Ich setzte den Miniaturlaser ab und das erhitzte Metall bäumte sich ein letztes Mal glimmend auf. Abgekühlt fügte es sich farblich perfekt in das Gesamtbild ein.
Entsprechend meiner Erinnerung an den Raumschiffhandschuh hatte ich mir eine Version gebastelt, die mit den Systemen der Zitadelle kompatibel sein sollte. In doppelter Ausführung. Einen für die linke Hand und einen für die rechte.
Metalle und Kunststoffe waren in der Unterwelt selten, deswegen beschränkten sich diese Materialien nur auf die Schaltkreise und Kontaktstellen mit den Ports, die ich mir an den Handflächen implantieren lassen hatte. Sie stellten die Schnittstellen zum Nervensystem dar. Sie waren winzig, nur zu erkennen, wenn man wusste, wohin man sehen musste und auch nur, wenn ich die Hände still hielt. Ich zog einen Handschuh über und mit einem hohen, metallischen Klicken, verbanden sie sich mit den Ports.
Der Rest des Handschuhs bestand aus grün gefärbtem Riesenrattenleder. Das waren wirklich widerstandsfähige Biester und ihre Haut stabil genug, um meine Hände und die Schaltkreise sogar vor einem Eiszombieschlag zu schützen. Fingerkuppen und Handflächen der Handschuhe ließen sich per Gedankensteuerung öffnen und legten die Kontaktflächen frei, falls ich mich mit einem System verbinden wollte.
Mein restliches Outfit war ebenfalls grün. Nun konnte man vermuten, dass es in der Unterwelt irgendwo einen Wald zu pflegen galt, doch tatsächlich handelte es sich um eine Uniform der Technikabteilung. Es war kein starkes Grün, auch nicht aufdringlich grell. Es was so ein blasses Apfelgrün, das dem Unterbewusstsein der Menschen einflüsterte, dass alles in Ordnung war. Der Besitzer gehörte hier hin, ja, sogar genau jetzt in dein Wohnzimmer. Er würde etwas reparieren. Wahrscheinlich die gestörte Medienberieselung oder dem Nahrungssynth eine neue Geschmacksrichtung hinzufügen.
Diese Uniform war aber nicht nur eine Technikeruniform. Sie war besonders. Sie hatte ein paar Modifikationen. Bei der Standardausführung prangte auf der Brust eine Kennzeichnung für die Etage, in welcher der Tek zuständig war, und sein Dienstrang. Die wurden nur selten beachtet, noch weniger als der Tek selbst. Seine ID wurde ohnehin von den Scannern der Zitadelle bei jedem seiner Schritte geprüft.
Aber da es immer Ausnahmen gab und das Sicherheitskorps inzwischen aufmerksamer wurde, hatten wir für diese Stelle eine Ladung Chamäleon geklaut. Das war ein Synthetikstoff, der ursprünglich für die Rüstungen der Schrottis und ihrer Bodyguards verwendet wurde. Er konnte auf Befehl die Farbe wechseln. Nachdem keine Einsätze mehr in die Außenwelt durchgeführt wurden, griff die Modeindustrie der Oberwelt diese Idee auf. Stoffe, die abhängig von den Emotionen des Trägers ihre Farbe wechseln konnten. Momentan der letzte Schrei. Es war ein kleines Kunststück gewesen, die Rezeptoren des Stoffes wieder auf Stromstöße umzustellen.
Eigentlich wollten wir nur die Kennzeichnung aus dem Stoff basteln, da wir aber so viel Chamäleon erbeutet hatten, bestand nun die komplette Uniform daraus. An der Programmierung mussten wir noch arbeiten, danach konnte aus der Technikeruniform auch eine in Weiß für die Meds oder in Schwarz für das Sicherheitskorps werden. Oder ein schmutziges Braun, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ, dass auch ich in die Kanalisation klettern musste. Allein bei dem Gedanken fing meine Nase schon wieder zu jucken an.
Ein Schrei ertönte aus Richtung der Tür, die zum Hof führte, Moritz stürmte herein und rief "Schleimbestie!" Zwischen Türrahmen und Schleimbestienopfer konnte ich einen kurzen Blick auf Klara erhaschen, die triefend von ihrem Auftrag zurückgekommen war.
Ich ballte meine Fäuste, um die Beweglichkeit der neuen Handschuhe zu testen, und bei dem Anblick vergaß Moritz das tropfende Monster sofort.
"Ah, du bist fertig? Legen wir jetzt die Zitadelle lahm?"
Ich entspannte die Fäuste und lachte.
"Ich hoffe nicht. Ob ich sie überhaupt in der Zitadelle einsetzen kann, hängt ja von unserem nächsten Auftrag ab. Aber ich bin vorsichtig optimistisch."
