"Bei der Spitze der Zitadelle!", entglitt es Numbaka. "Du?"
"Hallo Numbaka". Die Stimme kam metallisch kratzend aus dem Audiomodul des Medienpanels und immer, wenn sie einen höheren Ton anschlug, wollten sich meine Zehennägel aufrollen. "Es ist auch schön, dich wiederzusehen."
"Nach fast vierzig Jahren. Oder schon fünfzig? Ich hatte nicht erwartet, dich noch einmal wiederzusehen. In einem Stück und ... offensichtlich kaum älter." Den letzten Teil des Satzes flüsterte er, kaum hörbar für uns.
"In einem Stück ist vielleicht etwas übertrieben. Aber mein körperliches Wohlbefinden ist nicht Bestandteil dieses Gesprächs. Ich kann mir vorstellen, dass dir viele Fragen auf der Zunge liegen, die müssen wir auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Der eigentliche Grund meines Anrufs sind deine jungen Gäste."
Numbaka zog die Augenbrauen hoch. "Wer?"
Ich musterte ihn. Spielte er die Überraschung nur? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Es hatte ihn getroffen, diese Frau wiederzusehen, und genauso hatte er nicht damit gerechnet, dass sie von uns wusste. Damit schied er endgültig als derjenige aus, der unsere Existenz verraten hatte. Zumindest hatte er es nicht bewusst getan.
Dass Numbaka, als ehemaligem Schrotti und Barbesitzer, einmal die Worte zu einer schlagfertigeren Antwort fehlen würden, hätte ich nie gedacht. Also ergriff ich das Wort. Immerhin war ich es, der ihre erste Nachricht erhalten hatte.
"Das war sehr geschickt, unseren Einsatz zur Platzierung einer politischen Botschaft zu nutzen. Reißt uns diese Aktion jetzt mit in den Abgrund? Die Siks sind doch sicher schon auf dem Weg in die Minen und diese Kontaktaufnahme entgeht ihnen sicher nicht."
"Keine Sorge, das ist alles nur eine Show. Die Bekennerbotschaft stammt von uns, das stimmt. Sie ist eine Finte, gespickt mit falschen Hinweisen, um das Sicherheitskorps in die Minen zu führen und für Tage zu beschäftigen. Nachdem nun das halbe Sicherheitskorps dort unten ist, bietet sich euch die ideale Gelegenheit, einmal die Oberwelt zu besuchen."
Das klang verlockend. Ideal. Fast zu gut, um wahr zu sein Oder es gab einen Haken.
"Werden die Minenarbeiter etwa dafür geopfert, dass wir einfacher nach oben kommen?", entgegnete ich. "Wir haben die Leute gesehen, die abgeführt wurden. So einen Gefallen kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren."
"Ich auch nicht", stimmte mir Moritz zu. "Können wir das Medienpanel abschalten?"
"Niemand wird geopfert", warf die Frau schnell ein, bevor Moritz das Panel berühren konnte. "Da ihr mich nicht kennt, sehe ich dieses Mal davon ab, mich verletzt zu fühlen. In den Nachrichten haben sie ihre eigenen Leute abgeführt. Die Minen wurden geräumt. Nicht einmal wir sind in den Minen."
"Wo seid ihr dann? Der Hintergrund ..."
"... ist eine Kulisse für die nächste Botschaft an die Medien. Für die Überwachungssysteme sieht es im Übrigen so aus, als würde bei euch weiterhin die Berichterstattung über diesen Vorfall laufen." Sie atmete blechern durch. "Ich hoffe, jetzt sind alle besorgten Gemüter beruhigt und ich kann zum eigentlichen Grund des Gesprächs kommen."
Sie machte erneut eine Pause und wartete. Wahrscheinlich darauf, dass wir sie aufforderten, weiterzusprechen. Die Bitte dazu kam aber nicht. Klara stellte das zur Schau, was wir wohl alle fühlten. Sie verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust und starrte das Medienpanel an.
