Es war, als wäre die Farbe aus Kaèls Welt geblutet, und zurück blieb nur Leere. Jedes erzwungene Lächeln, jeder Hauch von Normalität kostete ihn Kraft.
Zum ›Glück‹ fiel seine Niedergeschlagenheit nicht sonderlich auf, am Schloss herrschte Ausnahmezustand. Jeden Abend gab es eine Zusammenkunft, bei der sie der ermordeten Wachen gedachten. Kaèl nahm daran teil, aber er wagte kaum, in die Gesichter der Familien von Bendix’ Opfern zu blicken. Er fühlte sich schuldig.
Jeden Tag besuchten Akàri und er Myriam, aber ihr Zustand blieb unverändert. Sie lag im Koma und es war unklar, ob sie je wieder daraus erwachte.
Am dritten Morgen nach dem Überfall verabschiedete Kaèl sich von Nyòko und Hiròki. Er war zwiegespalten darüber, dass sie fuhren, einerseits lenkten sie ihn ab, und vielleicht hätte er in einer ruhigen Minute mit Nyòko über seine Trennung sprechen können, aber so kurz nach dem Überfall fürchtete er, dass sie einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen sah. Und so war es anstrengend, die Maske vor ihnen zu wahren.
Als sie fort waren, ließ er sich gehen. Er schützte eine Erkrankung vor und verbrachte Tage im Bett, mit zugezogenen Vorhängen.
Er wartete, er wusste selbst nicht worauf.
Vielleicht auf einen Brief von Bendix, mit einer Entschuldigung. Aber Bendix meldete sich nicht, obwohl er es im Gegensatz zu damals, als Kaèl ähnlich verzweifelt gewartet hatte, hätte tun können. Kaèl selbst hatte es ihm beigebracht, er hatte Stunden damit zugebracht, sich neue Übungen für Bendix auszudenken und seine ungelenken Kritzeleien zu korrigieren.
Merkwürdigerweise hatte ihm das Freude bereitet, wie fast alles, was sie gemeinsam unternommen hatten. Er hatte sich ja sogar zum Kräutersammeln im Wald hinreißen lassen, obwohl es mühsam war, ständig in die Knie zu gehen, um Bärlauch, Spitzwegerich oder Oregano abzuschneiden. Eine Handvoll Roben hatte er ruiniert, weil er in irgendwelchen Dornen hängengeblieben war, oder den Saum durch den Matsch hatte schleifen lassen. Aber Bendix’ Augen hatten immer gestrahlt, wenn sie mit einem gut gefüllten Körbchen zurückkehrten, und die nächsten Tage hatte die ganze Hütte nach Kräutern geduftet, und Bendix hatte ihnen selbstgebackenes Brot mit Kräuterquark aufgetischt.
Beim Sammeln hatte er immer theatralisch gejammert, um Bendix zu necken, aber jetzt vermisste er es. Aber er konnte sowieso nicht mehr unterscheiden, welche Dinge er von Grund auf mochte und welche erst, seit er Bendix kannte. Es war, als wüsste er nicht mehr, was er eigentlich war, dadurch fühlte sich alles vergiftet an.
Es klopfte, und Mister Taryòn öffnete die Tür einen Spalt breit. Er verneigte sich.
»Ich wünsche keine Störung«, krächzte Kaèl. Er zog die Decke bis zu seinem Kinn.
»Ich weiß.« Mister Taryòn seufzte. »Ich wollte nur eine heiße Schokolade vorbeibringen. Ist Ihnen das recht?«
Kaèl nickte zögerlich, und Mister Taryòn stellte die Tasse auf seinem Nachttisch ab. Er trat zu den schweren Samtvorhängen und zog sie mit einem Ruck beiseite.
Sterne tanzten auf Kaèls Iris, er kniff die Augen zusammen.
Mister Taryòn zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Unter anderen Umständen hätte Kaèl ihn hochkant für diese Grenzüberschreitung herausgeworfen, aber er war gerade verzweifelt genug, sich darauf einzulassen, also setzte er sich kommentarlos auf und griff nach seiner Tasse. Warme, angenehme Schärfe füllte seinen Mund, Mister Taryòn hatte Chiliflocken auf die Crema gestreut. Die Schokolade selbst war schaumig und süßlich-bitter, so wie er es mochte.
