Numbaka Godwin starrte das Glas vor sich an, in dem in vollem Rot ein Wein der Ebene U189 darauf wartete, von ihm gekostet zu werden. Den hatte ein Richter der Oberwelt bestellt und aus irgendeinem Grund, mit dem Numbaka nicht das Geringste zu tun hatte, war er nie bei ihm angekommen. Damals war man bei der Überwachung der Chips und der langhaltigen Speicherung der Positionsdaten noch nicht so gründlich gewesen und so war er mit dem Raub davongekommen. Den Wein hatte er für einen besonderen Moment aufgehoben, doch nach dieser Begegnung würde er sich damit wohl einfach betrinken. So wie früher.
Auch nach seinem Ruhestand als Schrotti hatte er es nie wirklich ruhig angehen lassen. Er liebte das Abenteuer und nachdem Thulius das Tor hatte schließen lassen, brauchte er hier drinnen irgendeinen Ersatz. Waghalsige Missionen gegen die Autorität der Zitadelle, immer kurz davor, erwischt zu werden. Und doch entging er jedes Mal der endgültigen Reise in den Äußersten Ring. Jetzt war er alt, und hatte die Staffel in die Hände der nächsten und übernächsten Generationen weitergegeben. Er zog nur noch die Strippen.
Annadora nach all den Jahren wiederzusehen, weckte Erinnerungen an damals. Weckte die Lust, sich selbst noch einmal ins Abenteuer zu stürzen. Der Wein hatte ebenfalls keinen unbedeutenden Einfluss auf diese Idee.
Ja, er konnte sich einen besonderen Cocktail mischen, dann würde sein Körper für ein paar Stunden vergessen, wie alt er wirklich war. Er konnte sich einen der Anzüge der Kinder zwängen und in einen Luftkanal hüpfen. Danach würde seine Lebenserwartung um zehn Jahre sinken und so betrunken war er nun doch noch nicht. Deshalb begaben sich nur seine angeheiterten Gedanken auf die Reise.
Diese führte ihn, statt in ein Abenteuer gegen die Zitadelle, viel weiter in die Vergangenheit. Zu ihrem letzten Auftrag. Das letzte Mal, dass sie die Zitadelle verlassen hatten. Der Tag, an dem niemand aus ihrem Trupp zur Zitadelle zurückgekehrt war. Niemand außer ihm.
Die Kommunikationsabteilung hatte ein Signal erfasst, etwas mehr als 20 Kilometer nördlich der Zitadelle. Ein Notruf einer mechanischen Einheit, wahrscheinlich noch aus der Zeit vor der Zitadelle. Ein lohnenswertes Ziel also.
Man hatte ihnen zwei Gorillas vom Sicherheitskorps zugeteilt und so einen jungen Kerl aus der Technikabteilung. Außer Numbaka gehörten noch Annadora und Darios zum Kern des Teams. Darios stand auf Annadora, die hatte ihn aber schon ein paar Mal abblitzen lassen. Ihr Ziel war es, in feinere Kreise aufzusteigen. Traf sich seit ein paar Tagen mit diesem Affen vom Rat. Wenn sie Erfolg hatte, wonach es aussah, würde er bald das fähigste Mitglied seines Teams verlieren. Darios war zwar auch okay, aber eben auch nicht mehr. Aber er gönnte es ihr.
Es war schon so lange her, deswegen konnte er ihre Gesichter nicht mehr klar vor Augen sehen. Er war sich aber sicher, dass sie damals viel besser aussah, als vorhin auf dem Medienpanel. Er hatte sie lebendiger und lebensfroher in Erinnerung, nicht staubig und müde.
Und er konnte sich erinnern, dass Darios eine Menge langer, roter und geflochtener Zöpfe hatte. Brachte Stunden mit der Haarpflege zu. Ach, hätte er dieselbe Zeit nur in sein Training gesteckt.
