Ebene U4. Das war das erste Mal, dass uns eine Mission so nah an die Oberfläche führte. Denn genau dort mussten wir in dieser Nacht hinauf. Unser momentanes Zuhause lag auf Ebene U102, fast in der Mitte der offiziellen 201 Ebenen der Unterwelt. Darunter und daneben gab es noch Stollen und Schächte, die eigentlich unbewohnt waren und deswegen nicht mitzählten. Und eigentlich wollte auch niemand so genau wissen, was dort in Wirklichkeit trotzdem hauste.
Das Licht meiner Stirnlampe wanderte zitternd über die graue Betonwand und blieb an Klaras buckligem Rücken kleben. Die Kleine war mir schon wieder ein paar Meter voraus.
"Die Ratten haben keinem was erzählt, ehrlich!", rief sie voller Überzeugung und laut genug, um das Rauschen vor uns zu übertönen.
"Dass es jemand von uns war, halte ich sowieso für ausgeschlossen", beschwichtigte ich sie.
"Ich glaube auch nicht, dass es Numbaka war", warf Moritz ein, als wir durch das Lüftungsrohr gingen. Er hielt sich an einem Griff am Rand des riesigen Rohrs fest, dessen Durchmesser groß genug war, dass ein erwachsener Mann darin stehen konnte und die Decke erst dann berührte, wenn er die Arme in die Höhe streckte. Moritz beugte sich nach vorn, seine Haare stellten sich im gewaltigen Luftstrom auf und sein Gesicht verformte sich unter dem Druck.
Der Lüftungskanal war der schnellste Weg nach oben. In den Vertikalrohren herrschte ein stetiger, starker Luftstrom. Man musste nur hineinspringen und wurde nach oben getragen. Nun, falls man die richtige Kleidung trug.
Wir hatten unsere Synthetikanzüge für dieses Manöver mit Flughäuten erweitert, die zwischen Armen, Seiten und Beinen angebracht waren. Eine Drehung des Knopfes ließ die Anzüge über unsere Haut wachsen, eine weitere brachte die Flughäute zum Vorschein. Ganz einfach. Man sollte nur nicht im Flug in die falsche Richtung drehen.
Moritz sprang los und fiel nach unten. Bei diesem Anblick sackte mein Blut jedes Mal in die Magengegend. Erst einen Augenblick später schoss er an uns vorbei, wieder nach oben. Ich zählte die Sekunden ab, dann folgte ich ihm und breitete die Arme aus.
Der Luftstrom packte mich, riss an Armen und Beinen und drohte, mir die Luft aus den Lungen zu pressen. Beim ersten Mal hatte er das geschafft. Auch wenn ich hier in Sauerstoff badete, machten es die Strömungen in den Vertikalkanälen praktisch unmöglich, Luft zu holen. Sergej hatte mich gepackt, als ich abstürzte, und mir einmal mehr den Hals gerettet. So wie in unserer Jugend.
Dank Lauftraining, denn hier musste man echt überall hinlaufen, war meine Ausdauer besser und ich hatte ein Gefühl dafür, wie lang mein Atem hielt. Und wusste, wie man die wertvolle Luft in seinem Körper behielt.
Ich zählte die Etagen ab, die an mir vorbei sausten, und machte mich bereit. Und da war auch schon Moritz Arm, mein Zeichen, die eigenen Arme anzuwinkeln. Der Sog ließ nach und ich stürzte. Auf die Öffnung zu, vor der ich die Arme wieder ausbreitete, aber nur so weit, dass ich vor ihm schwebte und er mich hineinziehen konnte.
Unser Timing musste perfekt sein, damit das alles funktionierte und man mit keinem der anderen zusammenstieß. Ansonsten musste man ohne Hilfe in einem anderen Seitentunnel landen, oder irgendwie versuchen, einen der Haltegriff zu erwischen, an denen sich sonst Reparaturteams einhängen konnten. Moritz hatte dafür ein besonderes Talent, deswegen flog er in der Regel auch voraus.
Jetzt kam Klara, ich schnappte sie und half ihr in den Tunnel. Für Sergej mussten Moritz und ich beide anpacken. Er hinterließ bei seiner Landung sonst gerne Löcher im Beton.
Solche Pausen mussten wir immer wieder machen, um Luft zu holen. Häufiger, weil Klara dabei war, oder wann immer wir in einen anderen Vertikalkanal wechseln mussten. Es waren immer ein paar Etagen über dasselbe Lüftungssystem verbunden und so konnte man Stück für Stück die Strecke bis U2 zurücklegen.
