Donnernd fuhr seine Hand auf den weißen Metallschreibtisch herab und die Reaktion der Gegenstände darauf war in etwa dieselbe, wie die seines Untergebenen. Sie sprangen schreckhaft auf.
"Es ist unverzeihlich, was sich einige Subjekte unserer Gesellschaft erlauben!", herrschte er den jungen Beamten an, der vor ihm stand. "Und unbegreiflich, wie ihr es einfach nicht schafft, der Sache Herr zu werden!"
Seit Monaten schon hatten sie mit diesem Ärgernis zu kämpfen. Überfälle auf Komponentenlager und Diebstähle von Elementen zur Herstellung von Luxusartikeln. Es waren immer nur kleine Mengen, die das Leben der Ratsmitglieder oder Oberweltler nicht beeinträchtigten, Verbrechen waren es dennoch.
Captain Pete Lover fixierte das Medienpanel, das eine komplette Wand seines Büros einnahm. "Wiederholen", brummte er und die entscheidende Tatszene wurde ein weiteres Mal abgespielt. Ein vermummter Kerl zertrümmerte mit einem Schlag der linken Hand mühelos eine Sicherheitstür und füllte dann den mitgebrachten Rucksack mit Hardware und mechanischen Ersatzteilen. Danach verschwand er im Lüftungskanal.
"Stop!", wies er das Medienpanel an. "Haben sie mitgezählt, wie lange er gebraucht hat?"
"23 Sekunden, Sir", antwortete der Beamte.
"Er hat genau gewusst, was er tut, der Mistkerl. Fortfahren!"
Die Aufnahme lief weiter und erst eine Minute und 36 Sekunden später erreichten die Sicherheitskräfte das Lager. So eine Verzögerung war unter normalen Umständen kein Problem. Man überprüfte einfach, welche ID-Chips sich zum Zeitpunkt des Verbrechens am Tatort aufgehalten hatten, und spürte ihre Besitzer auf. Die setzten sich vielleicht zur Wehr, hatten aber nie eine Chance. Diebstähle waren seltene Verzweiflungstaten. Genauso wie Gewaltdelikte. Und weil es kaum ernsthafte Verbrechen gab, befand sich das Sicherheitskorps auch in dem verlotterten Zustand, mit dem er sich jetzt auseinandersetzen musste.
Als hochdekorierter Kriegsveteran kam er aus einer Zeit, in der es noch richtige Konflikte gegeben hatte. Er erinnerte sich zwar nicht mehr an alles, aber das wusste er noch. Nicht, dass er bei diesem Schlamassel Zeit gefunden hätte, Nachforschungen anzustellen.
Nachdem sie das Budget für ein paar Sicherheitskameras bewilligt bekommen hatten, hatte sich der Täter schon auf mehreren Aufnahmen verewigt, auf denen er siegesgewiss seinen Arm in das Bild streckte. Seine Armprothese musste aus einer widerstandsfähigen Legierung gefertigt und mit Stabilisatoren und Kraftfeldern ausgerüstet sein. So etwas wurde sonst nur vom Sicherheitskorps verwendet. Anders konnte er sich nicht erklären, mit welcher Leichtigkeit er Sicherheitstüren einschlug, ohne sich selbst dabei zu verletzen oder die Prothese zu zerstören.
Das Schlimmste war aber, dass der Täter keinen ID-Chip besaß. Das war ein Präzedenzfall. Ohne Chip gab es keine Möglichkeit, ihn zu orten. Ein anderes Problem war die geringe Anzahl an Überwachungskameras, die es gab. Sie sahen zwar manchmal, wie er aus einem Schacht nahe eines Tatorts kam und darin wieder verschwand, aber danach war es unmöglich, herauszufinden, wohin er flüchtete.
Dass die Schächte von Menschen betreten wurden, war nicht ungewöhnlich. Es befanden sich ununterbrochen Techniker in den Kanälen, um Mängel zu beheben. Neben den Serviceschächten gab es Verbindungsschächte mit anderen Kanälen. Kanalisation, Elementpipelines, Luft- und Energieversorgung. Millionen von Wegen und keiner von ihnen wurde überwacht. Ein Fall, welchen die Erbauer nicht bedacht hatten.