Es gab viele Bereiche, in denen man trainiert sein musste, wenn man in diesem Job erfolgreich sein wollte. Es galt nicht nur handwerklich begabt zu sein, um am Ende die wertvollen Funde demontieren zu können. Nein, es verlangte auch eine gewisse Auffassungsgabe, welche Fundstücke man ignorieren konnte und welche einen Abnehmer fanden. Die Zitadelle bot eine große Datenbank über viele Bereiche aus der Zeit vor dem Eis. Darin konnte man alles finden, was Maschinen, Materialien und besonders Metalle betraf. Ein gutes von einem schlechten Fundstück zu unterscheiden, konnte einen halben Tag unnötige Arbeit ersparen.
Dort fanden sich auch Lagepläne der Umgebung. Informationen darüber, welche Ortschaften oder Städte in der Nähe unter dem Eis begraben lagen. Hätte es noch eine weitere Zitadelle in 100 Kilometern Umkreis gegeben, wären zusätzlich noch die Einzugsgebiete zu beachten gewesen, die sich mit denen der anderen überschnitten. Die drei Zitadellen, die ihnen am nächsten lagen, waren aber 658, 824 und 869 Kilometer entfernt. Mit einem Eisgleiter eine Reise mehrerer Tage, wenn das Wetter mitspielte. Da es aber immer Sturm geben konnte und sichere Orte für Zwischenstopps eingeplant werden mussten, konnte man jede Schätzung noch mindestens verdoppeln.
In diesem Wissen waren zumindest Annadora und er bewandert gewesen, so machte es keinen großen Unterschied, wenn sie im Team unterwegs waren. Ohne sie wäre für Darios wohl sowieso alle Hoffnung verloren gewesen.
Der andere Punkt, in dem er nämlich nachzuholen hatte, war das körperliche Training. Schrotti zu sein, verlangte einem viel ab. Ausdauer, um dem rauen Wetter zu trotzen, auch wenn vieles von der modernen Schutzkleidung kompensiert wurde. Kraft, für Kletteraktionen, damit sie auch an entlegene Stellen kamen.
Für den Abtransport konnten Transportdrohnen verwendet werden. Die nötige Intelligenz zum Finden der richtigen Beute, der Freilegung und der Demontage, ohne wertvolle Technik dabei zu zerstören, hatten die Teks der Zitadelle zum Glück noch nicht in diese Blecheimer einbauen können, sonst hätten viele Schrottis um ihren Job bangen müssen.
Wenigstens konnte Darios mit seinen Waffen umgehen. Sie mussten hier draußen immer mit gefährlichen Kreaturen oder wildgewordener Voreistechnologie rechnen. In der Regel wurden sie von ein paar Siks begleitet, aber auch die hielten nicht ewig. Am besten war man geschützt, wenn man sich selbst verteidigen konnte.
Der Techniker, der sie begleitete, war richtig jung gewesen, vielleicht noch jünger als Moritz, aber er schien wohl so eine Art Genie zu sein. Und da war noch mehr. Sie mussten ihn mitnehmen, obwohl Numbaka auf die Gefahr und sein Alter hinwies. Er war der kleine Bruder des kürzlich gewählten Rates Thulius. Bei diesem Einsatz sollte er mit seinem Wissen und Können glänzen. Mehr Prestige für die Familie, und eine Abkürzung in die Entwicklungsabteilung eines anderen bedeutenden Familienkonzerns.
Also musste Numbaka den Babysitter für Darios, den Knaben und vielleicht auch für ihre Bodyguards spielen, wenn sie nicht halb so hart waren, wie sie aussahen. Wenigstens auf Annadora war Verlass.
Im Hier und Jetzt nippte Numbaka an seinem Wein und überlegte sich, wie alt sie jetzt eigentlich sein musste. Er selbst war 73 und sie war etwas jünger als er gewesen. Vielleicht 69? Aber das war schon so lange her. Wie 69 hatte sie nicht ausgesehen. Auch der mechanische Tonfall ihrer Stimme hatte nichts von dem lieblichen Klang, den er noch in seiner Erinnerung zu hören glaubte.
