Es war einer dieser Tage. Fröhlich flatterte das Gänschen Liese über die grüne Wiese des Bauern Zettel.
»Oh, wie fein ist doch mein Leben als des Alten Lieblingsgans!«, sprach sie freudig. Freilich klang es in aller Anderen Ohren mehr nach einem vergnügten Naak, naak, naak, doch das kümmerte das Lieschen wenig.
Müde und erschöpft vom Spielen ließ sie sich in ihren Stall treiben, als die Sonne den Himmel rot färbte und freute sich bereits in diesem Moment auf den neuen Morgen und die vielen frischen Salatblätter und Möhren, die es dann für sie zu vertilgen gab.
»Oh wie fein ist doch mein Leben als des Alten Lieblingsgans«, naakte sie wieder und schüttelte ihr weißes Gefieder. Mit einem Auge linste sie aus dem Stall und sah den Alten, den Zettel mit Ziegenbart und Schippe.
»Selbstverfreilich. Zahle Er mir den gewünschten Preis und das Lieschen dreht sich morgen schon auf Seinem Spieß«, brummelte er einem anderen, einem fetten Manne, zu.
Da erschrak die Gänse-Liese gar fürchterlich.
Verspeisen lassen wollte er sie? Dieser Betrüger. Was dachte er, wer sie war?
Denn das Lieschen war nicht dumm. Rasch war ein Plan daher, zu fliehen geschwind. Niemand sollte seine gierigen Zähne in ihr zartes Fleisch schlagen, solange sie das würde verhindern können.
So floh sie durch die alterschwache Stalltüre hinaus in die dunkler werdende Nacht.
Sollte der Alte doch zusehen, wie er ohne sie zurecht kam, die seinen Garten von Ungeziefer freihielt und ihm die Kosten für einen Hofköter ersparte.
Sie war Liese, die Gans! Kein Dummchen und nichts für den Teller.
»Oh wie unfein ist doch der alte Zettel!«, schnatterte sie und tappte die staubige Straße entlang.
Die Nacht jedoch wurde dunkler und das Lieschen, soviel Freiheit nicht gewöhnt, gelangte in einen dichten Wald.
»Hier wird es sicher sein, denn ich brauche Rast.« Ihr Gefieder schüttelnd quartierte sie ihren Hintern geschwind auf ein weiches Stück Moos und wollte sich der Nachtruhe hingeben.
Doch was war das? Ein Schnaufen, ein Schnüffeln, ein Kläffen.
Ein Köter!
Sabbernd, hässlich, gar grauselig stand das Ungetüm vor dem Lieschen und starrte es aus dämlichen Augen heraus an.
»Sage mir, was du willst«, quakte das Gänschen und plusterte ihr Gefieder drohend auf. Der Köter blickte weiter doof und stieß ein Jaulen aus.
Schritte folgten auf das klägliche Gefiepe und ein schauderhaftes Etwas baute sich auf. Das Lieschen schüttelte ihr Gefieder und naakte unschuldig.
War es ein Wolf dort vor ihr?
Aber nein, der hätte sie gefressen, ehe sie sich versah. Doch was war es, dieses große, sonderbar entstellte Ding, dessen beißender Geruch sich in des Lieschens empfindliche Nase bohrte?
»Ach fein, mein treuer Findus. Ein Gänschen hier so ganz allein. Was verschlägt dich hier her, meine Gute?«, säuselte das Ding mit einschmeichelnder Stimme, bevor es eine Hand – Moment, eine Hand? – ausstreckte, um das Gefieder zu streicheln.
Dem Lieschen entging nicht der prüfende Griff an ihrem Hintern und den Schenkeln. Unter dem zauseligen Fell lugte das Antlitz einer Frau hervor.
Das Lieschen beruhigte sich einen Moment und ließ sich das Streicheln gefallen.
»Komm doch, meine Gute. Ich biete dir ein Nachtlager, das sicherer ist als ein dunkler Wald bei Nacht«, sprach sie und hielt dem Lieschen den Arm hin.
Erschöpft ließ das Gänschen sich tragen zu einer kleinen Hütte, verschlagen und dunkel, doch mit einem warmen Herdfeuer.