Da jedem Bürger ein Chip implantiert wurde, war es auch nicht nötig gewesen. Es gab einen zentralen Sensor auf jeder Etage, der über eine Reichweite von 3 Stockwerken verfügte. An jeder Tür waren schwächere Sensoren angebracht, auch in den Läden. Sogar die verdammte Kaffeemaschine scannte einen und entschied, welche Marke man trinken durfte.
"Wie nennt ihr diesen Kerl doch gleich?"
"Eisenarm", murmelte der Beamte, dem das Aussprechen des Namens scheinbar ein wenig peinlich war.
"Wer ist denn bitte auf den Namen gekommen? Wie soll er mit einem Arm aus Eisen unsere Sicherheitstüren einschlagen?"
"Tut mir leid, Sir. Als wir die erste Aufnahmen auswerteten, war dieser Name bereits im System gespeichert."
Ein Codename. Wie ein Agent oder ein bescheuerter Superheld? Der jetzt ausgerechnet ihm auf der Nase herumtanzte? Zusätzlich zu den Kameras hatte er so viele Wachposten um die wichtigsten Lager verteilt, wie Dienstpläne und zugelassene Überstunden hergaben. Aber dann tauchte er einfach an einer ganz anderen, unerwarteten Stelle auf. Oder es gab Einbrüche mit anderem Vorgehen, die nicht mal einen Alarm auslösten. Es war zum Verzweifeln.
Captain Lover blickte seinen Untergebenen finster an. Der schrumpfte unter seinem Blick zusammen und legte die Handflächen gegen die Wand hinter sich. Als wolle er sich hinaustasten. Das war ihm nicht zu verübeln. Er war nicht nur der Boss, sondern ein Boss mit furchteinflößendem Äußeren. Das war ihm vollkommen bewusst.
Neben seinem linken Auge zog sich eine Tiefe Narbe Richtung Ohr. Darüber ersetzte eine weiße Metallplatte einen Teil seiner Schädeldecke. Den Rest seines Kopfes rasierte er sich jeden Tag kahl, um für ein einheitliches Bild zu sorgen.
Implantate und Prothesen an Schultern und Wirbelsäule verliehen ihm eine bullige Statur. Da er trotz seines Alters noch regelmäßig trainierte, war er ein robuster und kräftiger Schrank, dem die Leute auf der Straße schon fünf Meter vorher Platz machten, damit er sie nicht versehentlich niedertrampelte.
Wenn man die Zeit in der Kältekammer abzog, war er jetzt 49 Jahre alt. Verglichen mit den Menschen der oberen Etagen, war das noch jung. Die Medizin schaffte es in dieser Welt, sowohl Körper als auch Geist weit über hundert Jahre in Form zu halten. Wenn er das Leben in der Zitadelle betrachtete, fragte er sich aber nicht selten, wozu.
Seit etwa vierzig Jahren hatte kein Mensch mehr die Zitadelle verlassen. Sie waren alle hier drinnen eingepfercht. Momentan 1.662.036 per ID registrierte Menschen. Plus eine einstellige Dunkelziffer krimineller, ungechipter Subjekte. Für die Bewohner der Oberwelt gab es ganze Etagen, die nur dem Zeitvertreib dienten. Aber irgendwann mussten sie doch alles getan haben, was man tun konnte, oder?
Die Bewohner der unteren Etagen hatten weniger Privilegien. Niemand verhungerte, aber in jedem Bereich war ihr Leben schlechter als das der Oberweltler. Es gab nur wenige Wege, dem zu entgehen. Manchmal hatte man das Glück und landete in einem Beruf, der Aufstiegschancen bot. Im Sicherheitskorps oder der Technikabteilung etwa.
'Etwas schlechter' war eigentlich gelogen. Captain Lover wusste, wie es um die Unterweltler stand. Sie wurden mittels billiger Unterhaltung gefügig gehalten, auffälligen Bewohnern wurden beruhigende Elemente über die Nahrung zugeführt. Das führte irgendwann zu Resistenzen oder Sucht. Diese Personen bildeten im täglichen Leben eine Gefahr für ihre Umgebung und nicht selten waren sie Ursache und zugleich Opfer der Unfälle dort unten.