Er sah es im Geiste vor sich, wie sie lachte, als ihre Haare im Wind wehten, während sie gemeinsam auf dem Eisgleiter in Richtung des Signals unterwegs waren. Sie hatten guten Wind und die Segel waren straff gespannt. Dank der prallen Sonne der letzten Tage arbeitete das Schwebemodul auf Hochtouren und verhinderte, dass sie den Gleiter, wie schon so oft, aus dem Eis befreien mussten, über dem er sonst dahinglitt. Das war beim Rückweg, wenn sie voll beladen waren, immer eine Tortur.
Sie waren mit drei grauen Eisgleitern unterwegs. Den größeren Varianten, die viel Stauraum boten, auf die sie immer zurückgriffen, wenn fette Beute in Aussicht stand. Sie waren länglich, mit zwei Segeln, eines um den Wind für die Fahrt aufzufangen und eines zum Korrigieren des Kurses. Sie bildeten Zweierteams, die je aus einem Lenker und einer Wache bestanden, die sich um mögliche Bedrohungen kümmerte. Die Siks bildeten das zweite Team und Darios mit dem Techniker das letzte.
Sie sahen ihr Ziel schon von Weitem. Wie ein Speer ragte es schräg aus dem Rücken des Eishügels heraus. Weißes Metall, vielleicht aber auch eine Eisschicht, bedeckte die Oberfläche des Objekts, welches wie …
In diesem Moment erinnerte er sich. Er hatte es, wohl gemeinsam mit der Erinnerung an diesen Tag und seiner alten Ausrüstung, tief unten in einem Lagerraum vergraben. Sie hatten diese Mission aufgezeichnet. Sie hatten nicht jeden Einsatz aufgenommen, nur die, die nach einem großen Fang aussahen. Es half ungemein, seine Rechte vor dem Amt für Technologierückgewinnung geltend zu machen. Schon zu viele ahnungslose, junge Schrottis waren nach einem guten Fund mit leeren Händen dagestanden, weil ein Büroheini lieber in seine eigene Tasche arbeitete.
Numbaka leerte das Weinglas und begab sich schwankend auf die Suche nach dem Datenträger. Er wühlte sich durch alte Elektronik – die konnte man ja immer mal als Ersatzteilspender brauchen –, Multifunktions-Waffen, Wurfhaken, modisch fragwürdige Ganzkörperanzüge und fand schließlich die Kiste mit ihren alten Aufzeichnungen. Seine Knie zitterten und der Schweiß der Anstrengung stand auf seiner Stirn, als er sich mit seinem Fund wieder vom Boden erhob. Nein, in dem Zustand würde er sicher auf keine Mission mehr gehen.
Er räumte den Platz um das Medienpanel frei und warf dabei einen Stapel Kartons um, die mit lautem Geschepper auf Elektronik und Ausrüstung landeten. Numbaka lauschte einen Moment, ob er jemanden geweckt hatte, und ging dann die Datenträger durch. Er war mit einem Siegel des Sicherheitskorps markiert, die damals Kopien davon angefertigt hatten. Dann drückte er den kleinen quadratischen Datenträger gegen das Medienpanel, wo er hängen blieb und ein Bild neben sich auf der Anzeigefläche erzeugte. Das zeigte nacheinander Schnappschüsse aus der ganzen Aufnahme.
Numbaka zog das Bild mit seinen Fingern größer und sprang zu der Stelle, an der sie ihr Ziel erreichten. Er selbst hatte gefilmt, deswegen war Annadora zu sehen und seine Erinnerung an sie wurden wieder klarer.
"Eine Rakete?", fragte Annadora erstaunt.
"Ja, aber etwas ist merkwürdig", kam rauschend eine Stimme über das ComNet, mit dem alle Mitglieder des Teams verbunden waren.
Das war der Techniker.
"Seht ihr das Eis um die Rakete?"
"Ja, was ist damit?", fragte eine jüngere Version Numbakas Stimme. Klarer und höher, nicht so verraucht und kratzig, wie heute. Es war immer merkwürdig, seine eigene Stimme auf einer Aufzeichnung zu hören, und das hier war um einige Grade merkwürdiger. Am merkwürdigsten war aber, dass er sich nicht erinnerte, was ab diesem Moment geschehen würde, als ob er diese Szenen nun zum allerersten Mal sah.
