Ein künstlicher, lauer Wind wehte über den Platz der Ratsherrschaft und strich durch die Wipfel der Ahornbäume, die entlang der Zugangswege wuchsen. Die untergehende, simulierte Sonne tauchte die Statuen der Erbauer in blutrotes Licht. Sie sollten von der Ära des Fortschritts und Wohlstands vor dem Einzug in die Zitadelle zeugen. In diesem Licht betrachtet, ließen sie jedoch nur Unheil erahnen.
Einzelne Ratsbedienstete hasteten über den Platz und warfen lange Schatten und die letzten Bürger der Oberwelt, die den Platz besucht hatten, machten sich nun auf den Heimweg.
Ebene O1 bildete die Schnittstelle zwischen der Ebene des Rates, E0, und der restlichen Oberwelt. Hier befanden sich die öffentlichen Ämter aus der Anfangszeit der Zitadelle, bevor die Bürokratie komplett digitalisiert wurde.
Viele dieser Gebäude waren nur noch Museen und in den anderen arbeiteten die Ratsbediensteten von morgens bis abends die unzähligen Anfragen der Bürger ab. Was für Letztere ein Segen war, war für sie die Hölle. Durch die Möglichkeit, Anfragen mit minimalem Aufwand zu stellen, häuften sie sich auf dem digitalen Schreibtisch der armen Beamten. Zum Glück nicht als Papierstapel, so wie in den überlieferten Geschichten aus der Ära vor der Zitadelle. Dennoch fragte sich Ratsbediensteter Mike Toben, ob nicht irgendwann der Zeitpunkt gekommen war, dass auch die gigantischen Datenspeicher des Rates ihr Limit erreicht hatten.
Die erste Hälfte seiner Arbeitszeit bis zur Mittagspause, die exakt 30 Minuten betragen musste, sortierte er unwichtige Anfragen über Belanglosigkeiten aus. Zum Beispiel diese Beschwerde eines Altbürgers, der sich über die Farbe der Sitze im Wartezimmer des MedCenters beschwerte. Mike war dabei genauso penibel, wie bei der Einhaltung seiner Mittagspause. Er wusste genau, wie viele Schritte er zur Kantine brauchte, wie lang der Nahrungssynth brauchte, um sein Standardessen herzustellen und auch die Zeit, die er für das Verspeisen der Mahlzeit aufwenden musste.
Er hatte, wie die meisten Mitarbeiter dieser Abteilung, nicht viel mit seinen Kollegen zu tun. Das kostete Zeit. Zeit, die ihm beim Verrichten seiner Arbeit fehlen würde. Wer nicht effizient arbeitete, wurde herabgestuft. Musste sich im schlimmsten Fall um die Unterwelt kümmern. Deren Zustand wurde mit steigender Etagennummer schlimmer und die Vorschriften, die bei der Arbeit mit diesen Etagen zu beachten waren, immer komplexer.
Das konnte er sich nicht erlauben. Nicht nur, weil er nicht für diese Etagen eingeteilt werden wollte. Nein, es würde auch bedeuten, dass er umziehen musste, in eine andere Bürozelle. Eine, die keinen Ausblick auf den Platz dort unten bot. Und statt eines breiten Schreibtisches mit Holztextur und wohlriechenden Duftstoffen, eine dunkle Kammer, mit Stuhl, aufklappbarer Medientafel und kalten Energiesparlampen.
Er wies die Beschwerde des Altbürgers ab und ließ seinen Blick dann zur vorgeschriebenen Erholung seiner Augen über seinen Schreibtisch schweifen. Dort hatte er eine Sammlung kurioser Gegenstände angehäuft. Ein kleines Hobby, das er seit einigen Jahren ausübte. Es waren Apparaturen und Bauteile aus der Vergangenheit, als mutige Männer noch in die Außenwelt vordrangen, um ihrem eisigen Griff Ressourcen für die Menschen in der Zitadelle zu entreißen.