Mister Taryòn wirkte einen Stillezauber um sie herum. Seine ruhigen Augen fixierten Kaèl. »Emma und ich wollten Ihnen sagen, dass es uns sehr leidtut, was passiert ist.«
Zum ersten Mal bemerkte Kaèl, wie viele Lachfältchen er hatte. Wenn er nicht gerade Dienst hatte, lachte Mister Taryòn wohl oft.
Kein Wunder, er lebt ja auch mit zwei Menschen zusammen, die ihn lieben, dachte Kaèl neidisch.
»Werden Sie noch einmal mit ihm sprechen?«, hob Mister Taryòn wieder an.
Kaèl schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, dass Bendix das will. Ich war wütend und habe ihm Lügen an den Kopf geworfen, um ihn zu verletzen.« Er atmete tief durch. »Wahrscheinlich ist es besser so. Das, was er getan hat, ist unverzeihlich, und ich kann es mir nicht erlauben, schwach zu werden.«
»Damit haben Sie wohl recht, Mylord.« Mister Taryòn senkte den Blick auf seine im Schoß abgelegten Hände. »Wissen Sie, aber vielleicht nehmen Sie auf lange Sicht doch etwas Positives davon mit. Sie wissen jetzt, wie sich Liebe anfühlt. Vielleicht –«
»Ich wünschte, ich würde nichts mehr fühlen«, knurrte Kaèl. »Ich würde am liebsten einfach vergessen, Bendix, und all das, was wir erlebt haben. Dann könnte ich wieder der sein, der ich vor einem Jahr war. Damals war ich gern allein.«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie damals sonderlich glücklich waren«, bemerkte Mister Taryòn.
»Dann vergreife ich mich eben an den Opiumvorräten meines Vaters«, sagte Kaèl patzig.
Mister Taryòn erhob sich. »Davon würde ich Sie persönlich abhalten, Mylord.« Er stellte die leere Tasse aufs Tablett. »Übrigens ist ein Brief für Sie angekommen.«
»Von Bendix?«, entfuhr es Kaèl, aber Mister Taryòn schüttelte den Kopf. »Von der Kronprinzessin.« Er reichte Kaèl das Kuvert, verbeugte sich und verließ das Schlafgemach.
Nyòko ersuchte ihn um ein Gespräch am frühen Abend. Es war seltsam, dass sie ihm so förmlich schrieb, meist versuchte sie, ihn direkt zu erreichen.
Zur vereinbarten Zeit wirkte er den Hologrammzauber, und erschrak. Nyòkos Gesicht war verweint. »Was ist los?«, fragte er.
Sie schniefte. »Ich halte es nicht aus. Vater hat Hiròki herausgeworfen.«
»Er hat was?«
»Ich habe ihm alles erzählt, und dann ist er durchgedreht.«
»Oh nein!«
Sie schluchzte, und Kaèl sah ihr hilflos dabei zu. Er hätte ihr gern irgendetwas gesagt um den Schmerz zu lindern, aber sein Hirn war darauf ausgerichtet, Lösungen für Probleme zu finden, keine mitfühlenden Worte. Er hatte das früher immer als ›Stärke‹ interpretiert, aber gerade half das wenig.
»Ich weiß, was du gleich sagst«, sie schniefte. »Ich hätte auf deinen Rat hören sollen, und Vater nicht verraten dürfen, dass es Hiròki ist.«
»Nein!«, rief er. »Nein … das denke ich nicht. Es war mutig und gut, dass du versucht hast, mit ihm zu sprechen.«
Er war überhaupt nicht in der Position, ihr Vorwürfe zu machen. Jede vernünftige Person hätte ihm davon abgeraten, eine Beziehung mit dem Hexenjäger zu beginnen, aber hätte er auf sie gehört? Niemals.
War es ein Fehler gewesen?
Konnte etwas ein Fehler sein, das sich so richtig anfühlte?
Er drängte den Gedanken fort. »Kann ich dir irgendwie helfen?«
Außer herumzudrucksen und keine tröstlichen Worte zu finden.
Sie rieb sich mit beiden Händen die Augen, schüttelte den Kopf. »Ich … fahre übermorgen zu Iònatan. Vielleicht fällt ihm noch etwas ein.«
»Nach Mistivale? Ist das nicht zu gefährlich?«
Mistivale lag an der Grenze zu Dinstermor. Die Menschen des Grenzlandes waren den Magi nicht gerade freundlich gesonnen, und die Zeitungen waren voll von Schreckensnachrichten über überfallene Kutschen oder abgebrannte Dörfer.