Die Grenzetagen zwischen der Unter- und Oberwelt wurden von einem eigenen System versorgt, das direkt von der Außenwelt gespeist wurde, genauso wie die Etagen darüber. Die Menschen hier unten mussten sich mit derselben, immer wieder gefilterten und aufbereiteten Luft begnügen.
Auf der anderen Seite waren die Etagen unter der Oberfläche auch der Ort, an dem ein Überleben am wahrscheinlichsten war, falls der Zitadelle ein irreparabler Schaden zugefügt wurde. Auch wenn das in der Oberwelt niemand glaubte. Die Zitadelle wurde schließlich erbaut, um den Äonen und der Natur zu trotzen, und alle Menschen, die von außen Atomraketen darauf schießen konnten, saßen ja selbst in den Zitadellen. Alle anderen waren erfroren.
Bei Ebene U37, wie ich an einer verblassten gelben Nummer im Inneren des Horizontalkanals ablesen konnte, musste Klara ihr Gepäck wieder richten. Brownie schien es nicht mehr auf ihrem Rücken auszuhalten und versuchte, sich zu befreien. Wir machten also eine kurze Pause, um etwas mehr, als nur ein paar Atemzüge Luft zu holen. Außerdem war es eine gute Gelegenheit, um unsere Diskussion von vorher fortzuführen.
"Numbaka ist doch viel zu sehr auf seinen Profit aus, als dass er unser Geheimnis mit irgendjemand teilen würde", setze Moritz seinen Gedankengang fort.
"Und was, wenn ihm jemand so viel Kohle geboten hat, dass er sich oben zur Ruhe setzen kann?", fragte Sergej.
Ich schüttelte den Kopf "Dazu hätte diese unbekannte Person ja bereits vorher etwas gewusst haben müssen. Ansonsten wäre er doch Gefahr gelaufen, uns ohne Gegenleistung zu verlieren."
Sergej brummte.
"Außerdem hat die Frau in der Nachricht behauptet, dass sie sich für die Unterweltler einsetzen und gegen den Rat arbeiten würden. Jemandem eine Position in der Oberwelt zu versprechen und gleichzeitig darauf hinzuarbeiten, dieses System zu zerstören, würde sich doch stark widersprechen."
"Okay", gab Sergej zu.
"Vielleicht ..." Moritz lehnte sich gegen die Kanalwand und rieb sich nachdenklich das Kinn. "Vielleicht haben sie auch einen Sensor entwickelt, der Menschen ohne Zugriff auf ihre ID unterscheiden und aufspüren kann."
Ich zog die Augenbrauen hoch. "Ich hoffe nicht. Dann wär alles umsonst gewesen." Ich schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. "Falls eine Organisation, abseits der offiziellen Abteilungen, über so ein Werkzeug verfügen würde, wie wahrscheinlich wäre es dann, dass die Siks nicht auch Zugriff darauf haben? Die hätten uns doch schon vor Ewigkeiten in den Äußersten Ring verfrachtet."
Der Äußerste Ring war das Gefängnis der Zitadelle. Es war kein wirklicher Ring, nur ein unfertiges Bruchstück davon und befand sich auf E0, der Erdoberfläche. Ein unklimatisierter Tunnel verband den Äußersten Ring mit dem Ring des Sicherheitskorps, in dem sich Trainingsbaracken, Lager und Büros unserer geliebten Ordnungshüter befanden.
Ich wusste nicht, wann das letzte Mal ein Gefangener tatsächlich dorthin gebracht wurde. Es hieß, dass dieser Bereich selbstversorgend war und ein Ausbruch einem Selbstmord gleichkam. Deswegen musste ihn niemand überwachen und es gab keine offiziellen Zahlen über die Zahl der Insassen, die noch lebten. Als die Tore nach draußen noch offen waren, kam es wohl öfter vor, dass jemand dorthin gebracht wurde, hatte uns Numbaka erzählt, aber später wurde in den Medien niemand mehr erwähnt. Unsere Überfälle waren vielleicht das Schlimmste, was die Zitadelle in den letzten Jahren heimgesucht hatte, aber ob das so eine Maßnahme rechtfertigen würde?
Ich wischte den Gedanken an den Äußersten Ring hinfort, denn wir würden uns nicht fassen lassen.