Wenn er sich das Bild der Rakete jetzt ansah, fiel ihm trotzdem sofort auf, was der Tek gemeint hatte.
"So wie das Eis gebrochen und der Schnee aufgewühlt ist, meine ich. Wenn die Rakete dort eingeschlagen wäre, gäbe es einen Krater. Es sieht aber so aus, als sei die Erde von unten aufgebrochen worden."
"Sie lag unter dem Eis?", fragte Numbaka erneut.
"Ja, wahrscheinlich sehr tief, wenn man sie die Größe des Hügels betrachtet."
Es folgte eine Weile nicht viel Aufregendes, Numbaka stellte den Zeitraffer ein und beobachtete, wie sie mit hektischen Bewegungen die Rakete umrundeten, bis sie einen verschlossenen Eingang fanden. Kein Hindernis für ihre Laserschneider und nach 3 Sekunden weiterem Gewackel stiegen sie ein. Numbaka ließ die Aufnahme wieder in normaler Geschwindigkeit ablaufen.
Ein Sensor seines Anzugs bemerkte piepend ein Toxin in der Luft, wies auf den geringen Sauerstoffgehalt hin und riet mit einem Hinweis am Rand des Bildschirms davon ab, den Atemfilter abzuschalten.
Rote Lichtstreifen zuckten schwach über die Innenwände der Rakete. Aber nur für einen Moment, dann hüllte der Lichtmodus eines der Sik-Anzüge den Eingang in Tageslicht. Bei der Zitadelle, der Kerl glühte wie eine kleine Sonne. Der Effekt wurde glücklicherweise von ihren Brillen herausgefiltert, sobald der Sik ins Bild kam. Sie waren immerhin eines der besten Teams in der Zitadelle und auf fast alles vorbereitet. Traurig, dass vieles, wogegen sie sich zur Wehr setzen mussten, von ihren Begleitern verursacht wurde.
Sie durchkämmten die einzelnen Räume, stemmten Türen auf, deren Öffnungsmechanismus scheinbar nicht mehr funktionierte oder für den die wenige Energie, die der Rakete geblieben war, nicht ausreichte. Die meisten waren uninteressant. In der Mitte gab es einen Schacht, der sowohl nach unten, als auch nach oben führte, in andere Etagen. Sie hatten vielleicht die Hälfte dieser Etage durchkämmt, als sie dann doch einen besonderen Raum erreichten.
"Was ist das?", kam es von Sik A, der etwas stämmiger als Sik B war. Letzterer war dafür weniger dämlich als sein Kollege.
"Das habe ich schon einmal gesehen, als ich in der Hypothermieabteilung eingeteilt war. Das sind Kältekammern", erklärte Sik B.
Das Bild schwenkte durch den Raum. Zehn intakte Kältekammern, von einer weiteren stand nur noch der Sockel. An einer Stelle hatte sich vielleicht noch eine zwölfte befunden, jetzt klaffte dort nur noch ein Loch im Boden.
Etwas schepperte, und das Kamerabild schwenkte zur Quelle des Lärms. Sik A bückte sich und hob einen ausgestreckten Metallarm in die Luft, der am Ellenbogengelenk umknickte und beinahe Sik B einen Faustschlag verpasste.
"Hey, ein paar der Kammern sind immer noch in Betrieb", hörte man die Stimme des Technikers. Er und Darios waren erst nach ihnen hineingekommen und der Techniker lief jetzt zum ersten Mal ins Bild. Das entlockte Numbaka einen Ausruf des Erstaunens. Der Knirps sah doch fast so aus wie Moritz.
Er hatte immer gespürt, dass er ihm bekannt vorkam, jetzt wusste er endlich warum. Was für ein Zufall. Vielleicht waren sie miteinander verwandt. Dieselbe Person konnten sie ja nicht sein, denn auch der Tek war an diesem Tag nicht zurückgekehrt. Und selbst wenn, wäre er jetzt auch ein alter Mann.
