„Du bist dir sicher, dass du das willst?“, fragte der Mann mit dicken Pelzmantel über den Schultern. Ich schluckte und schaute schüchtern in sein einzelnes blaugraues Auge, welches mich fixiert hielt. Das andere war schon vor einer Ewigkeit verloren gegangen.
Was hatte ich für eine Wahl? Mein altes Leben hatte ich freigegeben. Entweder ich wurde weitergeschickt ins Land des Vergessens oder würde nun ein neues Schicksal annehmen.
Unsicher wandte ich meinen Blick ab und schaute zu den drei alten Frauen, die ungeduldig auf meine Entscheidung warteten. Wobei das doch für sie eigentlich kein Geheimnis hätte sein dürfen. Immerhin waren sie die Nornen; die Schicksalsschwestern und wissenden über das Leben, den Tod und alles was war, ist und sein würde.
Innerlich rang ich mit mir und meiner Entscheidung.
Vielleicht waren meine Eltern gebildet gewesen und hatten auch mir viel ihrer Welt offen gelegt. Aber dennoch war ich nicht ungläubig. Eigentlich sogar eine gute Christin gewesen.
Alles was ich jetzt jedoch vor mir sah, war mit tiefer, heidnischer Magie verwoben. Ein höheres Wesen als ein Mensch, was man wohl Gott nennen konnte, aber nie im Leben, der eine Gott war, von dem mir gepredigt worden war. Magische Schwestern, die mir etwas anboten, was nah an Unsterblichkeit kam, obwohl ich genau gespürt hatte, wie ich starb.
Sowieso war der Weg hierher in den letzten Monaten immer deutlicher geworden. Bilder flirrten an meinem inneren Auge vorbei.
Das sanfte Lächeln meines Jugendfreundes Michael, welchem ich an unserem Lieblingsplatz versprach, auf ihn zu warten. Der Wacholderbusch stand damals in voller Blüte und auch wenn er es mich nicht wissen lassen wollte. Ich wusste genau, dass seine Hand zitterte, bei dem Gedanken in den Krieg zu gehen und vielleicht nicht zurückzukehren. Dennoch besiegelten wir dieses geheime Versprechen mit einem Kuss. Meinem ersten Kuss und dem letzten für uns zusammen.
Die Nachricht, dass er in einem sinnlosen Gefecht starb, traf mich so sehr, dass ich über Wochen mein Zimmer nicht verließ. Ich ging auf und ab und konnte kaum fassen, dass er in fremder Erde mit tausenden anderen, nicht selten namenlosen, Männern verscharrt lag.
Als ich mich dann durchrang und doch wieder versuchte ins Leben zu finden, war auch daheim nichts mehr, wie es war. Alle wirkten tief geschockt von den Wirren des Krieges. Die Wirtschaft lag brach. Menschen flüchteten vom Land in die Städte, die noch schmutziger wurden.
Wieder wechselte das Bild und mein sterbender Vater lag in seinem Bett. Er war kalkweiß und obwohl er noch nicht einmal 45 Jahre alt war, vom Leben schlimmer gezeichnet, als so mancher Minenarbeiter nach 40 Jahren unter Tage. Wenigstens musste er nicht lange leiden. Aber sein Tod brachte auch unserer kleinen Familie nur Leid.
Mein kleiner Bruder Adam wurde auf ein billiges Internat eines Klosters geschickt. Möglichst weit weg vom Elend in unserem Haus. Seine Tränen brachen mir das Herz, als er in die Kutsche gedrängt wurde. Er war doch auch so ein zartes Seelchen wie Michael gewesen. Zu weich für eine Welt in der Gewalt und Krieg alles zu sein schienen, was die Menschen antrieb.
Meine Mutter machte mir klar, dass wir nur zwei Möglichkeiten hatten. Arbeit oder Heirat. Dabei ignorierte sie, dass ich nicht nur durch Michaels Tod nicht bereit war zu heiraten. Es war einfach zu viel geschehen. Aber von der Verwandtschaft meines Vaters sich aushalten zu lassen, war keine bessere Option. So schleppte sie mich von einem Teenachmittag zur nächsten Feier mit jungen Herren, die vom Kriegsdienst verschont worden waren. Von allen hatten sich Bilder und Erinnerungsfetzen in meinem Gedächtnis fest gebrannt.
Meine Verbitterung, dass diese wohlhabenden Feiglinge sich hinter den Rockschößen ihrer Mütter versteckten, während ehrliche Männer wie mein Michael starben, konnte ich nur schwer im Zaum halten.
Aber das Maß war am gestrigen Abend voll, an welchem einer der hässlichsten und leider auch reichsten dieser Söhne, um meine Hand anhielt. Dass irgendetwas nicht stimmen konnte, war schon vorher bewusst gewesen. Die Hausmädchen einer Tante steckten mir in ein feines Kleid, was einst wohl meiner Muhme selbst gehört haben musste. Heute der barocken Dame wohl bei weitem nicht mehr passen würde.
Es waren eine Menge Menschen aus allen Teilen der höheren Gesellschaft anwesend. Der Tanzsaal glitzerte und funkelte wie von tausenden Sternen beleuchtet. Aber als dieser Widerling mir diese Frage stellte, wusste ich genau, dass ich nicht das Recht hatte, abzulehnen.