»Du redest wie meine Eltern!« Sie machte eine verächtliche Geste. »Aber das lasse ich mir nicht ausreden. Ich sitze seit zwei Jahren in Ryumàr fest, ich darf nicht studieren, was mir gefällt, weil ich von Mutter in die verdammten Geschäfte eingeführt werden muss, ich darf nicht lieben, wen ich will, weil es nicht standesgemäß ist. Es macht mich so wütend!«
»Du … darfst nicht studieren, was du willst?«, fragte er ungläubig.
Nyòko warf ihm einen langen Blick zu. »Denkst du, ich habe neben all den Ratssitzungen Zeit für ein Studium?«
»Das … war mir nie in den Sinn gekommen.« Er senkte den Kopf.
Er hatte studieren dürfen, was er wollte und so lange, wie er wollte. Daher hatte er naiv geschlossen, dass dies für alle Adeligen galt, und die, die es nicht taten, einfach zu träge oder indifferent waren.
Auf einmal schämte er sich für all die Momente, in denen er Nyòko mit seinen akademischen Glanzleistungen genervt hatte. Wahrscheinlich hatte er ihr damit ihren Verlust nur noch deutlicher unter die Nase gerieben. Dabei hätte er es wissen können, was bei ihr los war, wenn er sie nur einmal danach gefragt hätte.
Es gab eine unangenehme Pause, in der er fieberhaft nach etwas Versöhnlichem suchte, was er ihr sagen konnte.
»Biete deinen Eltern doch einen Handel an«, sagte er schließlich, »du heiratest mich, aber unter der Bedingung, dass Hiròki wieder dein Kammerdiener wird. Sie werden verstehen, worauf das hinausläuft, aber sie werden damit zufrieden sein müssen, dass du pro forma eine vorteilhafte Bindung eingehst.«
Sie runzelte die Stirn. »Aber so eine Ehe bedeutet dennoch, das wir–«
»Wir hätten natürlich alles getrennt«, sagte er schnell. »Schlafzimmer, persönliche Räume, und so weiter. Ich habe sowieso kein Interesse an eigenen Kindern.«
»Bei allen Drachen, Kaèl, selbst wenn meine Eltern diesem Arrangement zustimmen, wir leben quasi auf dem Präsentierteller. Der Hofstaat, das Volk, alle werden uns auf Schritt und Tritt verfolgen. Es ist anstrengend, auf Dauer eine Lüge zu leben.«
»Denkst du, das ist mir nicht bewusst?« Er lachte bitter. »Aber fällt dir etwas Besseres ein?«
»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Ich weiß gerade gar nichts mehr.« Sie runzelte die Stirn. »Aber was ist mit Bendix? Hast du das diesmal mit ihm geklärt?«
Die Frage traf Kaèl unerwartet hart. Er krallte seine Hände in die Falte seines Gewandes. »Nein«, sagte er wie betäubt. »Bendix und ich … wir sind …« Er brachte die Worte nicht über die Lippen, er konnte kaum atmen.
»Getrennt?«, fragte sie.
Als er nickte, schlug ihr Gesichtsausdruck in Bestürzung um. »Aber Kaèl! Seit wann?«
Er konnte nicht antworten, er war zu sehr damit beschäftigt, nicht in Tränen auszubrechen. Also zuckte er nur auf nichtssagende und infantile Weise mit den Schultern.
»Deshalb siehst du so merkwürdig aus.«
Was meinte sie?
Kaèl blickte an sich herunter. Ja, er hatte ein paar Tage nicht gebadet, trug einen Morgenmantel und seine Haare waren unfrisiert, aber …
»Wieso hast du nichts gesagt?«, riss sie ihn aus seinen Überlegungen.
Er atmete tief ein, aber die Enge in seiner Brust wollte nicht weichen. Seine Stimme klang viel zu rau, als er endlich eine Antwort herausquetschte: »Es wird so real, wenn ich darüber spreche.«
»Das verstehe ich.« Sie lächelte traurig. »Aber irgendwann musst du dich den Problemen stellen. Denkst du, dass ihr vielleicht irgendwann doch wieder –«
»Nein!«, sagte er entschieden.
