Es war einmal ein kleines Mädchen namens Marie. Weil sie sehr schüchtern war, fiel es ihr schwer, Freunde zu finden und so verbrachte sie die meiste Zeit damit, zurückgezogen zu lesen. Dabei war ihr egal, aus welcher Epoche ihre Lektüre stammte, sie gab sich mit allem zufrieden.
Eines Tages war Marie auf dem Weg zur Schule, als sie von einem fremden, älteren Herrn angesprochen wurde. „Sei gegrüßt, Marie!“ Marie erschrak und fragte sich im selben Moment, woher der Unbekannte ihren Namen wusste. Eingeschüchtert durch die vielen Narben, die sein Gesicht etwas verzerrt wirken ließen, stolperte sie rückwärts und fand sich auf dem Boden wieder, da die Straßen seit Wintereinbruch kalt und gefroren waren. Erneut hörte sie seine brüchige Stimme ihren Namen sagen. Als sie aufblickte, stand er direkt vor ihr. Mühsam rappelte sie sich auf und wischte Schnee von ihrer Kleidung. „Wer bist du? Und woher kennst du meinen Namen?“, fragte sie mit zitternder Stimme. Der Mann seufzte leise, ehe er erwiderte: „Du musst dich nicht vor mir fürchten, Marie, ich bin ein Freund. Ich heiße Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen und…“ Ein unkontrolliertes, amüsiertes Zucken um ihre Mundwinkel hinderte ihn daran, weiterzusprechen. Wer gab seinem Kind einen so furchtbaren Namen? Christoffel war wirklich ein merkwürdiger Name, den sie noch nie gehört zu haben glaubte. „Das erklärt immer noch nicht, woher du mich kennst und warum du mir aufgelauert hast! Ich muss in die Schule, ich habe keine Zeit für unscheinbare Fremde.“ Ihre Abfuhr schien ihn nicht im Geringsten zu überraschen oder gar zu verunsichern. Er lächelte noch immer. „Nun, Marie, wie du vielleicht schon an meinem Namen bemerkst hast, bin ich kein normaler Mann. Mein Leben ist schon lange vorbei, seit der Barockzeit, um genau zu sein, also seit mehr als 300 Jahren.“ Maries Augen wurden groß vor Überraschung. „Heißt das, du bist so etwas wie ein Geist? Aber warum besuchst du dann ausgerechnet mich?“ Unbehaglich nestelte sie an ihrem Ärmel. Sein stummes Nicken ließ einen Schauer über ihren Rücken fahren. „Nun, ich… Ich habe dich beobachtet Marie und…- Warte doch!“ Bei diesem Satz hatte ihr Fluchtinstinkt eingesetzt. Doch noch ehe sie die nächste Straßenecke erreicht hatte, stellte der Geist sich ihr in den Weg. „Habe ich nicht gesagt, dass ich ein Freund bin?“ Seine Stimme klang verärgert. „Ich wollte sagen, dass mir aufgefallen ist, dass du gerne liest und zwar auch Literatur! Dabei ist mir nicht entgangen, dass deine Mutter dir nicht helfen konnte, als du sie danach gefragt hast, warum das Sonett, dass du gestern Abend nicht verstanden hast, so negativ ist und warum jemand solche Gedichte schreibt.“ Marie starrte ihn mit offenem Mund an. Sie war sprachlos. Einerseits war es schmeichelhaft, dass er ihr nun weiterhelfen wollte, da ihre Eltern es nicht konnten, doch andererseits ekelte sie der Gedanke, solange von einem Fremden beobachtet worden zu sein. Er nutzte ihr Schweigen und fuhr ungerührt fort: „Weißt du, die Barockzeit war keine sonderlich schöne oder friedliche Epoche. Die Welt versank im Chaos, der Dreißigjährige Krieg tobte, so viele Menschen starben, lebten im Elend und litten – daher