Wäre mein Vater nicht an den Blattern dahingeschwunden, hätte er es auch nie gewagt mich das zu fragen. Mein Verlust war sein Gewinn. Wir waren auf seine finanziellen Mittel angewiesen.
Einen Moment lang fragte ich mich, ob es mir nicht in einem der Armenviertel Londons besser ergangen wäre. Mit ehrlicher Arbeit als Näherin oder Anstandsdame hätte ich mich und sicher auch meine Familie irgendwie durchbringen können. Aber das hätte meiner Mutter nicht gereicht. Sie war vom Luxus verwöhnt. Wobei vielleicht auch ich mir das zu romantisch vorstellte. Ich war nie arm gewesen und dieser Mann bot mir alles an, was ich für ein unbeschwertes Leben brauchte.
Also ging ich den Deal mit dem Teufel ein. Einen Mann zu heiraten, der mich nicht hätte weniger bedeuten können.
Zumindest kam es mir am nächsten Tag genauso vor. Die Vorbereitungen waren bereits im vollen Gange. Ich war nur eine Puppe die angezogen, umhergeschubst und wie Vieh verkauft wurde. Sogar das Datum stand längst fest. Der letzte Sonntag im Mai sollte es sein. Das war ziemlich genau ein Jahr nachdem ich meinem Michael versprochen hatte zu warten.
Bei der ersten Gelegenheit die meine Mutter und meine künftige Schwiegermutter mir boten, flüchtete ich.
Wieder war da unser früherer Lieblingsplatz. Wieder stand er in voller Blüte und all der Schmerz und das Leben, was nun vor mir lag, übermannte mich.
Es würde nur ein kleiner Schritt sein. Die Klippe an der ich stand, war nicht weit weg von unserem Platz. Das Meer schlug stürmisch gegen die Felsen.
Nur ein Schritt und dann hätte ich es hinter mir. Könnte all dem entkommen und müsste den Schmerz über all die Verluste nicht mehr spüren. Starr schaute ich zum Horizont, als mein Fuß über dem Abgrund schwebte. Wirklich Angst vor der Hölle, in der ich sicher deshalb landen würde, hatte ich nicht. Denn alles andere erschien mir viel tragischer, als die Unsterblichkeit meiner Seele.
Wie ich meinen zweiten Fuß hob und damit in die Tiefe fiel, konnte ich nicht einmal genau sagen. Danach war da nur noch das Wasser. Eisig und salzig und allumfassend strömte es um meinen Körper. Die Wellen schlugen über meinem Kopf zusammen. Die letzte Luft entkam meiner Brust und alles in meiner Welt war Meerwasser, bis meine Seele den Körper verließ.
Dann erst schlug mein Körper auf einer Wiese auf. Die Seele sprang zurück, als wäre sie mit meinem Körper noch immer verbunden.
„Also?“, fragte der fremde Mann, der über mir stand und väterlich, aber auch irgendwie bedrohlich wirkte, „Willst du als eine, mit meinen Töchtern gleichgestellte Kriegerin der Asen weiter leben? Willst du auf Erden wandeln, für mich die verstorbenen Heldenseelen sammeln, um das Gleichgewicht des Cosmos zu stützen?“
Er hatte mir aufgeholfen und meine durchnässten Kleider mit einer dicken Decke umhüllt. Wobei das mehr dazu diente, dass mein Körper vor den Blicken der anderen verdeckt wurde.
Tausende Gedanken, ob ich in der Hölle oder im Himmel oder an einem ganz anderen Ort war, sprangen durch meinen Kopf. Aber gleichzeitig wirkte der Mann so gütig, dass ich kaum seinem Angebot widerstehen konnte. Mein Tod war nicht sinnlos und nur Teil meiner Ausweglosigkeit.
Ich sollte eine neue Chance haben, etwas aus meinem Leben zu machen.
Selbstsicherer als bei meiner erzwungenen Verlobung sagte ich: „Ja, ich will.“
Eine Frau, die ich davor nicht gesehen hatte, nahm mir die Decke ab.
Der Mann nickte und sagte feierlich: „Dann fühle dich befreit von deiner letzten Existenz. Dies sei ein neues Leben, indem du fern von den Fesseln der menschlichen Welt handeln kannst. Dafür allerdings, mein Kind, brauchst du auch einen neuen Namen. Wähle ihn weise und klug, damit deine neuen Brüder und Schwestern auch wissen, mit wem sie es zu tun haben.“
Mehr Menschen oder viel mehr Asengötter waren zu unserem Kreis herangetreten. Die Schicksalsgöttinnen waren die einzigen, welche sich im Hintergrund hielten, weil sich genau wussten, was kommen würde.
Doch mir einen neuen Namen zu geben, war gar nicht so einfach. Den Namen Sarah hatte ich immer geliebt. Wobei er vielleicht nicht so gut zu meiner neuen Existent passt.
Bevor ich allerdings weiter nachdenken konnte, sagte meine Stimme ohne mein Zutun: „Dann nennt mich Elydias.“