Sie seufzte. »Ach, Kaèl. Wir sollten uns bald wiedersehen. Und dann machen wir irgendetwas, das uns auf andere Gedanken bringt! Was hältst du davon?«
Das ist nicht nötig, wollte er reflexartig sagen. Aber sein Körper verriet ihn, seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ja bitte«, sagte er mit brüchiger Stimme. Auf einmal fühlte er sich klein.
»Dann besuche ich dich, sobald ich von Iònatan zurück bin!«
Kaèl war es unbegreiflich, wie sie es schaffte, so optimistisch zu klingen. Er hingegen fühlte sich zu niedergeschlagen, das Bett zu verlassen oder auch nur die Kleidung zu wechseln. Auf einmal schämte er sich vor ihr. »Danke«, sagte er leise.
»Da nicht für. Je länger ich fort von hier bin, desto besser! Aber die nächsten zwei Wochen bleibe ich bei Iònatan.«
»Ich hoffe, er kann dich etwas ablenken«, sagte er. »Und bitte, pass auf dich auf.«
»Keine Sorge, ich reise inkognito. Der ganze Trubel um meine Person ist mir zuwider.«
Als sie sich verabschiedet hatten, lief Kaèl langsame Achten durch seinen Salon. Es war tröstlich, zu wissen, dass es jemanden gab, dem seine Gefühle nicht egal waren. Vielleicht würde er irgendwann den Mut aufbringen und ihr erzählen, wer Bendix wirklich war. Er war der Lügen so müde.
oOOo
Am nächsten Morgen nahm Kaèl zum ersten Mal seit Tagen wieder ein ausgiebiges Bad. Danach ließ er sich von Mister Taryòn frisieren und in eines seiner schönsten Gewänder kleiden.
Schließlich brachte es nichts, sich für immer im Bett zu verstecken, er musste die Zähne zusammenzubeißen und weitermachen.
Noch vor einem Jahr hatte es keinen Bendix in seinem Leben gegeben, und er war trotzdem nicht einsam gewesen. Er hatte nicht jede Nacht wachgelegen, und sich in Bendix’ Arme gesehnt. Wieso war es jetzt so schwierig?
Damals hatte er sich auf andere Themen fokussiert, und genau das würde er wieder tun!
Also stürzte er sich in die Arbeit. Er nahm an Ausschusssitzungen der Ultimyr-Akademie teil, reiste durch die Dörfer, besuchte Schulen und hielt regen Austausch mit den Lehrkräften, um hier und da Änderungen in den Lehrplan einzufügen.
Meist war er von morgens früh bis abends spät auf den Beinen. Er konnte nicht behaupten, dass er sich sonderlich gut fühlte, aber wenigstens gingen so die Tage schneller herum. Und das war wichtig, seine verbleibende Lebenszeit erstreckte sich wie eine dunkelgraue Unendlichkeit vor ihm, er konnte kaum atmen, wenn er daran dachte.
Er fühlte sich wund. Es wunderte ihn, dass alle anderen nicht zu merken schienen, wie traurig er war, aber er schien sie durch seine Arbeitsamkeit effektiv zu blenden.
Mehrmals täglich stieg er in die Kutsche und starrte aus dem Fenster, aber nie lauerte Bendix ihm auf. Er beobachtete ihn auch nicht heimlich, auch wenn Kaèl ständig das Gefühl hatte, dass er in seiner Nähe war.
Wenigstens verbuchte er durch seine Beharrlichkeit ein paar Erfolge. In einer Sitzung des Kulturrats, in der Kaèl Aufsätze der Grundschüler herumreichte, ließ sich das Froschgesicht wahrhaftig dazu herab, zuzugeben, dass auch Menschen lernfähig waren. »Aber ich hatte ja auch nie anderes behauptet«, fügte er mit grimmiger Miene hinzu.
Das muss ich Bendix erzählen, dachte Kaèl amüsiert, aber dann fiel es ihm ein: Er konnte es Bendix nicht erzählen, sie waren nicht mehr zusammen.
Früher hatte Kaèl ihm immer die Ratssitzungen mit verstellten Stimmen zum Besten gegeben, und Bendix hatte darüber gelacht, manchmal sogar Tränen. Damit hatte er Kaèl immer mitgerissen, und der gesamte aufgestaute Ärger hatte sich verflüchtigt.