sehnten wir uns nach Rationalität, nach Ordnung, weswegen alles stilisiert oder auf eine Zahlenordnung herunter gebrochen wurde. Einerseits war der Barock sehr pompös, zumindest, wenn man zu den oberen Schichten gehörte, doch andererseits…“ Er brach ab. Seine Miene verdüsterte sich und er schien um Worte zu ringen, ehe er seinen Satz unvollendet ließ. „Nun ja. Menschen sind sowieso nichtig und vergänglich, die Welt ist eine Theaterbühne, der Schein ist wichtiger als die Wirklichkeit. Das Diesseits ist ohnehin nur eine Bewährungsprobe für das Jenseits, was wenig überraschend ist, wenn der Tod häufig erstrebenswerter als das Leben im Leid zu sein scheint...“ Bei seinen Worten schluckte Marie schwer. Sie konnte nicht umhin, als Mitleid für ihn zu empfinden. Er musterte sie und seine Miene hellte sich abrupt auf: „Doch das waren andere Zeiten, Marie, all das zählt nicht für dich! Du hast noch ein langes, schönes Leben vor dir, wenn du deine Zeit nur richtig zu nutzen vermagst. Also ergreife den Tag, Marie! Du bist noch jung. Nutze ihn!“ Mit diesen Worten löste er sich in Luft auf. Grübelnd setzte Marie ihren Weg zur Schule fort, musste jedoch noch den ganzen Tag über diese merkwürdige Begegnung nachdenken. Auf dem Heimweg hielt sie die ganze Zeit Ausschau nach Johann, doch er kam nicht wieder.
Stattdessen wurde sie von einem anderen Unbekannten angesprochen. Er sah gänzlich anders aus, trug eine weiße, gepuderte Perücke und ein maskenhaft geschminktes Gesicht. “Hallo Marie, du hast ja gerade schon Grimmelshausen kennen gelernt. Wie du hoffentlich weißt, bin ich Immanuel Kant, der berühmteste Philosoph der Aufklärung, wenn nicht sogar der Berühmteste überhaupt.” Sprachlos musterte Marie den neuen Geist. “Und welchen Tipp willst du mir geben?”, fragte Marie leicht überrumpelt. Abwertend sah der Geist auf sie herab. “Ich? Ich gebe keine Tipps. Ich sage dir, was du zu tun hast. Das ist doch der Sinn meines Besuches, der Sinn der ganzen Aufklärung. Der Mensch muss sich sittlich bessern. Du musst endlich aufwachen und erkennen, wie das Leben wirklich ist. Sicher, das menschliche Zusammenleben führt wahrhaftig zu Problemen, aber die vernunftorientierte Gesellschaft kann dies gewiss lösen. Sapere aude - Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.” Bevor Marie seine Worte vollständig erfasst hatte, geschweige denn antworten konnte, war Kant auch schon wieder weg.
Aber sie hatte auch keine weitere Gelegenheit, darüber nachzudenken, da an der Stelle, an der er verschwunden war, bereits zwei weitere Geister erschienen. Die Beiden schienen in einen heftigen Streit vertieft zu sein, denn sie beachteten Marie kaum. “Warum streitet ihr euch denn?”, fragte sie neugierig. Überrascht blickten die beiden auf, so als hätten sie sie vorher nicht bemerkt: “Oh, hallo, Marie... Um das zu verstehen, musst du erst einmal wissen, wer wir sind. Ich bin Friedrich von Schiller…” Und schon wurde er vom anderen unterbrochen. “Hör nicht darauf, was er dir sagt, ich bin Joseph von Eichendorff, Vertreter einer viel wichtigeren Epoche als der der Klassik. Autoren wie Schiller sind gefangen in der Vorstellung, dass jeglicher Inhalt hochgeistig sein müsse und alle Formen