Als ich die staubige Dorfstraße entlang kam, sah ich ihn schon von Weitem da stehen. Wann war er so groß geworden? Eine der Fragen, die mir dann und wann durch den Kopf schoss, wenn ich nicht erwartete, ihn vor mir zu sehen.
Wie lange waren wir jetzt befreundet? Wenn ich mich recht erinnerte, dann müssten das etwa 15 Jahre sein.
Wie damals herrschten in diesem Ort eine steife Seebrise und der Geruch von Fisch und Meer war einfach überall präsent. Ich erinnerte mich noch an den kleinen, nervigen Jungen, der damals immer mit den Erwachsenen wegwollte. Einfach raus aus dem miefigen Kaff. Und ich war die Letzte, die diese Sehnsucht nach der Weite des Meeres nicht rufen hörte.
Zwar bedeutete für uns Freiheit nicht nur von unserer kleinen Welt zu fliehen, aber wie lange konnte eine Insel allein schon Menschen wie uns halten. Menschen, denen die Abenteuer dieser Welt sanft ins Ohr raunten. Uns lockten, als wären sie Sirenen und wir unbedarfte Fischer.
Je weiter ich den ungepflasterten entlang Weg ging, um so mehr verwirrte mich sein Anblick. Natürlich hatte es uns aufs Meer gezogen, nachdem die dichten Wälder uns keine neuen Geheimnisse mehr boten. Mich, obwohl ich ein Mädchen war, ein paar Jahre vor ihm. Auch wenn wir wohl alle erahnen können, wie schwer es für ein Mädchen von 16 Lenzen war, sich zwischen raubeinigen Kerlen durchzuschlagen.
Irgendwann kreuzten sich unsere Wege. Meist in eher ungünstigen Situationen, wo wir genau entgegengesetzten Parteien angehörten.
Irgendwie schafften wir es schließlich, doch beide wieder, sogar zur gleichen Zeit, in unserem kleinen Heimatdorf, wo wir anfingen gemeinsam den Traum von der scheinbaren Unendlichkeit der Welt zu träumen.
Nervosität. Ich wusste, da war etwas in seinem Blick, was mir nicht gefiel. Er war nervös.
Natürlich waren die Zeiten vorbei, in denen wir über wilde Wiesen rannten oder versuchten auf wilden Pferden zu reiten. Dafür lag zu viel Verantwortung auf unseren Schultern.
Irgendwann waren wir erwachsen geworden. Was mich zurück zu der Frage brachte, wann er so unverschämt groß geworden war.
Fast schon scheu wirkte sein Blick, als ich endlich vor ihm stand. Hier an dem Haus, welches meine schon lange verstorbenen Eltern mir hinterließen. Ich ertrug so oft die Enge dieser Räume nicht, wenn ich doch einmal darin schlief.
Genau wie vor fünf Jahren, als ich mich nachts an die Klippe setzte und dem Rauschen der Wellen zuhörte. Solche Häuser machten mich gerade zu klaustrophobisch. Dabei war es eine der wenigen Sachen, die meine Eltern in dieser Welt gelassen hatten, als man ihnen die Köpfe für ihre vermeintlichen Vergehen abschlug.
Irgendwann musste ich angefangen haben zu weinen. Ich fühlte mich oft so verloren auf dieser Welt, wenn keine Menschen um mich herum waren. Tagsüber konnte ich das vielleicht noch überspielen. Auch wenn ich weit weg auf dem Meer, irgendwo zwischen vielen Menschen war, spürte ich diese innere Leere nicht.
Vor allem jedoch fühlte ich es nicht, wenn wir zusammen waren.
Heute strengte er sich an, so unbekümmert wie immer zu wirken. Allerdings durchschaute ich das Spiel sofort. Etwas stimmte heute ganz und gar nicht.
Freundschaftlich legte er einen Arm um meine Taille und drückte mich an seine Brust.
Erst jetzt bemerkte ich, den Zettel in seiner Hand. Es war ein Brief und irgendwie ahnte ich, dass das nichts Gutes bedeuten konnte.
»Hallo. Was gibts Neues?«, fragte ich möglichst unbedarft.