Die Ratssitzungen waren allein dadurch interessanter geworden, dass er sich vorgestellt hatte, was er Bendix davon erzählen würde.
Vielleicht sollte er nach der Sitzung einen Umweg über den Silberwald machen. Nur einmal schauen, ob Bendix zuhause war. Sein Gesicht sehen. Seine Stimme hören, wenn er mit den Eichhörnchen sprach.
Aber natürlich widerstand er der Versuchung, und fuhr auf dem direkten Weg heim.
»Myriam ist aufgewacht«, sagte sein Vater, als er in den Salon trat.
»Wie geht es ihr?«, hauchte Kaèl.
»Wieso findest du es nicht selbst heraus?«, fragte Akàri. Sie lächelte. »Sie kann bereits Besuch empfangen und wird sich freuen, dich zu sehen.«
Kaèl brachte ihr einen Topf mit Löwenmäulchen mit. Er stellte ihn auf den Tisch neben ihrem Bett, ohne Myriam direkt anzusehen. Er war unsicher, was er denken oder fühlen sollte. Er freute sich, dass sie noch lebte, aber zu der Freude mischten sich Zweifel, nagten an seiner Selbstsicherheit.
»Seit wann magst du Blumen?« Myriams Stimme klang brüchig.
Er zwang sich, zu ihr zu schauen. Sie saß aufrecht, auf einen Berg Kissen gestützt. Ihre Wangen hatten wieder etwas Farbe angenommen und zum ersten Mal trug sie etwas anderes, als den grauen Krankenkittel. Vor allem aber lächelte sie.
Folterknecht.
Irritiert schloss Kaèl die Augen. Als er sie wieder öffnete, setzte er ein Lächeln auf. »Das ist eine lange Geschichte.« Er rückte den Sessel ans Bett und setzte sich zu ihr. »Was sagt die Heilerin?«
»Dass ich ungeheures Glück gehabt habe. Sie war überrascht, dass ich nach dem Schlag auf den Kopf überhaupt noch sprechen kann.«
»Mutter und ich haben uns schreckliche Sorgen gemacht.«
Sie griff nach seiner Hand. »Zieh nicht so ein Gesicht. Ich lebe noch.«
Ihre Hand war rau und faltig, aber sie war warm und es war gut, das Leben darin pulsieren zu fühlen. Kaèl drückte sie sanft. »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass das passiert ist. Es tut mir so leid.«
»Ach was, du kannst doch nichts dafür.« Sie lächelte schief. »Außerdem ist es ja auch irgendwie eine Ehre. Ich bin die Erste, die einen Angriff des Hexenjägers überlebt hat.«
Das ging ihm jetzt doch gegen den Strich, aber er unterdrückte den Drang, sie zu korrigieren, und nickte nur brav.
»Es war surreal«, sagte sie. »In natura wirkt er so anders als auf den Phantombildern. So viel … jünger. Und auch weniger … grimmig. Ich sollte seine Bilder abändern lassen, so erkennt ihn ja niemand.«
»So?«, sagte Kaèl. Er versuchte, nicht zu interessiert zu klingen, aber alle seine Nervenfasern waren angespannt.
»Es war alles so merkwürdig. Anfangs hat er nicht einmal versucht, uns zu töten, erst als wir das Mädchen attackiert haben, hat er zugeschlagen. Sie muss ihm wichtig gewesen sein. Ob sie seine Geliebte ist?« Myriam runzelte die Stirn. »Es ist schade, dass ich keine Gelegenheit hatte, sie zu verhören.«
Kaèl lief es kalt den Rücken herunter. Das Verhör wollte er sich nicht vorstellen. »Er hat euch erst angegriffen, als sie in Gefahr war?«
»Ja. Ich glaube nicht, dass wir sein Ziel waren.« Sie schloss die Augen. »Aber als er dann gekämpft hat … es war unglaublich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Mensch so kämpfen kann. Er war gefühlt überall, ist von einer Ecke zur nächsten gesprungen.« Myriam öffnete die Augen wieder und blickte zu Kaèl. »Der Kerl ist eine Naturgewalt.«
»Ja, das ist er«, sagte Kaèl mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.
…
… Stolz?
Er war stolz darauf, wie versiert sein Exfreund vier Leute ermordet hatte?
Wie tief war er gesunken?