"Okay ...", fuhr sie zögernd fort. "Es steht schlecht um die Zitadelle. Nicht nur um die Menschen in der Unterwelt. Das betrifft alle Menschen in der Zitadelle, alle Tiere, alle künstlichen Lebensformen und alle anderen."
"Nun, wir leben eingeschlossen in einem gigantischen Turm, für wen kann das schon gut sein? Das hat schon Rapunzel nicht gefallen", murmelte ich und Klara gluckste, kehrte aber schnell zu ihrer Trotzhaltung zurück. Man musste ja die Form wahren. Ich fragte etwas lauter: "Und welche Gefahr droht uns jetzt genau? Um tatsächlich mal zum Kern des Gesprächs zu kommen."
"Die Systeme der Zitadelle werden ausfallen und alle hier drinnen werden sterben." Sie sprach gelassen. Wenn sie genervt von unserem Verhalten war, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. "Nicht sofort, es ist ein schleichender Prozess. Die gehäuften Unfälle, die in letzter Zeit Opfer unter den Minenarbeitern gefordert haben, sind nur der Anfang. Eine mangelhafte Mischung der Nahrungsversorgung, die zu Konzentrationsschwierigkeiten führt, weil die Leute abhängig von den fehlenden Inhaltsstoffen sind. Die Luftversorgung wird schlechter, weil die Systeme so alt sind und oft nur notdürftig geflickt werden. Die Ressourcen, die wir aus dem Boden holen können oder selbst produzieren, reichen nicht aus, um alle Mängel zu beheben."
"Ich weiß, dass die Menschen in der Unterwelt Mangel leiden", sagte Numbaka, der sich von seinem Schock erholt hatte. "Das wissen wir doch alle. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es um die Oberwelt auch schlecht stehen könnte."
"Wann warst du das letzte Mal oben? Hast du noch Kontakte in die Oberwelt?" Sie ließ ihn nicht antworten. Sollte wohl eine rhetorische Frage sein. "Den Bürgern dort fällt es nicht wirklich auf, weil nicht schlagartig alle Oberweltler tot umfallen. Aber in den letzten Jahren ist dort die Krankheitsrate gestiegen. Die Meds führen Statistiken über ihre Etagen, erstellen Berichte für den Rat und dieser ignoriert sie. Oder er erkennt die Zeichen nicht."
"Deswegen der Angriff auf den Rat in der Bekennerbotschaft?", warf ich ein.
"Ja. Der Rat ist blind. Seit fast einem halben Jahrhundert sind wir von der Außenwelt abgeschnitten. Keiner kann genau sagen, warum und keiner hinterfragt es öffentlich. Zumindest nicht ernsthaft genug, um den Rat zu einer Antwort zu bewegen."
"Und jetzt wollt ihr genug Schaden anrichten, um den Rat dazu zu zwingen, dass er die Tore öffnen muss, um draußen nach neuen Ressourcen zu suchen? Falls wir die nicht finden, schadet ihr dann nicht allen?"
"Nein, keine Sorge. Wir zerstören nichts, was sie nicht auch wieder instandsetzen können. Genauso wie ihr."
Das ließ sie in der Luft hängen. Ein Seitenhieb darauf, dass wir mehrere Etagen lahmgelegt hatten? Dann fuhr sie fort.
"Nein, unser Plan sieht vielmehr vor, die Position der aktuellen Ratsmitglieder zu schwächen. Es laufen gerade die Vorbereitungen für die nächsten Neuwahlen. Es wird Zeit, dass Ratsmitglied Thulius in den Ruhestand geht und jemand seinen Platz einnimmt, der weniger konservativ ist."