edel sein müssten. Er ist kleingeistig, da… ” Empört schnitt Schiller Eichendorff das Wort ab. “Na hör mal! Die Klassik sucht immerhin nach dem Sinn des Lebens und nach Gründen für das sittliche Zusammenleben. Wir, wir, streben nach der Harmonie, während die Romantik Schandflecke wie E. T. A. Hoffmann und dich hervorbrachte. Teufelspakte, Wahnsinn, Gespenster, Schuld, Tod, das ist ja lächerlich! Und dem gegenüber stehen dann Themen wie Gefühl, Leidenschaft, Individualität! Und das soll zur Heilung der Welt führen? Die Romantik ist lächerlich, richtet sich an das einfache Volk, hält dessen Verhalten sogar für natürlich! Kein Wunder, dass die Leute sich damals ins Private flüchteten und zur Vergangenheit hin wandten! Mein Gott, bin ich froh, dass ich damals schon tot war!” Eichendorff schnaubte erzürnt. “Ach, und die Klassik ist so viel besser? Ihr versucht eine Harmonie zwischen Gefühl und Verstand zu finden. Ihr trennt alles klar voneinander ab, seid phantasielos! Was du über die Romantik sagst, ist vollkommen unzureichend und oberflächlich! Immerhin enthalten bekannte Werke aus dieser Zeit explizite Gesellschaftskritik - denk nur an Heinrich Heines Wintermärchen! Die Klassik und ihre beschränkten Grenzen, diese feste Ordnung! Die Romantik hingegen strebt nach einer Universalpoesie, die Wissenschaft, Religion und Dichtung in sich vereint und dabei auch noch unterschiedliche Dichtungsgattungen kombiniert! Ihr hingegen, ihr typisiert alles, stellt möglichst objektiv dar, lasst zu viel, was nicht auf den ersten Blick klar ersichtlich ist auf sich beruhen - das ist doch beschränkt!” Ehe Schiller Eichendorff einen erhitzten Vorwurf entgegen schleudern konnte, mischte Marie sich zum ersten Mal in den Streit der beiden Geister vor ihr ein. “Seid doch mal still! Ich möchte etwas sagen”, meinte sie etwas genervt. Die Geister, die ihre Anwesenheit schon vergessen zu haben schienen, wandten sich ihr mit fragenden Blicken zu. “Vielleicht…”, begann Marie, “vielleicht ist es auch gar nicht sinnvoll, darüber zu streiten, welche Epoche besser ist. Die Romantik ist ja irgendwie eine Weiterentwicklung der Klassik und die Merkmale, die ihr genannt habt, sind so unterschiedlich, dass es vielleicht auch nicht sinnvoll ist, sie zu vergleichen... “ Marie wunderte sich selbst darüber, einen so geistreichen Kommentar von sich gegeben zu haben, ebenso wie die Geister, die ihre Worte erst einmal verinnerlichen mussten. “Hört ihr jetzt bitte auf zu streiten? Das ist doch sinnlos… Außerdem muss ich weiter. Es ist schon spät und ich muss jetzt schlafen” Der Tag war in der Tat sehr erschöpfend für Marie gewesen, auch wenn sie viel gelernt hatte, da sie die Geister berühmter Vertreter von vier verschiedenen Literaturepochen getroffen hatte. Schnell verabschiedete sie sich von Schiller und Eichendorff, ehe sie möglicherweise zu einer erneuten Tirade über die andere Literaturepoche ansetzten und ging nach Hause. Dort fiel sie erschöpft in ihr Bett und war beinahe sofort eingeschlafen. Sie träumte von den Geistern, die sie an diesem Tag getroffen hatte und ließ sich ihre Weisheiten - auch die für sie anfänglich unverständlichen von Kant - noch einmal durch den Kopf gehen.