Die meisten seiner Kollegen hielten das für unnötige Träumerei. Keiner glaubte, dass diese Zeit jemals wiederkehren würde. Es wurde allgemein die Auffassung vertreten, dass die Tore geschlossen waren, weil es einfach keinen Bedarf mehr an diesen Ressourcen gab. Die Zitadelle hatte alles, was sie brauchte. Der Kreislauf, mit dem sich nahezu alles wiederverwerten ließ, war perfekt. Hier drinnen schien die Sonne und es war warm. Die Illusion war makellos, zumindest in der Oberwelt. Die jüngste Generation wusste schon gar nicht mehr, dass es eine Außenwelt gab. Das war aus dem Lehrplan der Schulen gestrichen worden und hatte anderen Inhalten Platz gemacht. Kreative Förderung der Schüler, die später die Kreisläufe noch stärker verbessern sollten.
Er aber kannte die Risse, die sich durch die schöne Fassade zogen. Er hatte bereits in anderen Abteilungen gearbeitet. Anfangs war er für die Unterwelt zuständig gewesen. Er wusste um die Materialmängel der Etagen, die nach jeder Reparatur schlimmer, statt besser wurden. Der Recyclingprozess war eben nicht so perfekt, wie alle glauben sollten. Es war vielleicht eine Frage von Jahrzehnten, bis sie auch die Oberwelt erreichten. Wenn aber die Unterwelt zusammenbrach, gab es auch für die Oberwelt keine Rettung mehr.
Deswegen mussten sie die Tore irgendwann wieder öffnen. Besser früher als später. Darüber hatte er sich schon oft mit Luc unterhalten. Er war ein ehemaliger Schrotti auf U11, in dessen Antiquariat er seit Jahren immer neue Fundstücke ausgrub.
Wie viele andere Mitglieder seines ehemaligen Berufsstandes vertrat Luc auch diese Meinung. Er hatte das Abenteuer geliebt und hatte nie verstanden, warum der Rat diesen Schritt gegangen war. Welche Bedrohung musste es in Wirklichkeit gegeben haben, dass sie sich dazu entschlossen hatten?
Und dann hatte Mike eines Tages eine anonyme Nachricht erhalten. Ob er zu seiner Überzeugung stand und etwas bewegen wollte. Denn diese Möglichkeit gab es. Er war darauf eingegangen, ohne lange zu zögern.
Er wusste nicht, wer ihn kontaktiert hatte, aber wo anders als bei Luc hatte er sich nie so ausführlich zu seinen Ansichten geäußert. Also ließ er im Gespräch mit ihm den Hinweis fallen, dass er ja alles dafür täte, das Tor wieder zu öffnen, wenn er es könnte.
Am selben Abend hatte er eine weitere Nachricht erhalten und auf diese folgten noch mehr. Sie schilderten ihm einen Plan, Schritte, wie er zu diesem Ziel beitragen konnte.
Und so arbeitete Mike sich nach oben, bis er genau in diesem Büro mit dem Blick auf den Platz der Ratsherrschaft saß.
Die Tür zu seinem Büro öffnete sich und riss ihn aus seinen Gedanken. Schnell blickte er wieder auf den Bildschirm. Doch es war kein Mitarbeiter des Rates.
Es war ein Kurier, in einer blauen Uniform mit grellen gelben Streifen und einer Schirmmütze. Er hielt ein kleines Paket in den Händen. Das war eine positive Unterbrechung seiner Arbeit.
"Mike Toben?", fragte der Kurier.
"Du musst neu sein, dass du das noch fragst."
"Ah ja, tut mir leid. Seit zwei Wochen. Habe davor in der Unterwelt gearbeitet. Da hatten wir keinen ID-Scanner."
Verlegen richtete der Kurier seinen Blick auf ein kleines Medienpanel an seinem Handgelenk und seine Miene hellte sich auf.
"Okay, hier bin ich richtig. Bitte sehr, das ist für Sie."
"Vielen Dank."