Er zuckte zusammen, als er Myriams verwirrten Blick bemerkte. »Zumindest ist es das, was ich gelesen habe«, sagte er hastig. »Aber lass uns über etwas anderes sprechen. Darfst du schon lesen? Ich habe dir ein Buch mitgebracht.«
Eine halbe Stunde später trottete Kaèl zurück in seine Gemächer. Was sollte er von Myriam halten? Er wusste es nicht. Sie hatten eine angenehme Zeit miteinander verbracht, ihnen ging ja nie der Gesprächsstoff aus, aber er hatte die Zweifel nicht fortdrängen können. Er fühlte sich schuldig.
Und dann die Sache mit Bendix … Er verstand sich selbst nicht mehr. Vor Kurzem hatte er noch mit dem Gedanken gespielt, zu Bendix zu fahren, um …
… ja, um was eigentlich?
Eine Aussprache mit ihm zu suchen? Bendix um Verzeihung zu bitten?
Was auch immer er gewollt hatte, es war falsch, das war ihm auf den Gedenkwachen für die Opfer klar geworden. Egal, wie gut und richtig es sich anfühlte, bei Bendix zu sein, er musste es sich aus dem Herzen schneiden. Bendix hatte ihm durch seine Tat gezeigt, dass jeglicher Gedanke an eine gemeinsame Zukunft nichtig war. Und mehr als das, durch ihren Streit war herausgekommen, was Bendix wirklich von ihm hielt.
Verwöhntes, ignorantes Prinzchen.
Es war ungerecht. Kaèl hatte so hart gearbeitet, um Erzmagi zu werden, und die letzten Monate hatte er dafür gekämpft, das Leben der Dorfleute zu verbessern! Er war weder verwöhnt noch ignorant!
Kaèl ließ sich aufs Bett sinken. Seine Hand tastete nach dem Stück Pergament zwischen den Buchdeckeln.
Bendix’ Phantombild.
Jede Nacht hatte er es betrachtet.
Zusammengefaltet wie es war, ließ er es in die Luft schweben. Er brachte es nicht über sich, einen letzten Blick darauf zu werfen, aus Angst, dann schwach zu werden. Mit einer zackigen Handbewegung setzte er es in Brand und beobachtete, wie es sich in den Flammen wellte. Es knisterte.
Sanft rieselte die Asche zu Boden, bis die letzte Spur von Bendix aus seinem Leben getilgt war.
oOOo
Nach der wöchentlichen Ratssitzung der Ultimyr-Akademie begleitete ihn Madame Tanàka zu den Kutschen. Sie war ihm in den vorherigen Sitzungen schon aufgefallen, eine selbstbewusste Elbin, vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als er, die es in ihrem jungen Alter bereits geschafft hatte, Dozentin und Mitglied des Rats zu werden.
Als sie sich an der Tür trennen wollten, tippte sie ihn auf die Schulter. »Wollen wir noch etwas trinken?« Ihre grünen Augen blitzten.
»Warum nicht«, erwiderte er lächelnd.
Es war ein angenehmer Frühsommertag. Die Sonne lachte, war aber auch nicht zu stechend, und die Kolibris flogen geschäftig umher.
»Zufällig kenne ich ein ganz wundervolles kleines Schankhaus in einer ruhigen Gasse.«
Sie nickte zufrieden, und gemeinsam flanierten sie am Fluss entlang, der von Kirschbäumen gesäumt war. Hin und wieder warf er ihr verstohlene Blicke zu. Sie war attraktiv, mit üppigen Kurven und ihre langen, haselnussbraunen Haare wellten sich über ihre Schultern. Ihre Familie stammte aus dem Landadel, hatte aber Einfluss und Geld, vielleicht wäre sie sogar jemand gewesen, den er seinen Eltern hätte vorstellen können.
Jetzt, wo er als Nyòkos Verlobter galt, ging das natürlich nicht, aber das Schankhaus kannte er gut, es lag abgeschieden und die Besitzer*innen behandelten derlei Dinge diskret.
Sie bogen in eine Seitengasse ab und liefen durch die blumenbehangenen Arkaden. Wie oft hatte er davon fantasiert, so offen mit Bendix durch die Straßen laufen zu können?
Aber dafür hätte er sich nicht in den Hexenjäger verlieben dürfen.