Das Lieschen blickte sich um in der Hütte und erblickte Sonderbares. Einen großen Kessel statt eines Ofens und einen Verschlag, aus dem leises „Mäh“ hervor drang.
Mit Erleichterung bemerkte das Gänschen, dass das, was so gruselig an der Dame ward, ein alter Umhang war, einem Wolf über die Ohren gezogen und freilich, dem Geruche nach, schlecht gegerbt.
»Ruhe dich aus, mein Gänschen. Du siehst ganz verängstigt aus und das ist nicht gut.«
Die Frau lachte und rührte in ihrem Kessel, bevor sie eigenartige Zutaten hinzu führte. Dem schlauen Lieschen schwante Übles, während sie ihr zusah.
Diese Frau, nein, eine Dame war sie nicht. Eher etwas Garstigeres. Sie lachte kichernd und das Lieschen erblickte das Antlitz einer alten Hexe unter der Fassade der schönen Frau.
»Oh, wie mein Mahl immer festlicher wird. So kommen zu dem Hammelbraten auch noch Gänseschenkel dazu. Wie mich das freut. Ich kann es nicht erwarten«, zauselte die Alte und rührte weiter in ihrem Kessel.
»Oh weh mir! Die Kresse fehlt. Ich will sie geschwind besorgen gehen. Findus, alter Köter, bewache mir mein Mahl, so sollst du auch einen schönen Happen bekommen.«
Der Köter jaulte leise und die Alte verschwand.
»Du! Hund! Sage mir, was geht hier vor sich?«, naakte unser Lieschen und schüttelte wieder ehrfurchterbietend das weiße Gefieder.
Der Köter winselte und schüttelte den Kopf. »Nicht fragen, Gans.«
Das Lieschen hüpfte aus dem Korb und watschelte zu dem Verschlag, wo das leise „Mäh“ nicht verstummen wollte.
»Wer ist da drin?«, schnatterte sie und ein kleines Zicklein erschien an einem Astloch.
»Gänschen, du musst fliehen. Die alte Hexe wird uns kochen und fressen. Alle 7 von uns, dich und in ihrer Gier wohl auch den Köter.«
Das Lieschen plusterte aufgebracht mit dem Gefieder.
»Das ist doch die Höhe! Bin ich vom Hofe des Alten geflohen, um von jemand anderem gefressen zu werden? Das will sie mir büßen, die alte Hexe.«
Scharren und Seufzen ertönte hinter dem Verschlag, als die lädierten Geißlein sich regten.
»Aber wie... niemand kann sie besiegen. Die Alte ist gierig, alt und weise.«
Das Lieschen watschelte in der schmutzigen Hütte herum, die beinahe verkommener war als der Stall beim alten Zettel. Ihre kräftigen Flügel schlagend, hüpfte sie auf das, was sie als die Bettstatt der Hexe vermutete und entdeckte in einer Ritze an der schmutzigen Wand einige Bücher.
Unser Lieschen wäre nicht dem Schlachter entkommen, wenn sie doof wäre und so zog sie einen der Bände hervor und zupfte an den modrig schmeckenden Seiten.
Oh, könnte sie diese komischen Zeichen doch nur lesen!
Stattdessen platzierte sie ihren ausladenden Hintern auf dem Buch und harrte der Hexe, die da kommen würde.
»Mein Gänschen, was hast du auf meinem Lager verloren? Reicht dir das gemütliche Körbchen denn nicht? Schau, ich habe Kohl für dich mitgebracht, damit du gestärkt bist und runder wirst.«
Die alte Hexe hob das Lieschen von der Liegestatt und verfrachtete sie in den Korb, bevor sie merkte, dass diese auf einem alten Buch gesessen hatte.
Eilig räumte sie es weg und sah sich gehetzt um.
»Mein Gänschen, gehe nicht an meine Bücher. Die sind nichts für dich, viel zu gefährlich. Wenn nun aus Versehen Er auf meine Schliche kommt, so bin ich verloren.«
Das Lieschen wurde aufmerksam und naakte die Hexe an, in der Hoffnung, die würde es als Frage verstehen. Die Alte lachte hysterisch und schmiss Kräuter in ihren Topf.