In der Mitte des nächsten Vormittages, als Marie die gestrigen Erlebnisse beinahe schon für einen Traum hielt, wurde sie von einem älterem Mann mit Koteletten und einem gewaltigen Schnurbart besucht, dessen Kleidung nicht mehr in ihre Wirklichkeit zu passen schien. Er stellte sich ihr als Theodor Fontane vor. Marie wusste, dass sie schon einige seiner Werke in Bücherregalen gesehen hatte, doch sie wusste nicht mehr, welcher Epoche er zuzuordnen war, also fragte sie ihn danach. Etwas pikiert erklärte er ihr, dass er ein sehr bekannter Vertreter des Realismus sei. “Realismus? Heißt das, dass ein Erzähler alles möglichst realitätsnah beschreibt?”, fragte Marie ihn verwirrt. Fontane seufzte leise. “Nein. Das stimmt so nicht. Zuerst einmal soll der Erzähler nicht direkt erkennbar sein und es stimmt zwar, dass möglichst objektiv beschrieben wurde, doch das muss nicht gleich heißen, dass die Wirklichkeit nur plump beschrieben wird. Das Ziel ist, sie künstlerisch wiederzugeben. Dabei soll weder moralisiert noch räsoniert werden, doch der Realismus unterscheidet sich klar von der Realistischen Darstellung.” Überrascht warf Marie ein: “Oh, das habe ich die ganze Zeit falsch verstanden! Wie gut, dass du mir das erklärst! Was für ein Menschenbild hatte der Realismus denn?” Um Anerkennung für ihr Interesse beflissen sah Marie zu Fontane auf. Dieser fuhr ruhig fort: “Das ist eine kluge Frage. Eine Maxime in Anlehnung an Ludwig Feuerbach, Homo homini deus est, also der Mensch ist dem Menschen ein Gott, sollte genügen, um das Menschenbild zu verstehen. Außerdem ist es noch essentiell zu wissen, dass der Mensch eine sinnlose Existenz führt und seinem Schicksal machtlos gegenüber steht. Der Realismus beschreibt einen Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, wobei die Persönlichkeit wichtiger als die Gesellschaft ist. Verstehst du?” Marie nickte. “Anfangs war die Weltanschauung der Realismus-Autoren noch sehr optimistisch, mit der Zeit wurde sie jedoch immer pessimistischer. Schönheitsempfinden wird als subjektiv betrachtet. Man kann noch in drei Gattungen des Realismus teilen, genauer gesagt in den Realidealismus, den Poetischen Realismus und den Bürgerlichen Realismus. Doch das würde jetzt zu weit führen, oder?” Marie nickte heftig. Der Geist lächelte, nickte ihr ein letztes Mal zu und verschwand.
Sie seufzte leise. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass es so viele unterschiedliche Literaturepochen gab! Vor allem hätte sie niemals erwartet, dass es so interessant sein könnte, nachzuvollziehen wie mehrere Generationen versucht hatten, die perfekte Literatur zu kreieren, wie diese Epochen sich gegenseitig beeinflusst hatten und wie gegenteilig aufeinanderfolgende Literaturepochen teilweise waren. Wie schön, dass die Geister ausgerechnet sie besuchten, um ihr die Unterschiede zu erklären!
Als der nächste Geist vor Maries Augen erschien, erschrak sie nicht mehr. Inzwischen hatte sie etwas Übung darin, die Geister von den Lebenden zu unterscheiden. “Und wer bist du? Welche Literaturepoche willst du mir vorstellen?”, fragte sie den Mann mittleren Alters, dessen Kleidung schon stärker an die heutige Zeit erinnerte. “Ich bin Jakob van Hoddis und möchte dir etwas über den Expressionismus in der Literatur erzählen. Vielleicht kennst du ja mein Gedicht “Weltende” - es ist mein Bekanntestes. Du wirst erkennen, dass der Expressionismus die wichtigste Epoche ist, da er sich am stärksten von den anderen abhebt. Unsere Themen waren bedeutender als die der anderen! Subjektive, existentielle