"Ach komm schon. Wenn wir uns zusammentun, was soll dann schiefgehen?"
Ich verzog einen Mundwinkel. Es konnte so einiges schiefgehen. Aber ich verzichtete darauf, wieder einmal das Terraformer-Debakel zu erwähnen. "Wie sieht es mit deinem Projekt aus. Wie weit bist du?"
"Das Ding wird reinhaun, das kannst du aber glauben. Damit schalten wir mindestens die halbe Etage aus und keiner wird wissen, was eigentlich los ist." Mit den Worten schwang er den Apparat, den er in der Hand hielt, durch die Luft.
"Du bist so verrückt!" Ich zeigte ihm den Daumen und er verschwand grinsend an seiner Werkbank.
Er war ein verdammter Maschinenfreak. Auf einer viel schlimmeren Ebene als meine Affinität zum Innenleben der Systeme. Er konnte sich aus den Schrotthaufen im Hinterhof wahllos eine Handvoll Sachen schnappen und baute eine Bombe daraus. Es lag ihm irgendwie im Blut.
Außerdem kam seine Erinnerung Stück für Stück zurück und er war sich sicher, dass sie auch stimmte. Bei dem Rest von uns lag der Fall anders. Numbaka hatte uns erklärt, wo die Menschen herkamen, die plötzlich aus dem Nichts auftauchten und sich als deine neuen Nachbarn vorstellten. Doch niemand zog in der Zitadellenstadt um. Zumindest nicht in der Unterwelt.
Es waren Leute, die vor langer Zeit eingefroren wurden, um dem Tod zu entgehen. Nun wurden sie hier, nachdem die Welt endlich im Eimer war, als billige Arbeitskräfte wieder aufgetaut. Und wieder zusammengeflickt, falls das nötig war. Zur Krönung wurden sie einer Gehirnwäsche unterzogen, damit niemand auch nur auf den Gedanken kam, dass etwas faul an der eigenen Geschichte sein konnte.
Wir konnten uns alle an einen ähnlichen Ablauf der Dinge erinnern, der so gar nicht Numbakas Erklärung entsprach. Das Raumschiff hatte gewisse Ähnlichkeiten mit der Zitadelle und wir verfügten immer noch über unsere besonderen Talente. Das war es im Großen und Ganzen auch schon. Bei unserer Aufweck-Simulation musste irgendetwas gewaltig schief gelaufen sein, oder wir hatten tatsächlich genau das erlebt, was in unserer Erinnerung gespeichert war. Moritz glaubte an Letzteres.
Da wir keine Trüben waren, gaben wir uns natürlich nicht unserem Schicksal hin. Die Trüben nannte man jene Menschen, die von der Medienflut schon so eingelullt waren, dass sie den ganzen Tag mit ziellosem Blick durch die Gegend schlurften, wie Zombies. Wenigstens keine Eiszombies. Sie verrichteten ihre monotone Arbeit und tauchten am Abend, mit einer synthetischen Fertigmahlzeit auf dem Schoß, in das Mediennetzwerk ein. Sie interessierte nicht, wo sie herkamen, wohin sie ihr Weg führen würde oder warum Klara ihnen mit wasserfester Farbe im Gesicht rummalte.
Bei uns lag die Sache anders. Wir wollten wissen, was passiert war. Und dafür würden wir alles tun. Meine letzte Erinnerung vor dem Aufwachen in der Zitadelle war der Feuerball, der mich verbrannte. Der beißende Geruch meines verbrennenden Fleisches stach mir regelmäßig in der Nase, wenn ich morgens nach einem Albtraum erwachte. Manchmal wurde ich ihn den ganzen Tag über nicht los. Wenn das nicht wirklich passiert wäre, könnte ich mich dann so intensiv daran erinnern?
Die Informationen, nach denen wir suchten, gab es natürlich nicht umsonst. Wir arbeiteten am Anfang für Numbaka in der Werkstatt und der Bar. Als wir uns darauf geeinigt hatten, dass wir aktiv nach Infos suchen wollten und ihn darauf ansprachen, bot er uns einen Deal an. Wir drehten krumme Dinger für ihn, womit wir bisher dank fehlender ID unbestraft davongekommen waren. Er half uns im Gegenzug, an die Informationen zu kommen.
Natürlich stellte sich heraus, dass die in der Unterwelt einholbaren Informationen bestenfalls dürftig waren. Der Zugriff auf alles, außer Unterhaltung in allen erdenkbaren Formen, war hier unten beschränkt. Je älter die Leute waren, desto mehr wussten sie zwar über die Außenwelt, bevor die Tore geschlossen wurden, aber desto lückenhafter waren diese Erinnerungen. Numbaka selbst bildete da keine Ausnahme.