Mike nahm das Paket entgegen und wartete darauf, dass der Kurier wieder ging. Der stand aber immer noch da und starrte voll Bewunderung auf die Relikte, die auf dem Schreibtisch ausgestellt waren.
"Eine beeindruckende Sammlung."
"Danke. Es hat einige Jahre gedauert, bis sie diesen Umfang hatte. Ein Jammer, dass solche Apparate heutzutage nicht mehr gebraucht werden."
"Wer weiß, vielleicht ändert sich das ja bald."
Der Kurier lächelte und Mike musterte ihn genauer. Ob er wohl auf derselben Seite stand wie er? Mike lächelte ebenfalls und nickte dem Kurier zu. Der tippte sich an den Rand seiner Schirmmütze und verschwand wieder.
Mike begann, das Paket auszupacken. Ein kleines Rad befand sich oben am Verschluss. Nach einer Überprüfung seiner ID ließ es sich drehen und sog zischend Luft in das Innere. Er wühlte sich durch das Verpackungsmaterial, das sich beim Kontakt mit der Luft auflöste und in den Recyclingprozess des Lüftungssystems einfügte. Im Inneren fand er ein etwa 15 Zentimeter langes schwarzes Rohr.
Er warf das Paket in den Recyclingapparat, wo auch das sich auflöste, und mustere das Rohr genauer. Es hatte an beiden Enden eine Linse. Ein Fernrohr aus den alten Tagen.
In der Zitadelle gab es nichts Unbekanntes, keine Gefahr, nach der man Ausschau halten musste. Hier konnte es aber anderen Zwecken dienen.
Er drehte sich wieder zum Platz der Ratsherrschaft und hielt es ans Auge. Ein Pult erschien vor ihm und füllte den Sichtbereich des Fernrohrs aus. Hinter diesem Pult würden die altgedienten Ratsmitglieder und die neuen Kandidaten morgen ihre Reden halten. Viele Bürger würden sich auf dem Platz versammeln, die anderen würden es sich daheim auf ihren Medienpanels ansehen oder bekamen es direkt auf den Sehnerv projiziert. Je nachdem wie wohlhabend oder abenteuerlustig sie waren.
Das Fernrohr war, wie die meisten anderen Sachen auf seinem Schreibtisch, harmlos. Deswegen war es auch kein Problem, sie durch die Sicherheitskontrollen zu schleusen. Kein Mensch konnte mit einem einzelnen dieser Teile etwas anfangen. Nur wenige wussten überhaupt, wie sie funktioniert hatten.
Sie waren so lange harmlos, bis sie von jemandem, der sich damit auskannte, auseinandergenommen und neu zusammengesetzt wurden. Jemandem wie ihm. Niemand ahnte, dass sich unter seiner Fassade solche Fähigkeiten verbargen. Wissen, das er sich seit der Kontaktaufnahme jeden Abend nach der Arbeit angeeignet und verfeinert hatte.
Morgen würde er, wie jeden Tag, seine Arbeit verrichten. Dann würde er Überstunden machen. Das war kein Problem und nicht auffällig. Wer mehr arbeitete, hatte eine bessere Chance aufzusteigen.
Er würde aber nicht wirklich arbeiten. Zumindest nicht, um Anfragen zu bearbeiten. Er würde einige der Apparate, die ihm sein Kontakt die letzten Wochen geschickt hatte, demontieren und dann neu zusammensetzen. Bis er am Ende ein Gewehr in der Hand hielt. Eines, mit dem er einen der Redner hinter dem Pult treffen konnte.
Danach würde das Tor wieder geöffnet werden, da war er sicher. Das hatte ihm sein Kontakt versichert. Und er würde einer der ersten Männer sein, die eine Expedition in die Außenwelt begleiteten. Er würde als derjenige in die Geschichte eingehen, der es ermöglicht hatte.
Zufrieden legte Mike das Fernrohr auf einen Ständer zu den anderen Relikten. Dann seufzte er und wandte er sich wieder dem niemals enden wollenden Strom belangloser Anfragen zu.