Doch er wurde dafür aufgetaut und bezahlt, dieses System zu beschützen. Es war nicht gerecht, unterschied sich also nicht von dem System vor der Eiszeit. Es konnte nicht funktionieren, wenn es niemanden gab, der die schweren Arbeiten verrichtete, ohne dabei viel Ressourcen zu verbrauchen. So ein System musste auf Männer wie ihn bauen, um es aufrecht zu erhalten. Und gebraucht zu werden, erfüllte ihn mit einer unbeschreiblichen Zufriedenheit.
Das System wurde durch Typen wie diesen Eisenarm gefährdet. Captain Lover war ein Mann der Tat und das war in der Truppe weithin bekannt. Wenn tausend Seiten digitalen Papierkrams zu diesem Fall bei ihm landeten, musste das bedeuten, dass jemand weiter oben ihn nicht mochte. Doch er sah das als Chance, sich dem System gegenüber zu beweisen. Er würde das Problem lösen und weiter aufsteigen. Und dann diesen müden Sauhaufen, der sich das Sicherheitskorps schimpfte, umkrempeln.
"Sie können wegtreten." Er scheuchte seinen Untergebenen mit einer Handbewegung aus dem Raum. Als er allein war, wählte er mit einer Berührung einen Ordner im Medienpanel seines Schreibtisches aus. Er hätte am liebsten mit Maus und Tastatur gearbeitet, die Kittel aus der Technikabteilung hatten ihn aber nur fragend angesehen. Jetzt musste er mit Touch und Stimmsteuerung arbeiten und selbst das war für sie noch altmodisch.
Der Ordner, in den er wechselte, enthielt Berichte, denen entweder wenig Beachtung geschenkt wurde oder die in den Zuständigkeitsbereich anderer Abteilungen fielen. Es gab aber keine unwichtigen Spuren. Und Informationen nicht zu kennen, nur weil er für die Umgehung bürokratischer Hürden Wochen warten sollte, war nicht akzeptabel.
Zuerst sah er sich Berichte über verdächtige Operationen am Kopf an. Patienten und medizinisches Personal waren gespeichert und er konnte die Position all ihrer Chips abrufen. Auch die Liste installierter Prothesen brachte ihn nicht weiter.
Neben den Meds, die zugelassene Operationen durchführten, gab es in der Unterwelt auch andere. Sie waren durch die Prüfungen gefallen oder hatten Fehler gemacht. Sie hatten keine Lizenz, um in den MedCentern der Oberwelt zu arbeiten, und taten das stattdessen privat in ihren kleinen Garagen in der Unterwelt. Wie alles andere war auch das gewollt. Kaum jemand arbeitete freiwillig in den untersten Etagen und so zwang das System einige von ihnen trotzdem dorthin.
Dass es unter ihnen jemanden gab, der trotz fehlendem Operationsrobotern einen Eingriff am Kopf durchnahm, war möglich, die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Patienten musste aber verschwindend gering sein. So wie Eisenarm ausgerüstet war, noch unwahrscheinlicher. Dennoch würde er einige Männer bei den bekannten Quacksalbern vorbeischicken.
Wenn sein Chip also nicht operativ entfernt worden war, bestand dann die Möglichkeit, dass jemand schon beim Einsetzen gepfuscht hatte? Einen defekten Chip eingesetzt, die Registrierung vergeigt oder nicht überprüft?
Er ging die Berichte, die vor dem ersten Einbruch datiert waren, chronologisch rückwärts durch. In letzter Zeit war die Anzahl der Unfälle in der Unterwelt gestiegen und deswegen mussten viele Menschen als Ersatz aufgetaut werden. Die meisten Berichte waren jedoch ereignislos. Das Auftauen war ein Vorgang, den die Hypothermieabteilung offensichtlich schon nahezu perfektioniert hatte.
Er öffnete den nächsten Bericht, blickte auf die Uhr und verfluchte sich sofort dafür. Er war schon Stunden mit dieser Arbeit beschäftigt. Eigentlich war es längst Zeit für den Feierabend. Er wollte das Dokument gerade wieder schließen, da entdeckte er etwas, das ihn stutzig machte. Dort war etwas gewaltig schiefgegangen. Der zuständige Med, ein gewisser Dr. hyp. Alesio hatte gemeldet, dass die Operationsroboter in den Kältekammern eine Fehlfunktion hatten und gleich vier Patienten auf einmal als Verlust verzeichnet. Die Roboter liefen genau zu dem Zeitpunkt Amok, als er eine Kaffeepause machte. Er hatte vollkommen zurecht Job und Lizenz verloren und fristete nun sein Dasein als Quacksalber in den unteren Etagen.