Die Kamera folgte dem Tek, wie er von Kammer zu Kammer lief, und versuchte, die Sichtfenster vom Staub zu befreien. Das half allerdings nicht viel, da sie im Inneren vereist waren. Die Gesichter der Insassen blieben ihnen verborgen.
Sechs der Kapseln waren gefüllt.
"Entweder wir tauen sie hier auf, oder wir holen Akkus, um sie zur Zitadelle zu transportieren", begann der Tek zu murmeln, eher zu sich selbst als zu den anderen. Hier hatte er ein Aufgabenfeld für sich gefunden und den Rest der Welt vergessen.
"Warum sollten wir das überhaupt tun?", fragte Darios. "Hier gibt es genug anderes zu holen."
"Wenn wir die Rakete komplett ausschlachten wollen, müssen wir irgendwann den Notstrom für Türen und Aufzüge verwenden und irgendwann komplett kappen. Willst du sie dann sterben lassen?", konterte Annadora vorwurfsvoll.
"Das kommt mir alles vertraut vor", murmelte der Tek. "Ist das ein Prototyp der Zitadellen? Nein ... eine mobile Version vielleicht?" Dann erinnerte er sich wieder an seine Begleiter. "Gebt mir etwas Zeit, dann überbrücke ich die Notfallprotokolle und fahre die Steuersysteme der Kammern komplett hoch. Ich müsste dazu nur mal raus und überprüfen, ob es Solarplatten an der Hülle gibt, so wie bei der Zitadelle. Wenn das der Fall ist, befreien wir sie vom Eis und haben mit etwas Glück genug Strom, damit die Auftauprozedur fehlerfrei abläuft. Danach könnt ihr euch austoben, wie ihr wollt."
Das Kamerabild schwang erst nach unten, dann wieder nach oben. Der Numbaka in der Aufzeichnung hatte wohl gerade genickt. "Darios, hilf ihm beim Auftauen", fügte er hinzu.
Der verzog das Gesicht, bekam einen finsteren Blick von Annadora ab und salutierte dann übertrieben. Zusammen mit dem Tek verließ er den Raum.
Numbaka, Annadora und die beiden Gorillas sichteten den Rest der Etage, während Darios und der Tek draußen tatsächlich fündig wurden und sich an die Arbeit machten.
Numbakas Teil des Teams erreichte den Schacht, der tiefer in das Raumschiff führte und machte sich bereit, hinabzusteigen. Numbaka warf einen Luminostab hinein, und sie sahen, dass es noch weitere Etagen gab, bevor er viel weiter unten verschwand.
"Da habt ihr euch aber was vorgenommen." Sik A grinste dämlich.
"Na wir haben doch euch zwei starke Jungs dabei." Annadora klopfte ihm auf die Schulter. "Wir werden keine einzige Schraube hier lassen."
Sik B lachte.
"Wenn es so groß ist, wie es aussieht, brauchen wir tatsächlich noch mehr Hilfe", sprach der Numbaka der Vergangenheit seine Gedanken aus. "Ein größeres Team, mit dem wir den ganzen Laden wieder in Betrieb nehmen. Aber jetzt klettern wir da erstmal runter."
Annadora befestigte das mitgebrachte Seil an einer der Wände, dann klinkten sie nacheinander ihre Anzüge ein und seilten sich in den Schacht hinab ab.
Die unteren Ebenen waren alle ähnlich angeordnet. Große Flächen, eingezäunt von Metalltoren, Rahmen und Kanalsystemen. Während die ersten Etagen noch leer waren, wurde es nun unheimlicher.
Der Boden war mit Skeletten unterschiedlicher Größe übersät. Keine menschlichen.
"Gott, was ist denn hier pass ..." Die Frage, die Sik B gerade stellen wollte, wurde von einem Würgen seines Kollegen unterbrochen.
"Bist wohl doch nicht so ein harter Kerl."
Numbaka konnte nicht genau sagen, ob Annadora jetzt Mitleid mit dem Sik hatte, oder sich nur über ihn lustig machte.