"Sie haben gesagt, dass sie uns nach diesem Auftrag kontaktieren würden. Seid aufmerksam, vielleicht bekommen wir den Boten diesmal zu fassen", sagte ich.
"Und dann foltern wir ihn, bis er einen Namen ausspuckt?" Sergej ließ die Faust seiner Prothese bedeutungsvoll gegen die Wand des Kanals krachen. "Find ich klasse, die Idee."
"Sergej, wir sind unter uns. Da musst du nicht mehr den harten Rausschmeißer spielen. Wirklich nicht", neckte ihn Klara. "Wir wissen doch alle, dass du in Wirklichkeit ein Schmusebär bist. Sogar Brownie hat dich durchschaut."
Das brachte uns alle zum Lachen. Nun, alle bis auf Sergej. Der versuchte Klara finster anzustarren, doch dann konnte auch er sich das Grinsen nicht mehr verkneifen.
Wir bemerkten den roten Faden der Drohne erst, als er über Sergejs Arm wanderte. Er holte bereits zum Schlag aus, aber ich hielt ihn zurück. Das sah der Plan nicht vor. Selbst wenn die Drohne bereits biometrische Informationen von uns gescannt hatte, war es jetzt zu spät, sie noch zu zerstören. Die Daten befanden sich längst bei dem armen Kerl, der sie Stunde um Stunde durch die Gegend fliegen musste. Und solange sie uns nicht als Eindringlinge erkannt hatten, war es gefährlicher, uns bei einem Angriff zu verraten und noch mehr von uns preiszugeben.
Moritz war unserem Protokoll für diese Situation bereits gefolgt und in den Luftstrom gesprungen. Wir anderen taten es ihm gleich. Sollte die Drohne doch versuchen, uns zu folgen oder erraten, wohin wir gingen.
Nur ein weiterer kurzer Stopp und wir erreichten U4. Kein Einsatzkommando erwartete uns.
"Das Ding ist wie 'ne Flipperkugel aus dem Schacht geschossen, von der anderen Seite abgeprallt und nach unten gestürzt", berichtete Sergej, der wieder als Letzter gesprungen war.
Das war sogar besser, als sie einfach zu zerstören. Jetzt mussten sie Leute abziehen, um die Drohne zu bergen. Ich zeigte ihm den Daumen.
Wir würden uns dennoch beeilen. Etwa hundert Meter rannten wir den Luftkanal entlang, dann kamen wir zu der Stelle, an der wir uns trennen würden. Sergej und Moritz blieben vor Ort, Klara und ich setzten unseren Weg fort. Wir hatten zehn Minuten Zeit, bis die beiden mit ihrem Teil des Plans loslegen würden.
Vier Minuten würden wir brauchen, um unser Ziel auf dieser Ebene zu erreichen. Das hatten wir auf U102 trainiert. Die Ebenen unterschieden sich zwar je nach Nutzung in ihrem Aufbau, aber die Frischluftversorgung war in allen Etagen, in denen Menschen lebten, nahezu identisch.
Bis zu zwei Minuten hatten wir also Zeit, um vor Ort festzustellen, ob unser Plan funktionieren konnte. Andernfalls mussten wir abbrechen und ihn in einer anderen Nacht wiederholen. Solange würde die Zeit für den Rückweg noch reichen, um Moritz zu stoppen. Die Ressourcen, die wir hierfür verwendet hatten, mussten ja nicht verschwendet werden.
Also eilten wir durch die Röhre, durch die rauschend die Luft gewälzt wurde. Brownie voraus, dann Klara und ich als Letzter. Vorbei an gerasterten Platten, durch die das Licht der Räume unter uns drang.
Ruckartig blieben Brownie und Klara stehen und sie streckte den Arm hoch. Gedämpftes Gemurmel drang aus einer der Platten nach oben, wurde lauter, bis der Sprecher direkt unter uns stand. Auch wenn es unmöglich war, dass er uns bemerkt hatte, so war ich doch sicher, dass ich mein eigenes Herz gerade hämmern hörte. Dann lief der Murmler weiter und die Anspannung verflog. Wir setzten unseren Weg fort und kamen dort an, wo wir hinmussten. Immer noch gut in der Zeit.
Ich legte mich flach auf den Boden und spähten durch die Schlitze des Luftverteilers in einen hell erleuchteten Raum. Es war nichts zu sehen oder zu hören, das mich beunruhigen sollte. Nur das Geräusch meines Atems.