Ratsmitglied Thulius war derjenige, der damals den Ausschlag zur Schließung der Zitadelle gegeben hatte. Das hatte Numbaka uns erklärt und das deckte sich mit den Berichten der anderen alten Leute, die damals schon gelebt hatten. Thulius selbst war angeblich in seinen Achtzigern. Dank der heutigen medizinischen Möglichkeiten war das visuell aber nicht mehr so genau zu bestimmen. Er konnte genauso über hundert sein und niemand würde es merken. Die Schließung war seine erste Handlung gewesen, als er ins Amt gekommen war. Sehr umstritten, doch seitdem hatte sich keines der anderen Ratsmitglieder wieder für eine Öffnung eingesetzt und so waren die Tore noch heute verschlossen.
"Hier kommt ihr ins Spiel", fuhr die Frau fort. "Ihr besitzt keine IDs und jetzt verfügt ihr über vier Chips, die ihre Gültigkeit nicht verlieren werden. Dafür wurden Vorkehrungen getroffen. Ich gehe davon aus, dass ihr sie genau für das einsetzen könnt, was ihr seit einiger Zeit plant."
Moritz fiel ein Schraubschlüssel aus der Hand, schlug ein paar Mal auf dem Boden auf und kullerte dann unter ein Regal. Wann hatte er den denn in die Finger bekommen?
"Woher wissen Sie eigentlich so gut darüber Bescheid, was wir vorhaben?"
Der Schraubschlüssel war vergessen und seine Aufmerksamkeit galt jetzt der namenlosen Frau.
"Ja, das ist eine gute Frage", pflichtete ich ihm bei. "Selbst wenn niemandem Gefahr durch die Siks droht, der Gedanke, von jemand anderem überwacht zu werden, ist nicht gerade besser."
"Nun, ich, beziehungsweise wir als Reformer, waren es, die euch aus den Kühlkammern befreit und auf Numbakas Ebene ausgesetzt haben."
Uff, das traf tief. Das schwarze Loch, das gerade in meinem Magen entstand, drohte, mich in seine Tiefen zu reißen und dort zu zerquetschen. Es war nur eine der vielen Fragen, die uns auf der Seele brannten. Jetzt war sie einfach so geklärt, wie mit einem Fingerschnipsen. Und auch die Antwort auf den Rest rückte in greifbare Nähe. Wie an einem Rettungsseil zog ich mich an der Hoffnung auf Antworten aus dem Einflussbereich des schwarzen Lochs, atmete tief durch und stellte die Frage, die wohl jeden Menschen auf der Welt bewegte: "Warum?"
"Wir haben lange nach einem Weg gesucht, die Chips loszuwerden. Wir haben es erst operativ bei Freiwilligen versucht. Die Ergebnisse waren ... nicht erfreulich. Für keinen der Beteiligten. Deswegen haben wir diesen Weg aufgegeben."
"Und stattdessen gleich verhindert, dass uns welche implantiert werden", folgerte ich. "Aber warum habt ihr uns dann ausgesetzt und uns nicht gleich gesagt, was Sache ist?"
"Eine Sicherheitsvorkehrung. Wir konnten nicht wissen, wie stabil ihr nach dem Aufwachen seid, welchen Charakter ihr entwickelt und wie ihr zum System der Zitadelle steht. Unsere ganze Organisation hätte nach einer Fehleinschätzung auffliegen können. Das mag euch vielleicht unfair erscheinen, aber wir haben alles versucht, um euch den Weg leichter zu machen. Numbaka konnte ich schon früher mein Leben anvertrauen."
"Und ich dachte, genau das sei dir zum Verhängnis geworden", murmelte Numbaka.
Aber ich war noch nicht zufrieden mit dieser Antwort, wollte noch mehr wissen, wollte alles wissen. Wenigstens so viel, bevor mir der Kopf platzte. "Was wisst ihr über unsere wahre Vergangenheit?"
"Nicht viel. Ich weiß nur, dass etwas in euren Akten steht. Die werde ich euch zukommen lassen. Sie sind auf einem altmodischen Datenmedium gespeichert und ich werde sie von einem Mitarbeiter vorbeibringen lassen."