Er konnte sich an das Eis und die Kreaturen erinnern, die ihm dort draußen begegnet waren. Einige der Beschreibungen ließen bekannte Bilder aufflackern. Was die Geschichte der Zitadelle anging oder die Gründe für die Schließung der Tore, da hatte er keinen Schimmer. Um Letzteres rankten sich so viele unterschiedliche Legenden, zwischen denen wir meist nicht einmal Parallelen ziehen konnten, dass wir aufgaben, die Leute hier unten zu befragen.
Es gab mehr Wissen, aber nur für die privilegierteren Bevölkerungsschichten. Wir mussten also in die Oberwelt. Als wir zu diesem Schluss gekommen waren, fingen die Missionen an, auch unserem eigenen Zweck zu dienen. Wir klauten Hardware zum Eigenbedarf und größere Mengen Luxusartikel, die wir gegen alles eintauschten, das uns nützlich erschien.
Wir wurden wagemutiger, und jetzt hatten wir das Sicherheitskorps an der Backe. Nur noch diese eine Mission, dann sollte sich das ändern und wir würden unserem Ziel einen Schritt näherkommen. Ja, das klang etwas verzweifelt und verzweifelte Pläne waren eigentlich zum Scheitern verurteilt, aber jetzt waren wir schon so weit gekommen, da konnten wir nicht mehr zurück.
Die Tür auf der entgegengesetzten Seite des Raums öffnete sich. Sergej trat ein und ein Schwall Barlärm begleitete ihn. Grölende Kerle, Diskussionen, der Lärm eines Medienpanels, das sich alle in der Bar für ihre Unterhaltung teilen mussten. Hinter Sergej lag der Verkaufsraum, an dessen Ende sich die Tür zur Bar befand. Die war noch offen und als sie zuschwang, ebbte der Lärm ab. Dann schloss sich auch die Tür zum Schuppen und es herrschte wieder angenehme Stille.
"Deine Schicht ist zu Ende?", fragte ich.
Sergej war einer der Rausschmeißer. Mit seiner weiß glänzenden Armprothese, dem kahl geschorenen Kopf und der Narbe, die sich von seiner linken Wange bis zum Hals unter das Hemd zog, sah er wirklich gefährlich aus. Genau der richtige Mann für diesen Job.
Er warf mir einen finsteren Blick zu.
Die Ungewissheit über unsere Vergangenheit nagte an ihm mehr als an jedem anderen von uns. Er hatte Bruder und Mutter verloren, geglaubt, ich sei dafür verantwortlich und hatte sogar versucht, mich dafür umzubringen. Und ich erinnerte mich daran, dass er bei dem Versuch starb. Er selbst erinnerte sich daran. Trotzdem wachten wir beide nebeneinander auf und nur Moritz hatte verhindert, dass wir gleich wieder aufeinander losgingen. Wir hatten Nächte durchgemacht und Theorien aufgestellt, was wirklich passiert sein konnte. Doch ohne Anhaltspunkte blieben sie nichts anderes als wilde Spekulationen. Wir beide waren die treibende Kraft, um dieses Mysterium aufzuklären.
Moritz hatte seine eigenen Erinnerungen und Klara war jung und gewöhnte sich besser an die Zitadelle, als wir. Vielleicht halfen ihr auch die Ratten dabei. Wer wusste schon, über was die sich unterhielten?
Doch zurück zu Sergej und mir. Wir waren uns einig, dass wir in unserem früheren Leben Freunde gewesen waren, auch wenn unsere Auslegung unterschiedlich war, wie tief die Freundschaft ging. Die ganze Sache war nicht einfach und ich wusste, dass er immer noch nicht vollkommen von meiner Unschuld an dem Tod seiner Familie überzeugt war. Selbst wenn er nichts sagte, schwebte der Vorwurf immer zwischen uns. Nur, wenn wir in Aktion traten, einen Job zu erledigen hatten, konnten wir das beiseiteschieben. Zumindest ich. Und wenn wir am Ende Antworten bekamen, konnten wir die Sache vielleicht endgültig begraben.
Sergej grummelte etwas und spuckte eine zerkaute Patronenhülse aus. Die Barbesucher kamen oft bewaffnet in die Bar und so zeigte er ihnen, dass er im wahrsten Sinne Blei fressen konnte. Alter Angeber, als ob der Arm sie nicht genug einschüchtern würde.
"Bäh, du bist eklig!" Klara rümpfte die Nase, als sie in ihren Synthetikklamotten und mit der Wollmütze auf dem Kopf den Raum betrat. Sie war inzwischen gewachsen, aber immer noch eine freche Göre.
