Weder Klara noch ich waren bewaffnet. Wir flohen lieber, wenn wir auf Widerstand stießen, anstatt zu kämpfen. Solange wir nicht bewaffnet waren, schoss auch kein Sik auf uns. Hatte zumindest Numbaka behauptet und wir hofften, dass er jetzt, wo diese Aussage auf dem Prüfstand stehen würde, recht behielt.
Es sah beinahe so aus, als hätte unsere Aktion mit der EMP-Bombe sie zu einem Großeinsatz auf den betroffenen Etagen bewegt. Wie unerwartet.
Jetzt, da ich mich an den Gedanken der Gefahr gewöhnt hatte, fiel mir auf, dass das Licht, das durch die Gitter der Frischluftverteiler drang, matter war als auf unserem Hinweg. Sie hatten ihr Stromnetz noch nicht wieder hochgefahren. Das musste ein Notfall-System sein, das inaktiv oder abgeschirmt und so unserem Angriff entgangen war. Nur deswegen waren sie in der Lage, alles so schnell zu starten.
"Wir hätten uns noch besser vorbereiten müssen!", presste ich beim Laufen hervor.
"Noch haben sie uns nicht!"
Klara hatte recht. Ich zog meine Kapuze tiefer über das Gesicht und fixierte sie. Dann tippte ich einen Knopf an der Kapuze an und die integrierte Helmschale verfestigte sich. Sie würde mich schützen, wenn ich mit dem Kopf voraus durch die Drohnen rannte. Bei dem Gedanken fühlte ich mich beinahe so draufgängerisch wie Sergej.
Wir waren den Drohnen bisher nur kurz begegnet, hatten aber nie einen Hinweis auf Waffensysteme entdeckt. Ich hoffte, dass das stimmte, denn selbst die Kopfschale würde keine Kugel aufhalten. Und auch keinen Laser. Klara folgte meinem Beispiel und vermummte sich ebenfalls.
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Ein schwarzer Schatten huschte an mir vorbei und Krallen kratzten über den Boden des Luftkanals. Es war Brownie, der auf die Drohnen zuhielt. Vergebene Mühe. Gegen Bodenziele hätte die Riesenratte kämpfen können. Diese Biester waren wirklich gefährliche und fiese Gegner. Die Drohnen schwebten aber in der Luft.
Ein Schlag, der blechern durch den Kanal hallte, belehrte mich eines Besseren. Als wir vorstürmten, sah ich die Ratte, die auf der flachen Scheibe der Drohne lag und versuchte, die Sensoren abzubeißen. Die Motoren der Drohen jaulten auf, als sie sich wieder einen Zentimeter vom Boden hob und versuchte, mitsamt dem neuen Passagier davonzufliegen. Doch dafür steckte nicht genug Power in dem kleinen Stück Technik. Das Gewicht der Ratte presste die Drohne wieder hinunter und gemeinsam schlitterten sie über den Boden.
Eine zweite Drohne tauchte auf und verharrte beim Anblick dieser Szene. Der Operator zögerte wohl noch, ob er eingreifen oder doch gleich die Flucht ergreifen sollte. Ich nahm ihm die Entscheidung ab, fischte sie aus der Luft und schmetterte sie gegen die Kanalwand.
"Ist der Weg jetzt frei?", fragte ich Klara.
"Vielleicht, Brownie frisst ja noch."
"Ich wusste ja, dass Ratten alles fressen, aber … egal, wir hauen lieber ab. Die Siks wissen jetzt, wo wir sind. Hoffentlich haben sie Sergej und Moritz noch nicht entdeckt."
Sergej war nicht zu überhören. Auch nicht der Wachmann, den er gerade durch einen Luftverteiler in die Etage unter uns beförderte und der dabei wie am Spieß schrie.
"Der Idiot hat versucht, meine Prothese zu betäuben", lachte Sergej über den Lärm des Luftverteilers hinweg, der krachend gemeinsam mit dem der Sik auf dem Boden aufschlug.
"Lass uns verschwinden!", rief ich ihm zu und drückte mich an ihm vorbei.
Hinter uns fiel ein Schuss. Ich zuckte zusammen. Wenn ich überlebte, würde ich mit Numbaka ein ernstes Wörtchen reden. Doch weder ich, noch sonst jemand von uns schrie auf oder brach zusammen. Ein Warnschuss. Oder sie waren einfach nur lausige Schützen, was mich nach den letzten vier Jahren nicht mehr gewundert hätte.