Oben rumpelte es. War dieser ominöse Mitarbeiter etwa so schnell?
"Der Mitarbeiter wird euch ebenfalls mit etwas besserer Ausrüstung und mehr Informationen versorgen, wie ihr weiter ..." Eine Person im Minenarbeiteranzug lief ins Bild und flüsterte ihr etwas zu. "Ich muss mich leider verabschieden, da jetzt der nächste Schritt unseres Plans ansteht. Der darf nicht aufgeschoben werden. Macht es gut und viel Erfolg da oben. Wir sehen uns, Numbaka."
Dann verschwamm der Bildschirm und der zuvor unterbrochene Medienbericht wurde fortgeführt. Statistiken über gesunkene Verbrechensrate in den letzten Jahrzehnten, den aktuellen Ereignissen gegenübergestellt. Alles damit die Bevölkerung sich sicher fühlte.
"Sie bietet uns Antworten an und all unser Misstrauen ist verschwunden?", raunte Moritz mir zu. "Wirklich?"
Ich wusste es nicht. Ich kam aber auch nicht dazu, ihm oder mir diese Frage zu beantworten. Die Tür glitt auf und Sergej humpelte herein, dreckig und lädiert. Sein eigentlich intakter, menschlicher Arm hing schlaff herab.
"Du siehst ja schlimm aus." Klara sah ihn mit großen Augen an.
"Hab zwei Siks in den Luftschacht geworfen, einer hat noch meinen Arm betäubt und ich weiß nicht, wie viele Drohnen ich unterwegs zerlegen musste."
"Ist dir jemand gefolgt?", fragte Numbaka.
"Nein, ich habe in jeder Etage vor dem Abstieg einen Rundgang im Kanal gemacht, um sicher zu sein. Ab U62 ist mir niemand mehr begegnet."
"Dann solltest du auch hier deine Spuren verschwinden lassen." Numbaka zeigte auf die braunen Fußspuren und Pfützen hinter Sergej. "Nicht dass es noch irgendjemandem auffällt, den es nichts angeht. Scheinbar", und dieses scheinbar zog er mit ärgerlicher Stimme in die Länge, "sind wir hier nicht halb so versteckt und sicher, wie wir dachten. Wenn Annadora uns hier seit eurer Ankunft überwachen konnte."
"Wer, verdammt noch mal, ist Annadora?", fragte Sergej, als er sich aus seinem schlammverschmierten Anzug strampelte und dabei noch mehr Schmutz verteilte. Putzen mussten wir ja sowieso schon.
Annadora, so hieß die bis eben unbekannte Frau also.
Wir informierten ihn über den Kontakt mit den Reformern und den Medienbericht. Ich konnte nicht genau sagen, wie er darauf reagierte. Er wurde bei dem Bericht immer müder und hin und wieder flatterten seine Augenlider, als er dagegen kämpfte, dass sie ihm zufielen. Aber er schaffte es nur noch, an den richtigen Stellen zu nicken oder die Augenbrauen hochzuziehen, dann fiel er wie ein Sack Reis um. Immun gegen Betäubung? Von wegen.
Numbaka versprach uns, dass er uns später mehr über sie erzählen würde, wenn wir versprachen, Sergejs Sauerei zu beseitigen und ihn zu verarzten. Dann sollten wir uns etwas Erholung gönnen.
Ich wusste nicht, wie lange es dauerte, bis ich den Weg in mein Quartier fand. Mein Schlaf war unruhig und ich träumte von wilden Verfolgungsjagden, Explosionen und von Menschen, die verzweifelt gegen das Tor der Zitadelle hämmerten, damit sie endlich in die Freiheit entlassen wurden. Was für eine Freiheit sie draußen wohl erwartete?
Ich ging in einen Halbschlaf über und das energische Klopfen hielt an. Dann merkte ich, dass es an meiner Tür war. Ich hörte Stimmen und war sofort hellwach.
Hatten uns die Siks jetzt doch gefunden?