Sergej murmelte etwas Abfälliges zur Antwort.
"Sie hat recht. Das ist eine bescheuerte Angewohnheit", unterstützte ich Klaras Position.
"Ist ja gut. Wenn wir in der Oberwelt sind, benehm ich mich wie der feine Herr Ruiz am Tage."
Ratsherr Ruiz war eine Figur aus den Legenden der Stadt. In der Anfangszeit der Zitadelle hatte er sich für die Unterweltler eingesetzt, am Tage im Rat, immer höflich und freundlich. Und bei Nacht zog er in einem alten Kampfanzug des Militärs durch die Stadt und beschützte unter der Identität "El Robo" die einfachen Bürger vor der Willkür der Polizei. Bis er sich einem Polizeiaufgebot gegenübersah, das er nicht überwinden konnte. Er wurde gefangen und hingerichtet. Konnte einem als Untergrundkämpfer schon Mut machen, diese Story.
"Solange du dich bei Nacht nicht so rücksichtslos verhältst wie er, nehm ich dich beim Wort", konterte ich.
Er lachte. "So, wie ich das sehe, gibt es im Sicherheitskorps heutzutage nur noch Bubis aus reichen Familien, denen etwas Disziplin beigebracht werden soll. Wenn ich in einem Kampfanzug vor ihnen stehen würde, würden die sich alle in die Hose scheißen und weinend davonrennen."
"Ohne einen Kampfanzug würden sie dich einfach betäuben, in eine Zelle stecken und verrosten lassen."
"Ja, ja, mach dich nur lustig über meinen Arm. Der kann wenigstens Türen zertrümmern. Ich wär ruhig, wenn ich vier Jahre lang an einem nutzlosen Spielzeug rumgebastelt hätte."
Ja, er war mir etwas voraus. Moritz hatte den Arm modifiziert, ihm ein Schutzfeld verpasst, das Kugeln und Energiestrahlen abfing und mit dem man auch mal eine Tür durchschlagen konnte, ohne sich oder den Arm dabei zu verletzen.
"Herausforderung angenommen!", antwortete ich.
Um den Handschuh zu testen, hatte ich mir im Schuppen Strom- und Datenkreisläufe aufgebaut, von denen ich jetzt einen mit dem linken Handschuh berührte. Ich dimmte das Licht, bis es flackerte.
"Erwecke nicht den Zorn der mächtigen …", begann ich mit einer tiefen verstellten Stimme und hob die andere Hand drohend. Klara prustete, versuchte, sich zurückzuhalten, doch dann erfüllte ihr helles Lachen den Raum.
"Danke, Klara, vielen Dank. Jetzt hast du meine Show kaputtgemacht." Ich stellte wieder die normale Lichtstärke her. "Also gut, mir ist klar, dass ich erst noch beweisen muss, dass meine Idee funktioniert. Aber falls sie funktioniert, und da bin ich mir sicher, …"
"… dann müsst ihr euch hüten, dass euch die Siks nicht für noch mehr Verbrechen suchen", beendete Numbaka meinen Satz.
Völlig unbemerkt war der alte Mann in den Raum geschlichen. Eine Fähigkeit, an der er in seiner Zeit als Schrotti gefeilt hatte, und noch immer perfekt beherrschte.
"Seid ihr gut vorbereitet? Ich will morgen keine Propagandasendung des Sicherheitskorps sehen müssen, in der sie damit prahlen, wie sie der Schreckensherrschaft einer brutalen Unterweltbande das Handwerk gelegt haben. Begleitet von vier schwarzen Säcken, die aus dem Bild getragen werden."
"Das will keiner von uns", sagte ich, etwas leiser. "Ich bin bereit. Moritz auch. Und Sergej braucht man so etwas gar nicht fragen."
"Nein. Wem soll ich den Kopf einschlagen?", fragte er grimmig mit vorgeschobenem Unterkiefer, was Klara, die sich gerade beruhigt hatte, erneut zum Lachen brachte.
"Wie sieht's bei dir aus, Klara? Du bist grade erst zurückgekommen. Willst du dich noch etwas ausruhen, bevor wir loslegen?"
Sie nickte, streckte sich und gähnte. Dann lief sie aus dem Raum, durch den Laden und bog links in den Wohnbereich ab, dicht gefolgt von ihrer Riesenratte. Wenigstens nahm sie die nicht auch noch mit ins Bett.
"Okay, dann geh'n wir noch einmal den Plan durch", sagte ich und breitete eine handgezeichnete Karte auf einem großen Tisch in der Mitte des Raums aus.