"Hier spricht das Sicherheitskorps. Ihr habt keinen Ausweg, Abschaum, also ergebt euch."
Eine bullige Gestalt mit unrealistisch breiten und hohen Schultern baute sich im Gang auf und richtete ein klobiges Schießeisen auf uns.
"Wenn ihr Widerstand leistet, erschieß ich euch, ohne mit der Wimper zu zucken."
Er spuckte einen widerlich grünen Klumpen aus und spannte den Hahn seiner Waffe.
"Was ist das denn für ein Museumsstück?", flüsterte ich. "Ein alter umgebauter Revolver?"
Ich sah, wie Moritz hinter seinem Rücken einen Apparat von einem Gürtel zog. Eine Miniaturversion der EMP-Bombe.
"Hey, was machst du da?", schrie der Sik ihn an.
"Na, Sie wollen uns festnehmen und ich lasse meine Waffen fallen", antwortete er grinsend. "Ich will schließlich nicht erschossen werden."
Und er ließ sie fallen. Die Bombe prallte mit einem hellen, metallischen Laut auf dem Boden auf, hüpfte ein Stück in die Höhe und explodierte dann in einen Lichtblitz. Der Sik starrte uns mit unbewegter Miene an. Ja, was sollte er davon wohl halten? Als Moritz aber auf der Stelle kehrtmachte und die Flucht antrat, schüttelte er ungläubig den Kopf, legte an und drückte ab.
Das entlockte seiner Waffe nur ein müdes Klicken. Kein Revolver, zum Glück, doch eine Energiewaffe. Moritz musste das erkannt haben.
Nun, das war unser Zeichen, ebenfalls die Flucht zu ergreifen. "Rennt!", rief ich.
Moritz war ja schon unterwegs. Klara, wieder in Begleitung ihrer Lieblingsratte, folgte ihm. Und weil irgendjemand immer den Helden spielen musste, blieb Sergej einfach stehen. Er stellte sich breitbeinig hinter uns auf und verkündete siegessicher: "Geht, mit dem Typen werd ich schon fertig."
"Nichts für ungut, Sergej, aber der Typ sieht um einiges kräftiger aus als du."
Die Metallplatte an seinem Kopf war ein Indiz dafür, dass er auch Implantate oder Prothesen besaß, deswegen auch sein Buckel. Sergej sah mich nur finster an.
"Komm mit, du Idiot!"
Er gab mir einen Stoß, der mich zwei Meter weit taumeln ließ und stürmte auf den Sik zu. Was sollte ich jetzt noch tun? Verdammt! Aber er wollte es so, war bei klarem Verstand, wenn man bei einem Schläger wie ihm davon sprechen konnte, und ich musste die Chips in Sicherheit bringen.
"Viel Glück!", rief ich ihm hinterher und stürzte mich in den Luftkanal.
Ihn als Weg nach unten zu benutzen war um einiges gefährlicher. Im freien Fall durch den Luftstrom musste man aufpassen, nicht abgedrängt zu werden und gegen die Ränder zu stoßen. Wir durften auch nicht zu lange warten, bis wir die Flughäute aufspannten, damit diese beim Abfangen unserer Masse nicht zerrissen wurden.
Ich spannte die Flughäute auf und ein Schauer kleiner Trümmerstücke regnete von oben auf mich herab.
"Woah!", rief ich, legte die Arme instinktiv wieder an und rollte mich zu einer Kugel zusammen.
"Nein, nein, nein!", schrie ich mich in Gedanken selber an. "Denk an deine Höhenangst. Du willst nicht als menschliche Kanonenkugel auf dem Schachtboden aufschlagen!"
Mein Körper nahm den Appell an, wenn auch nur widerwillig, und breitete Arme und Beine wieder aus. Ich atmete auf, denn die Flughäute waren nicht beschädigt.
Ich beschloss, eine Pause zu machen und zu sehen, ob noch mehr Trümmer kamen. Klara und Moritz waren bereits weiter. Kein besonders gut geordneter Rückzug. Das wäre ja auch zu schön gewesen, wenn einer der wichtigen Pläne mal reibungslos ablief. Beim nächsten Mal stürmten wir am besten gleich blind in die Schlacht. Jetzt fehlte nur noch, dass einer von uns in der falschen Etage eine Pause machte und dem nächsten Trupp in die Arme lief.
Ich spähte nach oben und zog den Kopf sofort wieder zurück. Begleitet von einem weiteren Trümmerregen sauste Sergej an mir vorbei. Er hatte mich bemerkt und einen Moment später trieb er wieder nach oben und landete neben mir.