und gesellschaftsrelevante Themen kann man doch nicht mit Träumereien vergleichen, wie denen in der Romantik oder diesen grässlichen, rationalisierten Abhandlungen, die der Aufklärung entsprungen sind. Wenn wir nicht so antibürgerlich und antinationalistisch gedacht hätten, dann…” Ihm fiel wohl auf, dass er sich in Rage geredet hatte, denn er unterbrach sich und griff seinen vorangegangenen Satzfetzen nicht wieder auf. “Wir Expressionisten lehnen alle Arten des Denkens ab, die auf Logik und Erklärbarkeit basieren. Wir stellen innerlich gesehene Wahrheiten und Erlebnisse dar. Zudem haben wir die Probleme gesehen, die schön geredet wurden! Die Militarisierung, die damit verbundenen wirtschaftlichen Probleme und die politische Destabilisierung; die rücksichts- und morallose Gesellschaft; die Anonymität der Großstadt, die diktatorische Autorität der Unternehmer! Und sieh nur, wohin die Industrialisierung geführt hat!” Aufgebracht machte van Hoddis eine allumfassende Handbewegung. Marie seufzte leise. Sie wusste nicht so recht, was sie dazu sagen sollte. “Danke, dass du deine Gedanken mit mir geteilt hast. Das war sehr… informativ. Ich muss jetzt leider weiter…”
Gegen Ende des Tages, als Marie beinahe wieder zu Hause war, sah sie ein merkwürdiges Trio vor der Garage herumlungern. Ein Mann saß weinend in einer Ecke, zwei Andere standen relativ unbeteiligt daneben. Als sie näher kam, sah der Weinende nur kurz auf, schien dann jedoch wieder mit sich selbst beschäftigt zu sein. “Hallo, warum weinst du denn? Wer seid ihr?”, fragte sie unverblümt. Auch wenn einer der Männer sehr modern gekleidet war, glaubte sie, in den anderen beiden Geister zu erkennen. Das würde zumindest die etwas kränkliche, abgerissene Gestalt des Weinenden erklären. Der am altmodischsten Gekleidete seufzte leise. “Ich bin Thomas Mann, ein Schriftsteller der Moderne, er dort, Umberto Eco, vertritt die Postmoderne und damit quasi einen Bruder dieser Epoche und er dort drüben… Nun. Dieser junge Mann ist Wolfgang Borchert. Er ist nicht sehr alt geworden - wie du vielleicht weißt, hat sich dennoch einen Namen in der Nachkriegsliteratur gemacht. - Du musst dir keine Sorgen machen. Er tut das ständig…” Borchert hob kurz den Kopf, als sein Name fiel, schluchzte dann jedoch weiter. Derjenige, der ihr als Umberto Eco vorgestellt worden war, schnalzte missbilligend mit der Zunge. “Du musst ein bisschen mehr Verständnis für ihn haben. Immerhin hatte er ein schreckliches Leben, das er mittels dieser Literatur verarbeiten wollte, wie so viele Kriegsheimkehrer, ganz zu schweigen von denen, die nicht die Chance dazu hatten und aus dem Exil geschrieben haben. Ist es nicht verständlich, dass er seine Vergangenheit mit Texten bewältigen wollte, so dass die Geschichten autobiographische Züge annehmen? Ich meine, die Leute sind damals zwischen Trümmern aufgewachsen, zerstörte Ideale, Utopien, standen zwischen Leben und Tod… Wundert es dich dann wirklich, dass die Autoren extreme Situationen wie Armut, Not oder Zwang beschrieben? Sie mussten immerhin die NS-Diktatur verarbeiten, einige emigrierten innerlich sogar… Kein Wunder, dass sie sich die Frage nach dem Sinn des Lebens stellten” Borchert nickte zustimmend, ehe er weitere, herzzerreißende Schluchzer gemischt mit erstickten Satzfetzen, die weder an sie, noch die Geister gerichtet zu sein schienen, von sich gab. Marie betrachtete ihn mitleidig. Es war unwahrscheinlich, dass sie ihm helfen konnte, daher wandte sie sich an Thomas Mann. “Was ist denn der Unterschied zwischen der Moderne und der