»Wenn Er mich findet, reißt er mich in die Tiefe seiner Unterwelt und lässt mich brennen. Doch zum Glück versteckt dieses Amulett meinen Ort, wo immer ich bin. So kann er suchen, bis er schwarz wird.« Ein weiteres hysterisches Lachen, gefolgt von gehetzten Blicken und energischem Rühren.
Unser Lieschen grinste – so wie eine Gans eben grinst – und wartete auf die Nachtruhe der Alten.
Egal, wer der Geheimnisvolle war, den die Alte fürchtete, alles und jeder war besser, als in diesem stinkenden Kochkessel zu landen und anschließend als Mist irgendwo in einem Abort. Wenn die Alte sowas hatte!
Und so wartete und lauerte unser schlaues Gänschen, bis die Alte sich zur Ruhe begab. Leise watschelte sie zu den Zicklein in dem Verschlag.
»Sagt mir, wer ist Er?«
»Wir wissen es nicht. Aber sie fürchtet ihn sehr.«
»Ich will versuchen, das Amulett zu stehlen«, schnatterte das Lieschen leise und watschelte zu der Bettstatt der Alten.
Sie schnarchte, dass es dem Gänschen wie ein Wunder vorkam, dass man das nicht bis in den Himmel hörte, und zupfte vorsichtig mit dem Schnabel an ihrem Gewand herum. Bald schon bekam sie ein kleines, goldenes Kettchen zu fassen und biss es ab.
Doch das Zupfen war vielleicht zu stark, denn die Alte erwachte in eben diesem Moment.
»Du dumme Gans, gib es mir zurück!«, keifte sie und versuchte, nach des Lieschens Hals zu greifen. Diese war schneller, sprang mit flatternden Flügeln von der Bettstatt und schluckte das goldene Kettchen mitsamt Anhänger einfach runter.
»NEIN!«, schrie die Alte verzweifelt und in der selben Sekunde verdunkelte sich der schäbige Raum noch mehr.
Die Erde tat sich auf und aus einem Schein smaragdgrünen Lichts trat eine dunkel verhüllte Gestalt, größer als alles, was das Lieschen je zuvor gesehen hatte.
»Es hat lange gedauert, Walburga«, donnerte eine tiefe Stimme und die Gestalt warf die Kapuze zurück. Zum Vorschein kam das strenge Gesicht eines Mannes mit Augen so grün wie der tiefste Wald.
Die Alte warf sich vor der Gestalt in den Dreck und winselte.
»Oh Hades, du Gott der Unterwelt, lasse dieses eine Mal Gnade walten. Ich flehe dich an.«
Das Lieschen beobachtete die Reaktion genau, doch der Mann verzog keine Miene. Stattdessen hob er eine sonderbare Waffe.
»Für deine Freveltaten und den Diebstahl meines Amuletts sollst du deine Strafe erhalten. Es gibt keine Gnade, die ich dir geben kann.«
Mit einer geschmeidigen Bewegung schwang er die Waffe, eine mit Nägeln bespickte Keule, und die Alte löste sich vor den Augen des Gänschens in Luft auf.
»Du hast lang genug gelebt, alte Hexe«, brummte der und sah sich um.
»Nanu? Eine Gans? Du hast mich hergerufen? Sonderbar... wie dem auch sei. Du hast mein Amulett gefressen, das hätte ich gern wieder.«
Das Lieschen sah dem Gott standhaft in die Augen und naakte.
»Oh sicher, deine Freunde. So wollen wir sie denn freilassen«, sprach dieser und öffnete den Riegel des Verschlages.
Die Geißlein hüpften heraus, verneigten sich und stoben in die Freiheit, ebenso der alte Hund, der froh war, die Hexe los zu sein.
»Und nun, Gänschen. Es beliebt mir nicht, dich zu schlachten. Doch willst du mit mir kommen?«
Unserer tapferes Lieschen, ganz fasziniert von den grünen Augen, naakte wieder und ließ sich auf dem Arm des Gottes nieder, der sie mit sich in sein Reich nahm.
Und wenn sie nicht gestorben ist, dann sitzt sie da noch immer.