»Nichts weiter«, log er, grinste mich schelmisch an und stopfte das zusammengefaltene Papier in seine Hosentasche. Erst dann fragte er: »Wie wärs mit einem kleinen Ausflug, oder hast du etwas geplant?«
Ich schaute auf den Korb mit Lebensmitteln, die ich auf dem Markt erstanden hatte und schüttelte den Kopf.
Ohne lange zu überlegen schlenderten wir los. Ein wenig außerhalb des kleinen Dorfs kam man schnell zu einer Weggabelung. Entweder ging man da zum Wald oder über einen steilen, selten benutzten Pfad in Richtung Meer, welchen wir schweigend einschlugen. Hier oben gab es eine Steilklippe, wo wir schon als Kinder oft gewesen waren. Denn auch wenn mir die Einsamkeit meist ungelegen kam. Manchmal brauchte auch ich Zeit und Raum zum Nachdenken.
Außer den wenigen Sätzen im Ort, hatten wir kein Wort gesprochen. Etwas, was nicht ungewöhnlich war. Aber heute wirkte die Stille schon fast bedrückend. Ganz, als würde ein Damoklesschwert zwischen uns hin und her schwanken. Die letzten Meter sprintete ich und setzte mich in den Schatten einer alten Weide. Von dort aus hatte ich schon so viele Stunden nur aufs Meer gestarrt. Auch heute hörte ich seinen säuselnden Ruf im Ohr.
Schmunzelnd sah er mich an, setzte sich an meine Seite und meinte: »Erinnerst du dich noch an damals?«
Mit verlorenen Blick schaute ich einfach hinaus aufs Meer und antwortete: »Wir waren zu oft hier. Was meinst du genau?«
»Die Nacht bevor du verschwunden bist«, sagte er ruhig. Ich hätte Traurigkeit oder Wut oder wenigstens so etwas wie Schwermut in seiner Stimme erwartete. Aber da war nichts. Er konnte das absolut gleichgültig sagen.
Ich seufzte tief und verschränkte die Arme im Nacken. »Ich musste damals einfach weg. Diese Insel war zu klein für mich. Abgesehen davon gab es da noch andere Gründe.«
»Du meinst die Männer, die dich immer mehr bedrängten, sie zu heiraten?«, fragte mein alter Freund, wobei bedrohlich ein düsterer Ton in seiner Stimme mitschwang.
Es war mir damals nicht verborgen geblieben. Dass er sich geprügelt hatte und sie nachts vor meinem Haus lauerten. Vielleicht fühlte ich mich auch deshalb darin so eingesperrt, dass ich in einer günstigen Minute hierher floh.
»Nimmst du es mir gar nicht übel, allein bei Nacht und Nebel mit einem geklauten Boot zur nächsten Insel gefahren zu sein und von dort aus mit einem Schiff wegzufahren?«, fragte ich ein wenig unruhig.
Kurz lachte er auf und legte sanft einen Arm um meine Schulter und antwortete: »Nein! So bist du eben. Wie ein wildes Pferd, was niemand satteln kann.«
Ich löste meinen Blick von den wogenden Wellen und schaute zu ihm.
»Wieso sind wir hier?«, bohrte ich nach und versuchte das Thema zu wechseln.
Er schaute mich kurz an und dann wieder aufs Meer, während seine Finger den Brief wieder aus der Tasche zupften und mir hinhielten.
Die Worte darin sprachen eine eindeutige Sprache. Sein Großvater, ein hochdekorierter Offizier, beorderte ihn zu sich. Wir wussten alle, wieso wir vor unserem 17. Geburtstag von zu Hause verschwanden. Zwangsrekruten fürs Militär wurden dann meist reihenweise im ganzen Land einberufen. Die Träume vom weiten Meer waren dann ausgeträumt. Wer Glück hatte, durfte über Verbindungen die Offizierslaufbahn einschlagen.
Schon vor Jahren hatte ich damit gerechnet, dass mein bester Freund von seiner Familie dazu berufen würde. Aber dieser Brief blieb aus. Ich hoffte, der Kelch würde an ihm vorüber gehen.