Sie konnten es sich nicht erklären, was es mit den Skeletten auf sich hatte, bis sich das Muster auf den nächsten Etagen wiederholte.
"Schaut ihr von da draußen zu?", fragte Numbaka.
"Ja, gruselig", antwortete Darios.
"Ich sehe immer mehr Ähnlichkeiten mit der Zitadelle", erklärte der Tek. "Scheinbar diente dieser Ort, anders als die Zitadelle, Tieren als Zufluchtsort, statt Menschen. Zumindest war es ein Zufluchtsort, bis der Strom ausfiel und allen irgendwann die Nahrung ausging."
So nüchtern konnte man den Kampf der Tiere um das letzte Gras und Futter auch beschreiben.
"Ich denke, ich liege mit meiner Theorie über einen Zitadellen-Prototyp richtig. Das ganze muss ein Test gewesen zu sein, ob es möglich ist, ein in sich geschlossenes System zu erschaffen, das ohne Zugriff auf die Außenwelt überlebensfähig ist."
"War wohl nicht so erfolgreich, was?" Numbaka hörte wieder seine eigene Stimme. "Entweder war das ganze System nicht ausgereift oder es gab ein Unglück. Die Personen in den Kältekammern müssen das Personal sein, das sich eingefroren hat, als es keinen Ausweg aus der Rakete mehr gab. Die werden sich freuen, wenn wir sie wieder aufwecken."
"Ich denke, dass es ihnen egal sein wird", sagte Darios. "Hey, A.D., bevor ich jetzt wieder einen bissigen Kommentar abbekomme, ich kann mich nicht an meine Zeit in der Kältekammer erinnern."
Annadora ignorierte Darios und lenkte das Thema wieder auf die Mission. "Ich denke, das ist zu groß für uns. Wir sollten die Zitadelle einschalten, damit die sich darum kümmern. Sollen die ein Forschungsteam schicken, das hier alles untersucht und aufräumt."
Numbakas Kamerabild nickte. Also wurde die Plünderung der Rakete vertagt. Das Team der Schrottis würde für das Auffinden der Rakete und der Sicherung des Forschungsobjekts trotzdem bezahlt werden, wahrscheinlich sogar besser, als wenn sie versucht hätten, die ganze Rakete auszuschlachten. Das hätte zum einen ewig gedauert und zum anderen wäre durch die hier vorhandene Menge an Plündergut, der Wert an Metallen und Ersatzteilen in den Keller gestürzt. Kaum eine Mission hätte danach noch Profit abgeworfen. Für keinen Schrotti in der ganzen Zitadelle.
Sie machten sich gerade auf den Rückweg, als der Techniker die erste Solarplatte aus dem Eis befreite. Auf der Aufnahme war zu hören, wie das Schiff versuchte, seinen Betrieb rumpelnd aufzunehmen, und wieder aufgab.
"Wenn diese Rakete wie die Zitadelle funktioniert, wird es ein Prioritätssystem geben", kommentierte der Techniker von draußen. "Es gibt neue Energie, die aber nicht für den kompletten Betrieb ausreicht. Es wird nach der Ursache gesucht und die anderen eingefrorenen Solarplatten werden gefunden. Die Energie wird dann zuerst zum Schmelzen der Platten verwendet, während der Notstrom weiter die Minimalsysteme im Inneren betreibt."
"Dann könnt ihr ja schon mal die Ausrüstung zusammenräumen, bis wir oben sind", ertönte Annadoras Stimme in der Aufzeichnung. "Dann schaffen wir es noch, bei Tag heimzukommen, und laufen nicht Gefahr, dass uns die Energie für die Schwebemodule ausgeht."
"Sind schon dabei. Kann es auch kaum erwarten, wieder ins Warme zu kommen." Das war Darios Stimme.
"Was ist mit den Kältekammern?", fragte der Tek.
"Um die kann sich dann das Forschungsteam kümmern."