Sie nahmen auf den blaulackierten Stühlen Platz und bestellten sich Törtchen und Tee.
Es ist mein gutes Recht, Spaß zu haben, dachte er, während er beobachtete, wie sie lasziv eine Haarsträhne um die Finger wickelte. Wer wusste, was Bendix gerade machte. Vielleicht hatte er sich bereits über Kaèl hinweggetröstet. Vielleicht mit Kasimir. Der schien ja kein Problem mit Bendix’ Taten zu haben.
Das Bestellte wurde geliefert. Ganz der Etikette entsprechend stocherte sie gelangweilt, beinahe lustlos in ihrem Aprikosen-Baisertörtchen herum.
»Schmeckt es Ihnen nicht?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist eben Kuchen.«
Irritiert blickte Kaèl beiseite. Es war ein tadelloses Törtchen, es gab nichts daran zu beanstanden. Wieso verdammt, glaubten diese ganzen Leute eigentlich, sie würden interessanter, wenn sie Desinteresse heuchelten?
Bendix gönnte sich fast nie etwas, aber als Kaèl ihm einmal ein Stück Regenbogentorte vorbeigebracht hatte, war er aus dem Häuschen gewesen. Den ganzen Tag hatte er von nichts anderem geredet, und immer wieder einen Löffel probiert, weil er sich nicht traute, das ganze Stück auf einmal zu essen, weil es ›so edel‹ war.
Auf einmal erfasste ihn eine unvermittelte Traurigkeit. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er und erhob sich, ohne ihre Antwort abzuwarten.
Zurück in der Kutsche schalt er sich für seine Reaktion. Wieso hatte er es nicht zumindest versucht? Nur weil ihm nicht gefiel, wie sie ihren Kuchen aß? Er schüttelte über sich selbst den Kopf. So eine Gelegenheit hätte er sich doch früher nicht entgehen lassen!
Bendix wollte ihn nicht mehr sehen, und Kaèl sollte froh darum sein. Diese gesamte Geheimniskrämerei, die vielen Gefühle und wirren Empfindungen, das alles erdrückte ihn nur. Es war Zeit für etwas Neues!
Er musste sich auf die positiven Seiten fokussieren, jetzt konnte er wieder hemmungslos mit allen ins Bett springen, die er begehrte, Bendix war schließlich nicht die einzig interessante Person auf dieser Welt!
Zuhause angekommen, schritt er in den Salon. Dort saß Akàri zusammengesunken im großen Ledersessel.
»Ich war heute bei der Ratssitzung der Ultimyr-Akademie«, erzählte er. »Ab nächstem Semester werden dort verpflichtende Ethik-Seminare eingeführt, und rate einmal, wer sie hält?« Er strahlte.
Akàri starrte wortlos in den Kamin, warum auch immer, nicht einmal ein Feuer brannte darin.
»Ich!«, beantwortete er seine eigene Frage. »Natürlich habe ich zunächst gezögert, da ich für das nächste Halbjahr viel vorhabe, aber nach genauerer Betrachtung dieser Deppen, die den Rat ausmachen, konnte ich nicht anders, als mich selbst für den Posten vorzuschlagen.«
Außerdem hatte er so ausgiebig Gelegenheit, mit Madame Tanàka zusammenzuarbeiten. Ein Grinsen zuckte an seinen Mundwinkeln. Dann konnte er bestimmt seinen Rückzieher von heute Nachmittag wieder wettmachen. »Nur eine einzige Person dort«, plapperte er weiter, »scheint auch nur annähernd …«
Er runzelte die Stirn. Akàri schenkte ihm keine Beachtung, dabei ging es auch um ein für sie relevantes Thema. Die Ultimyr-Akademie war das akademische Flaggschiff Fukuòkas, wenn nicht ganz Finistères und es sollte sie, verdammt noch mal, interessieren, dass das so bliebe.
»Mutter«, sagte er. »Hörst du mir überhaupt zu?«
Akàri hob den Kopf. Ihr Gesicht war seltsam starr. Sie blickte zu ihm, blickte durch ihn hindurch.
Ihr Schweigen machte ihm Angst. Er trat einen Schritt zurück, seine Finger umschlossen die Sessellehne. Weiches Leder.
»Ludòiku hat geschrieben«, sagte sie endlich. Ihre Stimme zitterte. »Nyòko wurde ermordet.«