Leben in der Zitadelle für immer verändern würden.