"Gott, wie sieht denn dein Gesicht aus?", begrüßte ich ihn. "Bist du damit gegen eine Wand gelaufen?"
"Ha ha. Fieser Kerl, bei dem müssen wir aufpassen. Hat ein Messer gezogen und versucht, meinen Anzug aufzuschlitzen, bevor ich ihm entkommen konnte."
Am Unterarm schimmerten Teile seiner Prothese durch das zerfetzte Schwarz des Anzugs hindurch. Er hatte Glück gehabt, dass der Schnitt nicht höher gegangen war.
"Du solltest damit nicht mehr springen", riet ich ihm.
"Wenn ich nicht als Klecks am Boden der Zitadelle enden will, meinst du? Ist klar. Ich such mir einen anderen Weg. Ich nehm die Kanalisation, da haben sie am meisten Hemmungen. Welcher Sik badet schon gern in Scheiße. Welcher Mensch mit Verstand tut das?"
"Hat er gesehen, welchen Schaden er angerichtet hat?"
"Keine Ahnung. War dunkler, nachdem du mit dem Luminostab abgehauen bist."
"Dann pass auf. Sie erwarten vielleicht, dass wir nach unten gehen und sperren die Kanäle ab."
"Ja, ich geb Gas. Wenn ich Glück hab, komme ich durch, bevor es überall von Siks und Drohnen wimmelt. Ansonsten brech ich ihnen ein paar Knochen."
Und es würde ihm Spaß machen. Hoffentlich legte er es nicht darauf an. Dann verschwand er im Gang. So viele Leute, um jeden einzelnen Ausweg zu blockieren, hatten sie bestimmt nicht. Aber wir waren ihnen heute ja schon einmal ins Netz gegangen.
Ich sah keinen Grund, noch länger auf sie zu warten, also ließ ich mich wieder in das Rauschen des Luftkanals fallen. Auf dem Weg nach unten krachte ich beinahe mit dem Kopf eines Ordnungshüters zusammen, der ihn aus einem Seitenkanal streckte. Neugieriger Idiot. Wenn er seinen Schrecken überwunden hatte, würde er Alarm schlagen und sie würden ihre Suche auf die Ebenen weiter unten konzentrieren.
Wenigstens auf unserer kam ich noch unbehelligt an.
Der Luftkanal mündete in die dritte und oberste Etage des Horts. Wir hatten einen Frischluftfilter so präpariert, dass man ihn nach innen klappen konnte, ohne ihn zu zerstören.
Alle Gebäude auf dieser Etage bestanden aus drei Stockwerken. In diesem Viertel wurde die untere Etage meist von den Geschäften und Lagern gefüllt und die oberen zwei von den Wohnräumen. Wir hatten diese Ordnung im Hort durcheinandergebracht, da für uns Zimmer im Erdgeschoss geräumt werden mussten. Das Plündergut war ohnehin besser in den oberen Etagen aufgehoben, damit kein Kunde einen unerwünschten Blick darauf warf, falls er sich mal verirrte oder die falsche Tür offen stand.
Klara und Moritz waren bereits zurück und Klara hatte große Kullertränen unter den Augen.
"Schlechte Nachrichten von Sergej?", fragte ich aus einem üblen Bauchgefühl heraus.
Moritz schüttelte den Kopf.
"Der ist zwar auch noch nicht da, aber Klara musste Brownie zurücklassen."
Ja, es war immer ein Theater, Brownie auf Klaras Rücken zu schnallen. Sie hatte es gewusst, dass sie die Ratte zurücklassen musste, wenn es hart auf hart kam. Aber wer hätte gedacht, dass es je wirklich passierte? Ich ging zu ihr rüber und legte tröstend meinen Arm um ihre Schulter.
"Hey, Brownie findet sicher den Weg zurück. Die Typen vom Sicherheitskorps haben ihn bestimmt gar nicht beachtet. Die suchen nur nach uns Menschen. Sergej muss auch laufen. Und wenn der Klotz das schon schafft, schafft es dein kleiner Freund allemal."
"Hoffentlich schafft Sergej es wirklich. Auf dem Weg nach unten hab ich ein Paar Siks gesehen", gab Moritz zu bedenken.
"Schhh! Du bist nicht hilfreich."
