Ich fühlte mich innerlich taub, als ich von dem Termin der Psychologin wieder nach Hause kam.
Danach brauchte ich immer Ruhe, eine Tasse Tee und Zeit für mich. Etwas, was leider viel zu selten der Fall war.
Meine Mutter hatte mich zu ihr geschickt, weil ich nicht normal war. Zumindest implizierten ihre Worte das. Doch die Realität war schlimmer.
Heute war bei Weitem nicht der erste Termin und wir hatten eine Weile gebraucht, um uns an das Thema heranzupirschen. Ich war fast 30 und hatte nie in meinem Leben eine Liebesbeziehung oder Sex.
Das war ein ganz schönes Brett für die meisten. Aber besonders für meine recht konservative Mutter, die endlich Großmutter werden wollte. Eine Weile dachte sie ja, ich würde mit Frauen ausgehen. Aber auch das stimmte nicht. Keine Männer, keine Frauen und nichts dazwischen. Am wohlsten fühlte ich mich immer noch mit mir allein.
Heute kam die Dame, zu welcher meine Mutter mich, wegen meiner vermeintlichen Bindungsängste, geschickt hatte, mit einer Aussage, die ich so nie in Betracht zog. Vielleicht auch nicht in Erwägung ziehen wollte. Nicht, dass ich zu narzisstisch sei, um mich auf einen Menschen einzulassen. So war ich nicht.
Ich hatte nur kein Bedürfnis nach Sex oder Liebe, wenn auch Verständnis für das Konzept. Im Fachterminus nannte man das Anaphrodisie oder auch Asexualität. Die Grenzen davon waren nur schwer auszuloten, da ich nicht nur kein Interesse an Sex, sondern auch nicht an einer Partnerschaft hatte. Wobei ich mir eher dachte, dass dies daran lag, was die Männer dann erwarteten. Aber die ganze körperliche Seite wollte ich einfach nicht.
Seufzend zog ich eine Liste hervor, die meine Psychologin mir herausgesucht hatte. Selbsthilfegruppen, Foren und diverse Organisationen, die sich auf jeden Fall besser mit meiner Identität auskannten, als die meisten Therapeuten. Nur dieses Papier und die Aussage, ich sei nicht verrückt und an mir gäbe es nichts herum zu therapieren, ließen mich gerade nicht durchdrehen. Auch wenn sie mir versprach, mich auch über mein künftiges Outing hinaus zu begleiten. Dieses Versprechen hatte irgendwie etwas Tröstliches an sich. Denn ich fühlte mich gleich viel weniger, wie eine Verrückte.
Asexuell. Das war, selbst für mich, ein ziemlich heftiges Wort. Beschimpfte man so nicht einfach nur Mauerblümchen, die nicht wirklich wussten, was sie wollten?
Als ich ein paar Schlagworte in meinen Browser eingab, stellte ich jedoch fest, es war wirklich mehr dahinter, als nur diese kindische Vorstellung. Tatsächlich waren sie ein bemerkenswert großer Teil des + in der LGBTQ+ Community. Sie, nein, wir waren anders und definitiv nicht krank.
Plötzlich schlug meine Wohnungstür zu und ungefragt stürmte einmal mehr meine Mutter hinein. Wie ein Wirbelwind fegte sie durch den Flur zu mir ins Wohnzimmer und quasselte drauf los. Wieso ich ihr einen eigenen Schlüssel für meine Wohnung gegeben hatte, fragte ich mich nicht nur heute. Das meiste, was sie sagte, kam nicht einmal in meinem Gehirn an. Stattdessen schnappte ich mir den Zettel mit den Adressen und steckte ihn, so schnell ich konnte, in meinen Terminplaner auf dem Tisch und schloss alle Apps auf meinem Handy.
Sie brauchte nicht wissen, womit ich versuchte, mich gerade vertraut zu machen.
»Ach und weißt du, wer eine Babyparty gibt? Deine alte Freundin Susanne. Es ist übrigens schon ihr drittes Kind«, sagte sie herausfordernd.
Susanne war keine alte Freundin. Wir waren in einer Klasse und ich wusste praktisch nichts über sie, außer, dass sie eine Dorfmatratze war. Also das Gegenteil von mir. Aber sie bezeichnete praktisch jede Frau in meinem Alter, die ich theoretisch kennen konnte, als eine alte Freundin von mir.
Ich wusste, was sie damit anfangen wollte. Mich dazu bringen, von meiner Therapie zu sprechen. Dass ich entweder endlich irgendwelche Pillen bekam, um endlich normal zu werden oder doch noch ein Wunder passierte und einfach so einen Schwiegersohn mitbrachte. Nur durch drüber reden, was bei mir kaputt war.
Mit einem Augenrollen brachte ich meine leere Teetasse in die Küche und meinte: »Vielleicht gehe ich bald nicht mehr in Therapie.«
»Hast du etwa jemanden kennengelernt?«, fragte meine Mutter so neugierig wie immer.
Ich lächelte und schüttelte den Kopf: »Nicht wirklich. Aber wenn du weiter hier immer wieder reingeschneit kommst, um meinen Lebensstil anzuzweifeln, dann hänge ich mich lieber auf, als mir das Geschwafel weiter anzuhören, wie andere ihr Leben verbringen. Möchtest du jetzt wissen, wie es mir geht oder auf deine pseudosubtile Art mich weiter aushorchen?«
Geschockt sah mich meine Mutter an, stand auf und meckerte: »So etwas muss ich mir nicht bieten lassen. Da will man dir nur helfen und du zeigst dich so undankbar. Wenn du alt und allein bist und niemand mehr mit dir redet und du keinen Mann hast, wirst du an mich denken. Das verspreche ich dir.«
Damit schlug sie lautstark die Tür zu und ließ mich allein.
Spielte sie jetzt ernsthaft die Verletzte?
Ich musste erst einmal klar kommen mit diesem Tag und mir selbst. Da brauchte ich meine Mutter, auch wenn sie es vielleicht wirklich nur gut meinte nicht. Irgendwann würde ich es ihr sicher erzählen. Wenn ich mir sicher war, dass ich wirklich so war. Wie auch immer man meine Sexualität oder besser deren Abwesenheit definierte. Irgendwann würde auch sie damit klar kommen müssen.