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Nach dem Prompt „Ren/Hirsch“ der Gruppe „Crikey!“
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Im Sommer, wenn das Eis für wenige Monate taute und die Gräser und Sträucher durch die weiße Decke brachen, fand das Fest der Ihalaia statt. Raija mochte diese Zeit, wenn die Hütten allesamt geschmückt wurden und die Magier sich daran machten, die Ernte zu erweitern. Doch dieses Jahr war sie ausgesprochen nervös, denn im Fest sollte sie dieses Mal die Rolle der Göttin übernehmen.
Das machte ihr viel Angst. Was, wenn sie die traditionellen Schritte vergessen würde? Oder wenn etwas schiefginge? Nicht nur, dass sie sich als erste Tänzerin vor dem gesamten Dorf blamieren würde, vielleicht wäre die Göttin sogar erzürnt und würde ihnen keine Ernte schenken!
Sie hatte viel trainiert, doch sie fühlte sich immer noch nicht bereit, die Macht und Eleganz auszustrahlen, die von der Göttin der Pflanzen erwartet wurde.
Entsprechend unglücklich stand sie nun im Zelt, während die Priesterin ihr die Ketten aus Tierzähnen um Hals, Handgelenke und Füße legte. Raija trug nichts und auf ihren Körper wurden mit schwarzer Farbe die Linien angebracht, sowie die Zeichnung von Ihalaias Dolch auf ihrer Brust.
"Du hast Angst, Kind", stellte die Priesterin fest, als Raija nicht nur wegen der Kälte zitterte.
"Ja", sag sie zu. "Was, wenn ich etwas falsch mache? Wenn ich stolpere oder ...?"
"Das wirst du nicht", widersprach die Priesterin und hob die Hand, um Raijas Sorgen zu stoppen. "Du wirst tanzen."
"Aber ich ..."
"Heute Nacht bist du keine gewöhnliche Elfe. Du bist nicht länger Raija. Du bist Ihalaia, unsere geliebte Göttin der Jagd und des Lebens."
Damit setzte die alte Elbin mit dem Daumen den letzten Farbpunkt auf Raijas Stirn und schickte sie dann hinaus.
Die Fackeln auf dem Tanzplatz waren entzündet und schmolzen den Schnee. Die Trommeln und Flöten riefen und alle Blicke richteten sich auf Raija, als sie hinaustrat und den Tanz der Göttin begann.
Mit einem Mal saß jeder Schritt. Sie bewegte sich und spürte, dass die Bewegungen dem Lauf des Jahres folgten, dem Erblühen und Verwelken und wieder Blühen. War es die gleiche Pflanze, die blühte, oder eine neue? Die Grenze zwischen individuellen Wesen verschwamm und Raija begriff, dass eine Blume gleichzeitig sie selbst und jede Blume vor ihr war. So, wie Raija nicht nur sie selbst, sondern auch jede Tänzerin vor ihr war, bis zurück zur ersten Tänzerin, Ihalaia, die diesen Tanz begründet hatte.
Atemlos wirbelte und sprang sie über den Platz, bestaunt von den Dorfbewohnern, vollkommen gefangen in einer Art Trance, als sie einen Schatten auf den fernen Hügeln bemerkte. Dort stand ein gehörntes Tier, ein wildes, schwarzes Rentier, und beobachtete das Fest der Elfen.
Raija lächelte. Ihalaias Reittier, das schwarze Ren, war erschienen. Wie in jedem Jahr. Sie hatte völlig umsonst gefürchtet, dass es nicht auftauchen würde.
Denn es war in jedem Jahr gekommen, und deshalb war es notwendigerweise auch in diesem Jahr da. Denn nichts unterschied das Heute vom Gestern, und sie waren die gleichen Tänzer und das gleiche Ren und das gleiche Fest seit Jahrhunderten.