"Ich mein ja nur. Wir haben für einigen Wirbel gesorgt. Es gab schon einen ersten Bericht über das Chaos, das wir auf U8 bis U1 angerichtet haben. Die laufen jetzt mit Notsystemen, die für ein Versagen nach einem schweren Angriff entworfen wurden. Viele Teile der Elektronik müssen wohl komplett ersetzt werden, was Wochen dauern wird und, da es sich um Unterweltetagen handelt, vermutlich noch länger."
"Kommt man mit den Aufzügen dann überhaupt noch in die Oberwelt?" Das beunruhigte mich. Nicht unbedingt wegen der anderen Menschen. Ein wenig vielleicht. Aber das konnte unsere Pläne enorm zurückwerfen.
"Ja, ja. Die Aufzüge sind speziell gegen so einen Fall abgeschirmt. Immerhin sind das Fluchtwege. Genauso wie E0."
"Das solltet ihr euch ansehen." Numbaka stand plötzlich im Raum und schaltete ein Medienpanel an der Wand ein. Bilder des Chaos auf den betroffenen Etagen, kommentiert von einer Mediensprecherin aus der Oberwelt.
"… weswegen unsere tatkräftigen Männer und Frauen immer noch im Einsatz sind, um für die Sicherheit der Bewohner zu sorgen. Die Täter sind bereits gefasst und werden in Kürze dem Rat der Richter vorgeführt, damit dieser sein Urteil fällen kann …"
Im Bild wurden vier vermummte und gefesselte Gestalten von Siks durch Stöße unsanft aus dem Kamerabild getrieben. Ich warf einen Blick in die Runde, aber alle folgten noch gebannt dem Bericht.
"… festgenommen sind, hat es sich herausgestellt, dass diese Verbrecher scheinbar nur ein Teil einer größeren Organisation sind, die sich zu dieser Untat bekannt haben. Wie Generalmajor Hauser bekannt gab, sind die Verfasser der Audiobotschaft innerhalb der Zitadelle noch nicht aufspürbar, weswegen die Suche in den inoffiziellen Etagen der Minen fortgesetzt wird. Die sich selbst als 'Reformer' bezeichnenden Terroristen hatten in dieser Botschaft mitgeteilt, dass sie die Unterdrückung der Unterwelt durch das Regime des Rates nicht länger hinnehmen würden und dass dies lediglich der erste Schritt in einem langen Krieg sein wird …"
"Das saugen die sich doch alles aus den Fingern, oder?", fragte ich in die Runde.
Numbaka senkte die Lautstärke des Medienpanels, damit wir uns besser unterhalten konnten.
"Ich meine, die abgeführten Verbrecher sind offensichtlich nicht wir, nicht einmal Sergej ist mit dabei gewesen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendetwas vom Rest stimmt. Wahrscheinlich ist noch nicht einmal der angerichtete Schaden so hoch. Und die Sache mit diesen Reformern …"
Der Medienbericht, der gerade noch Ratsmitglied Thulius gezeigt hatte, der sich hinsichtlich der nächsten Ratswahlen für eine Stärkung des Sicherheitskorps aussprach, verschwand in einem rauschenden Schwarz-Weiß-Bild und machte anschließend einem neuen Bild Platz. Ich verschluckte den Rest meines Satzes.
Das Bild zeigte einen dämmrigen Raum, mit unbehandelten Wänden aus Erde und Stein. Eine Gestalt trat von hinten mit bewusst gewählter Langsamkeit so weit nach vorne, bis sie erkennbar war.
Eine Frau mit braunen Locken, aus denen vereinzelte rote Strähnen hervorblitzten. Ihre Haut war grau und es fiel mir schwer, ihr Alter einzuschätzen, was dem Licht und der offensichtlichen Staubschicht zu verdanken war, die ihre Haut bedeckte, genau wie ihren Minenarbeiteranzug. Von der geraden und gesunden Körperhaltung her und auf die Annahme hin, dass sie tatsächlich in den Minen arbeitete, konnte sie irgendwo zwischen der Pubertät und Mitte 30 sein. Minenarbeiter wurden nicht alt. Irgendwann wurden sie rasant gebrechlicher und die Zustände in den Minen rafften sie dahin. Falls sie nicht zuvor bei irgendeinem Unglück ihr Leben verloren.
Die Frau starrte in die Kamera und ich hatte das Gefühl, dass sie in diesem Moment genau mich ansah.
"Eure Mission war offensichtlich ein Erfolg auf ganzer Linie", setzte sie an und ihre Stimme klang mechanisch und stockend. Mein Herz setzte für einen Schlag aus. Sie klang genau so, wie in der Nachricht, die ich vor Kurzem erhalten hatte.