Ein Ruck ging durch die Rakete und die Kamera zeigte, wie die Wand des Schachts sich entfernte, als Numbaka am Seil von ihr weg schwang.
"Was war das denn?", rief Sik B erschrocken.
"Die Sensoren zeigen einen Strahlungsanstieg, der von der Hülle ausgeht", antwortete der Tek. "Das Raumschiff wird die Solarplatten jetzt wohl im Hochbetrieb auftauen. Beeilt euch besser, bevor der Aufstieg zu wacklig wird."
Von außen war es leicht, so etwas zu sagen, dachte sich Numbaka, als er zusah, wie die Truppe wieder Halt an der Wand fand und von da an um einiges schneller hinaufstieg. Sie setzten jetzt die Notakkus ihrer Anzüge ein, der sie schneller nach oben zog.
Eine weitere Erschütterung ließ das Bild der Kamera wackeln und die zwei grünen Punkte am Rand der Aufnahme, die für Darios und den Techniker standen, erloschen.
"Hey, seid ihr noch da?", fragte Sik A, der das auch bemerkt hatte. Sinnlos, so etwas zu fragen. Wenn die Punkte weg waren, waren sie nicht mehr im ComNet eingeklinkt und konnten nicht antworten.
Sik B, der vor Numbaka kletterte, gab einen Hinweis, dass er jetzt die Etage erreicht hatte, über die sie eingestiegen waren. Sein Zeichen, dass er den Rest der Strecke nach oben zurücklegen konnte.
Auf den nackten Unterarmen des Numbakas, der vor dem Medienpanel saß, stellten sich die Haare auf. Auch wenn die Erinnerung an diesen Tag vollkommen ausgelöscht war, schien sein Unterbewusstsein ganz genau zu wissen, dass jetzt etwas Schlimmes geschehen würde.
Die Kamera erreichte den Rand des Einstiegs, kletterte über den Vorsprung in den Gang und er hörte wieder seine eigene Stimme: "Annadora, ich bin oben und ausgeklinkt. Du kannst mir jetzt folgen."
"Alles klar, bin unterwegs."
Numbakas Herz pochte. Ein Schlag und es war alles ruhig. Nur das Surren Annadoras Anzugs, wie er sie nach oben zog. Ein zweiter Schlag und die Wände des Ganges und des Schachts flammten in hellem Licht auf. Erleuchtet von sich selbst und nicht mehr vom Anzug des Siks. Mit dem dritten Herzschlag gab es einen Knall im Schacht über ihm. Numbaka blickte nach oben und sah eine Metallwand die auf ihn zusauste. Er zog den Kopf wieder ein und schrie eine Warnung in das ComNet hinein.
Die Warnung kam zu spät und ihr antwortete nur der grelle Aufschrei Annadoras und ein Fluch von Sik A, dann krachte es tief unten und auch ihre Punkte verschwanden von der Anzeige.
"Scheiße", hauchte Numbaka in das ComNet.
Sik B, stolperte ins Bild und lehnte sich in den Schacht, um nach den beiden zu sehen, schüttelte dann aber nur den Kopf. "Keine Chance, dass sie das überlebt haben."
In Numbakas Ohren hämmerte sein Puls, dennoch waren die Geräusche der Aufzeichnung nicht zu überhören. In einem anderen Bereich der Raumschiffetage schnappte ein Verschluss auf. Er wusste, dass es eine der Kältekammern gewesen war. Hörte, wie zischend Luft in das Innere gezogen wurde, damit der Insasse nicht gegen den Unterdruck ankämpfen musste, um sie selbst zu öffnen.
Der Sik schnallte geistesgegenwärtig sein Multimodusgewehr vom Rücken. Er war alarmiert. Die Waffe verfügte über Projektile, sowie über einen stärkenverstellbaren Laser, je nachdem, was ihnen unterwegs begegnete. Sicher war sicher. Er gab Numbaka ein Handzeichen, sich leise zu bewegen, und gemeinsam schlichen sie den Gang entlang, der zu den Kältekammern führte.