Postmoderne, wenn du die beiden als Geschwister bezeichnest? Ich verstehe das nicht so ganz…” Der Angesprochene lächelte. “Nun, die Moderne ist sehr schwer zu fassen, da sie auch sehr viel experimentelle Literatur umfasst. Das traditionelle Weltbild war erschüttert. So eine ereignisreiche Zeit… Auch wissenschaftliche Errungenschaften führten zum vollkommenen Verlust von diesen Werten. Es gab keinen prägenden Stil wie in vorangegangenen Epochen, vielmehr wurde daran gezweifelt, dass sich die Realität überhaupt mit Worten wiedergeben lässt. Kein Autor hat es wohl geschafft, dem gerecht zu werden, ganz besonders ich nicht…” Er wirkte traurig, ehe ihn Eco unterbrach. “Er tut das ständig. In keiner Epoche standen die Autoren ihren eigenen Werken so kritisch gegenüber wie in der der Moderne... Prägende Merkmale sind vielleicht vor allem Perspektivenwechsel, andere Ereignischronologien, da sie dem Erleben in Echtzeit nachempfunden sind und zudem eine starke Neigung dazu, subjektiv zu psychologisieren und zu reflektieren, außerdem trat die vermittelnde Erzählinstanz zurück. Die Weltbilder der Figuren waren häufig beschränkt….” Marie nickte. “Aha. Und die Postmoderne?” Eco schmunzelte. “Tja, das lässt sich leider ebenso wenig genau festlegen wie schon bei der Moderne. Es heißt Postmoderne weil alte Ideen und Ziele unter dem Aspekt etwas Neues zu erschaffen wieder aufgegriffen werden, aber das Ergebnis ist dabei dem Zufall überlassen. Der Leser selbst muss das Geschehen rekonstruieren, da sehr bruchstückhaft erzählt wird. Außerdem wird viel mit Intertextualität gearbeitet, das bedeutet, es werden Anspielungen auf Literatur, Geistesgeschichte und Historie gemacht. Der Mensch wird als Spielball des Weltgeschehens betrachtet, der eine sinnlose Existenz führt. Er kann sich persönlich nicht weiterentwickeln, weshalb keine Identifikation mit den Figuren möglich ist und ist fremdgesteuert und kontrolliert. Die aus der Aufklärung hervorgebrachte Vernunft wird wieder verworfen. Die Ursachen für die Entstehung dieser Literaturepoche waren ein Verlust der alten Ordnung, der Sicherheit und Geborgenheit nach dem zweiten Weltkrieg. Obwohl es sich um Unterhaltungsliteratur handelt, wird sehr viel Wert auf eine komplexe Handlung, ein hohes, sprachliches Niveau und eine differenzierte Charakterisierung der Figuren gelegt... “
Marie sah die Geister nachdenklich an und unterbrach Eco. “Warum erzählt ihr mir das eigentlich alles? Sicher, das ist interessant, aber…” Alle Geister, die Marie zuvor getroffen hatte, tauchten mit einem Mal auf und stellten sich in einem Kreis um sie herum auf. “Du musst uns helfen, Marie! Wir sind auf der Suche nach der perfekten Literaturepoche. Welche gefällt dir denn am Besten?” Sie kaute auf ihrer Unterlippe, sah die Geister nacheinander und rief sich jeweils in Erinnerung, was sie ihr erzählt hatten. “Aber das ist doch unsinnig… Es gibt keine perfekte Literaturepoche, weil jede in ihrem historischen Kontext interpretiert werden muss und sie sich zu sehr unterscheiden, um miteinander gleichgesetzt werden zu können….” Stimmengewirr brach aus, die Geister schienen alle gleichzeitig zu sprechen, so dass Marie keine einzelnen Stimmen herauszuhören vermochte. Die darauffolgende Stille brach ebenso plötzlich herein. Ein Wortführer, den Marie nicht ausmachen konnte, bedankte sich im Namen aller anderen Literaturepochen für ihren Standpunkt. Einige der Geister lächelten ihr zum Abschied noch zu, andere hoben zum Gruß die Hand, dann lösten sie sich in Luft auf. Was für ein seltsames Erlebnis.