"Schick sie los", flüsterte ich.
Und schon flitzte die Ratte los, den Gang entlang und verschwand in einer Öffnung, die nach unten führte. Hinunter zu Röhren, die an den Wänden des Raumes entlangliefen. Zu klein für mich und zu gefährlich für Klara. Nach einigen Momenten nickte Klara. Brownie war den Raum abgelaufen, hatte in jeden Lüftungsschlitz seine Nase gesteckt und die Luft war wirklich rein. Die Riesenratte kehrte zurück, kuschelte sich zufrieden an Klara, die ihr ein Leckerli gab, und flitzte zu einer erneuten Patrouille los. Ich bereitete mich auf meinen Teil der Mission vor, holte den Luminostab hervor, der durch kräftiges Schütteln einige Minuten zum Leuchten gebracht werden konnte, und das schwere, schwarze Kästchen. Und so warteten wir, bis die zehn Minuten vollständig um waren.
Ein schrilles Fiepsen jagte meinen Adrenalinpegel in die Höhe, dann flackerte das Licht im Raum unter uns. Mit einem Knackkonzert, das jedem Elektroniker in der Seele weh getan haben musste, erlosch es vollständig. Auch meine Stirnlampe gab ihren Geist auf.
Moritz hatte seine elektromagnetische Bombe gezündet und damit die Elektronik in dieser und vielleicht auch in den angrenzenden Etagen lahmgelegt. Ich hatte keine Ahnung, wie groß der Schaden war, oder welche Systeme betroffen waren, aber solange Türen und Kameras außer Betrieb waren, reichte mir das vollkommen.
Ich drückte zwei Knöpfe am schwarzen Kästchen und mit einem zufriedenen Klacken schwangen die schweren Verschlüsse auf. Zum Vorschein kam mein Multifunktionslaser, der die Bombe im isolierten Inneren sicher überstanden hatte.
Mit vier geübten Handbewegungen brannte ich mich durch die Aufhängungen des Luftverteilers und er verschwand krachend in der Tiefe. Eisige Kälte schlug mir entgegen. Ich konnte nicht gerade sagen, dass ich mich über die Kälte freute, die unangenehme Erinnerungen weckte. Ich schüttelte das Luminostäbchen und es wurde heller um mich herum.
"Viel Glück!", wünschte mir Klara, als ich durch das Loch nach unten rutschte. Ich landete neben dem Luftverteiler, der sich in die Oberfläche eines Metalltisches gegraben hatte, und sah mich um.
In der Mitte der Halle waren Tische, Kältekammern und Operationsroboter aufgebaut. An den Wänden reihten sich, so weit das Auge reichte, große Schubladen aneinander. Auf den Schubladen prangten Namen und Nummern.
"Willkommen in der Leichenhalle", flüsterte ich, denn dies war definitiv ein Ort, an dem man flüsterte. Klara hätte mir zugestimmt.
Hier lagerten die einfachen Menschen zwischen, bevor ihre Biomasse wieder den Weg in den Kreislauf der Zitadelle fand. Ebenso war dies der Ort, an dem die wichtigeren Personen für die Ewigkeit aufbewahrt wurden. Sie waren ihrem Alter erlegen oder litten an Krankheiten, die selbst die Zitadelle noch nicht heilen konnte. Für den Fall, dass eines Tages eine noch bessere Methode gefunden wurde, um sie zurückzuholen und ihr Leben zu verlängern. In einer Gesellschaft, in der schwer verletzte Menschen eingefroren und später wieder gerettet werden konnten, glaubte man nicht mehr an ein Leben nach dem Tod. Alles, was zählte, war das Hier und Jetzt.
Ich war mir hingegen sicher, dass es für die Menschen, die hier lagen, kein seelisches Zurück mehr gab. Sie waren ihrem Schöpfer inzwischen begegnet. Und selbst, wenn die Wissenschaftler und Mediziner ihre Leichname in ein paar hundert Jahren reanimieren konnten, bezweifelte ich, dass von den Menschen, welche sie einst gewesen sein mochten, noch irgendetwas in ihnen steckte. Sie waren mit Sicherheit noch schlimmer dran als wir, wenn sie wieder erwachten. Falls sie je wieder erwachten.
Damit rechtfertigte ich auch, was ich nun tun würde.