Meine Finger zitterten, als ich ihm das Papier zurückgab.
Mit beschlagener Stimme meinte ich: »Was wirst du tun?«
»Was soll ich deiner Meinung nach machen?«
Schweigend zuckte ich mit den Schultern und wartete ab, bis er seufzend sagte: »Ich hau ab. Du weißt, dass ich mich nicht in eine Richtung drängen lassen will.«
»Du willst also als Gesetzloser umher reisen und alles hier hinter dir lassen?«
Er zuckte ruhig mit den Schultern, legte den Kopf in den Nacken und meinte: »Könnte ganz witzig werden.«
»Du meinst, bis du erwischt wirst und es nur noch um die Frage geht, ob man dich hängen oder köpfen soll«, meinte ich bissig.
»Erschießen! Wenn dann sollen sie mich erschießen«, antwortete er ruhig, als wäre auch das Teil seines Plans.
Schmerzhaft zog sich etwas in mir zusammen, als ich seine ruhigen Gesichtszüge musterte und fühlte, dass die Entscheidung schon lange gefallen war.
»Dann ist das wohl ein Abschied für immer«, flüsterte ich nahezu, den Blick wieder abgewandt und auf ein Schiff am Horizont fixiert.
Wir schwiegen eine Weile und nur der Wind, welcher langsam auffrischte und mir die langen dunklen Strähnen zerzauste, war zu hören.
»Du erinnerst dich also noch an die Nacht, in der du weg bist?«, fragte er plötzlich.
Kurz zuckte mein Mundwinkel. Natürlich erinnerte ich mich. Ich fühlte mich so verlassen damals und hörte nachts wieder die Männer auf der Straße vor meinem Haus. Hörte auch ihn, wie er sie wegscheuchte und mir eine Gelegenheit zur Flucht bot, als er eine Prügelei anzettelte.
Ich erinnere mich noch, wie ich geweint hatte und er irgendwann mich dort fand. Wie ich ein paar Streifen meines Hemdes abriss, um die übelsten Verletzungen zu bandagieren. Dass er damals meinte, ich brauche keiner Familie nachweinen, die es längst nicht mehr gibt, wo wir doch einander mehr Familie waren, als all unsere Blutsverwandte. Wie er mir danach einen Kuss stahl und irgendwo in der Nacht verschwand. Sogar an das Herzklopfen erinnerte ich mich, welches mich bis nach Hause begleitete.
In der Nacht hatte ich mir überlegt was und weshalb ich das tue. Wäre ich noch länger geblieben, hätte dass am Ende nicht nur für mich bedeutet, dem Ruf des Meeres nicht nachzugeben. Ich hätte vielleicht auch für ihn den Traum beendet.
Plötzlich stand er auf und reichte mir seine Hand, damit ich es einfacher hatte, mich nach oben zu ziehen.
Doch statt einfach wieder den Weg entlang zum Dorf zu gehen, löste er seine Hand von meiner nicht und sagte unruhig: »Komm mit mir mit!«
Mein Herz galoppierte davon, so schnell und sprunghaft spürte ich es in meiner Brust schlagen.
Ich stammelte leise: »Ich kann doch nicht …«
Aber bevor ich auch nur halb den Gedanken aussprechen konnte, legte er mir etwas in die Hand und meinte: »Ich warte auf deine Antwort bis heute Nacht.«
Danach blieb noch der Hauch eines flüchtigen Kusses auf meinen Lippen und eine wilde Brise, die wieder das Flüstern der Weite an mein Ohr trug.
Schnellen Schrittes rannte ich zurück ins Dorf. Er war nirgends zu sehen. Aber ich hatte auch etwas anderes vor. Schnellen Schrittes betrat ich mein Haus, raffte alle Dinge, die ich besaß, zusammen und suchte die Papiere für das Haus.
Ich würde es noch heute dem Dorf zurückverkaufen, auch wenn ich damit Verluste machte. Mit dem Geld und meinen Ersparnissen konnte ich mir sicher ein seetüchtiges, neues Heim leisten. Bald begann für mich ein neues Abenteuer. Das wusste ich ganz genau, als ich mir seinen Silberring an den Finger steckte.