Klirren und Knirschen war aus dieser Richtung zu hören und der Sik lugte um den Türrahmen herum. Er winkte Numbaka auf die andere Seite der Tür hinüber, als solle er dem Sik von dort aus Deckung geben. Er zog die eigene Laserpistole, entsicherte sie und sprintete auf die andere Seite der Tür.
Dabei konnte er einen Blick auf die bullige Kreatur werfen, die sich aus einer der Kammern befreite, bedeckt mit einer Schicht Eis und grotesken Narben an den restlichen Stellen. Sie hatte die Tür in der Hand, die sie zuvor eingeschlossen hatte, und riss sie in Stücke.
"Keine Bewegung!", rief der Sik und trat mit ausgerichtetem Gewehr in den Raum. Numbakas Kamerabild traute sich aus der Deckung und sah ihm nach.
Die Kreatur, die menschenähnliche Züge hatte, drehte sich zu ihm und starrte den Sik kurz an, bevor sie lossprang. Numbaka in der Aufnahme machte einen Satz zurück. Es war das Zischen des Lasers zu hören, der sich durch das Fleisch der Kreatur brannte, dann rieselte ein Schauer Blutstropfen auf Objektiv der Kamera.
Keine Chance, dass Numbaka gegen diese Kreatur kämpfen würde. Die Kamera drehte sich weg und hastete wackelnd auf den Ausgang der Rakete zu.
Auch der Numbaka, der alt und grau vor dem Medienpanel saß, wusste, dass es nicht das Blut der Kreatur gewesen war und die Panik seines vergangenen Ichs vollkommen begründet. Er verzieh ihm, dass er die Siks und auch Annadora im Stich ließ.
Die Kamera erreichte den Ausgang, hielt kurz inne, als sie zwei gefrorene Skulpturen sah. Darios und den Techniker, die ihrer Pose nach auf die Gleiter zugerannt waren.
An das, was danach folgte, konnte er sich wieder erinnern. Alles davor war bis heute eine klaffende Lücke in seiner Erinnerung gewesen. Als hätte jemand dieses schreckliche Ereignis aus seinem Kopf gerissen. Er hatte bis eben ja noch nicht einmal mehr gewusst, dass er eine Aufzeichnung dieses unglückseligen Tages besaß.
Er sah weiter dem Fluchtversuch seiner jüngeren Version zu, nun ruhiger, denn er war sich ziemlich sicher, dass er entkommen würde.
Er erreichte einen Gleiter und versuchte hektisch, ihn zu starten. Die ersten Versuche scheiterten, denn seine Finger zitterten viel zu stark. Die Kamera schwenkte zurück auf den Eingang der Rakete, aus der jetzt die Kreatur herausgestürmt kam.
Dann sprang der Motor des Gleiters endlich an. Ein Antrieb alleine mit Wind hätte ihn hier nicht gerettet, deswegen benutzte er den Elektromotor, um sich mit einem Stoß von der Rakete zu entfernen. Das würde später dafür sorgen, dass er auf dem Eis weiterschlittern musste, weil der Akku leer war, rettete ihm zu diesem Zeitpunkt aber das Leben.
Er würde die Zitadelle erreichen, den Behörden berichten und dann von diesem Psychologen betreut werden. Er hatte seinen Namen vergessen. Erinnerte sich nur noch an sein graues Haar und seine beruhigende Stimme. War es ihm zu verdanken, dass er ...
Ein Rumpeln in der Abstellkammer riss ihn aus der Gebanntheit, mit der er auf das Medienpanel starrte.
Klara stand im Raum, mit offenem Mund. Sie hatte irgendetwas fallen gelassen.
"Eiszombie", hauchte sie.
Als sie dieses Wort erwähnte, fügte sich in seinem Kopf alles zusammen. Zumindest beinahe. Die Geschichte, die ihm die Kinder erzählt hatten und die, die er selbst erlebt hatte und an die er sich nun wieder erinnerte, ergaben gemeinsam einen Sinn.
"Teambesprechung!", rief er, stand auf und eilte auf den Gang. Vorbei an Klara, die immer noch auf das Medienpanel blickte.