Der graue Mantel war an den Rändern verschmutzt und zerschlissen. Wie eine alte Decke hüllte er die zerlumpte Gestalt ein, die sich unter einer winderschiefen Zeder zusammenkauerte und mit kondensierendem Atem in die Hände hauchte. Die einst weißen, nun ebenfalls grauen Handschuhe hatten Risse und Löcher. An vielen Fingern fehlte die wärmende Kuppe.
„General Winter?‘“, fragte sie leise, als sie das dünne Batistkleidchen ein wenig anhob und über eine Schneewehe kletterte. Fragend blickte er von seinen Händen auf. Die stahlblauen Augen waren umrahmt von einem feinen Netz aus tief in die fahle Haut eingegrabenen Falten. Kleine Eiskristalle hatten sich in seinem grauen Bart und den buschigen Augenbrauen festgesetzt und funkelten leicht in der aufgehenden Sonne.
Der schmale Mund hinter den Kristallen verzog sich zu einem schiefen Lächeln, als er sie erkannte.
„Fräulein Frühling.“
Er nickte ihr abgehackt zu. Das Grinsen wurde breiter und noch schiefer.
Mit knackenden Gelenken streckte er seine angezogenen Beine aus.
Der Klang erinnerte sie an berstendes Eis.
Er stöhnte auf.
„Ist es denn schon wieder soweit?“
Seine Rechte verschwand in einer der tiefen Manteltaschen und förderte eine metallene Taschenuhr zutage. Abschätzend sah er auf die verrinnende Zeit in seiner Hand, ehe er die Uhr wieder zuschnappen ließ und die nackten Füße des Fräuleins in den Schneemassen fixierte.
Vorsichtig ließ sie sich neben ihn auf die verschneiten Wurzeln der Zeder sinken. Sie merkte, wie er zitterte.
„Ich fürchte ja“, murmelte sie, während sie sich enger an ihn schmiegte, um ihn zu wärmen. Doch das Zittern und Beben wurde nur schlimmer.
„Sieh es dir an."
Sein dünner Arm in dem viel zu weiten Ärmel vollführte eine ausladende Geste. Über Schneeverwehungen, gefrorene Flüsse und verschneite Bäume und Wiesen hinweg.
„Das ist mein Werk.“
Er ließ den Arm sinken, als habe er mit einem Mal keine Kraft mehr ihn hochzuhalten und sanft legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm, drückte vorsichtig zu. Er war eiskalt.
Sie nickte.
„Ich weiß, General. Und es ist wunderschön. Wie eh und je.“
Der Schnee glitzerte in der Sonne wie ein Meer aus Kristall und Diamant. Doch begann er hier und dort bereits zu schmelzen. Gnadenlos verwandelte die Sonne das Kristallmeer in nichts weiter als Matsch und Schlamm.
Sie schloss die Augen.
Und das war ihre Schuld. Das sollte der General nicht sehen.
„Ich bin müde“, flüsterte er mit heiserer Stimme und lehnte seinen Kopf an ihre schmale Schulter.
„So unsagbar müde.“
Sie legte ihren Kopf auf den seinen, die Augen noch immer fest geschlossen. Über ihren Köpfen knackten und raschelten die gefrorenen Äste, welche von der Sonne gewärmt wurden.
„Schau…“
Sie öffnete verwundert die Augen.
Der zitternde Finger in dem verdreckten Rest Handschuh deutete auf ein einzelnes kleines Schneeglöckchen, welches sich zu ihren Füßen aus dem Erdreich kämpfte.
Er lachte schwer und dumpf.
„Es wird wohl wirklich Zeit.“
Erneut das Geräusch brechender Eisschollen. Mühsam erhob sich der General. Wie sein Werk, fror auch er langsam ein.
Mit einer halbherzigen Geste klopfte er sich den Mantel ab, kleine Schneekaskaden stoben gen Himmel.
Ein melancholischer Ausdruck hatte sich auf sein verhärmtes Gesicht gelegt, als er sich zu ihr herabbeugte und einen sanften Kuss auf ihre Wange hauchte. Sein Bart kitzelte sie. Noch ehe sie etwas erwidern konnte, wandte er sich um, blähte noch ein letztes Mal die Schöße seines grauen Mantels.
Der Wind begann augenblicklich zu heulen und zu pfeifen. Schneeflocken wirbelten wie wild auf und ab und um ein Haar hätte es ihr den Blumenkranz vom Kopf gerissen.
Ein letztes Mal noch musste der General zeigen, was er konnte.
Sie lächelte schwach und sah der grauen Gestalt nach, wie sie sich durch den Schneesturm kämpfte und immer weiter im Rauschen der Flocken verschwand.
General Winter.
Oh, wie sie Fräulein Herbst beneidete. Wenn der schneidige General über das Land hinwegfegte, jung und wild, wie ein Husar. In seiner schillernden Uniform mit den leuchtenden Messingknöpfen in der Herbstsonne. Man hatte ihr so viel davon erzählt, wie General Winter in seiner Jugend war.
Zitternd schlang sie die Arme enger um ihren Körper und blickte der immer mehr verschwimmenden, einsamen Gestalt traurig nach. Sie kannte dies nur aus Erzählungen. General Winter war für sie stets nichts weiter als ein alter Mann. Grau und schmutzig und müde.
„Bis nächstes Jahr, Herr General!“, rief sie ihm noch hinterher, doch er hatte sie schon längst nicht mehr gehört. Seine Fußspuren wurden vom eisigen Wind hinfort gerissen.
Wie sehr sie sich doch wünschte, einmal länger mit ihm sprechen zu können. Mit einer hektischen Geste wischte sie sich über die Augen und blickte zu Boden.
Zu ihren Füßen begannen die Schneeglöckchen höher zu sprießen.