Der Captain fokussierte den Augensensor des Medienpanels, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. "Scanne nach ähnlichen Vorfällen in den Jahren vor diesem Bericht."
"Scanne ...", bestätigte das Medienpanel in monotoner weiblicher Stimme. "Keine Übereinstimmung, im Monat davor ... im Jahr davor ... zwei Jahre zuvor ..."
Bei fünf Jahren brach er die Suche ab.
"Der Bericht enthält ja nicht viele Informationen", murmelte er. "Ich werde diesem Dr. Alesio wohl einen Besuch abstatten müssen."
Er würde persönlich gehen, schließlich sollte es auch richtig gemacht werden. Die Grünschnäbel, die ihm unterstellt waren, hatten in ihrem Leben sicher noch keinen einzigen Menschen gefoltert. Er hatte da keine Hemmungen, falls es nötig war. Immerhin hing die Sicherheit der Zitadelle davon ab.
Er nahm sich eine schwarze Sicherheitsweste in Form eines münzgroßen Plättchens aus dem Schrank. Modell AW12. Das AW stand für Außenwelt und wurde früher von Sicherheitskräften verwendet, die Schrottsammler und Forscher eskortierten, die sich aus der Zitadelle wagten. Damals, bevor der Rat die Außenweltsperre verhängt hatte. Die Weste schützte gegen alles, was man sich innerhalb und außerhalb der Zitadelle als Gefahr vorstellen konnte. Projektile, Energiestrahlen, chemische Waffen, Zähne, Klauen und vieles mehr. Sie hielt die Körpertemperatur stabil, erweiterte sich bei Bedarf über Hände und Gesicht und filterte die Atemluft.
Eine Ausrüstung, die heutzutage nicht mehr produziert wurde, wogegen sollte man sie in der Zitadelle auch brauchen? Nur dank seines Ranges und seines fiesen Blickes hatte er sich eine beschaffen können.
Er legte das schwarze Plättchen auf sein linkes Handgelenk, wo es sich festsaugte. Dann drehte er es einige Millimeter nach rechts und spürte, wie sich die Weste kribbelnd direkt auf seiner Haut und unter seiner schlichten blauen Synthetikkleidung ausbreitete. Er hatte keine Uniform an, die stand seiner Körperform einfach nicht. Sein Dienstgrad war auf der Metallplatte auf seinem Schädel abzulesen. Er klopfte mit den Knöcheln seiner Faust darauf und der Schriftzug verschwand. Die Kerle hatten ein übersinnliches Gespür, wenn es um ihre Haut ging, manche auch Freunde oder Informanten, die sie warnten. Er riskierte besser nicht, dass sein Ziel ihn als Sik erkannte und eine Dummheit beging.
Am rechten Handgelenk schnallte er seinen Navigator fest, der ihm den Weg zum gesuchten Chip weisen würde. Er setzte besser keine taktische Brille auf, aus demselben Grund, aus dem er auf die Rangzeichen verzichtete.
Aus dem Waffenschrank schnappte er sich seine Laserpistole. Es war eine Spezialanfertigung, die größer und klobiger als die Standardwaffen war und wesentlich mehr wog. So gab sie ihm wenigstens das Gefühl, eine richtige Waffe in der Hand zu halten. Die hängte er sich sichtbar in einen Brustgurt.
In der Unterwelt war Waffenführung nicht verboten und oft sogar notwendig. Je tiefer sich die Minen in die Erde gruben, desto höher wurde die Gefahr, auf etwas zu stoßen, dem man nicht begegnen wollte. In den oberen Ebenen hingegen galt ein striktes Waffenverbot, außer man gehörte dem Sicherheitskorps an.
Er strich sich mit der rechten Hand über den Kopf, um ein letztes Mal zu prüfen, ob die Haare noch kurz genug waren, und sprach die ID seines Zieles in den Navigator. Dann trat er in die Welt der Zitadelle hinaus, die ihm selbst nach vier Jahren immer noch fremd erschien.