Wave hatte sich immer für eine exzellente Fahrerin gehalten. Bis zu ihrer Kollision mit dem Schreibtisch.
Sie blinzelte, da war er einfach da. Der Schwebeantrieb bäumte sich gegen das Gewicht des Möbels auf, verlor den Kampf und gemeinsam küssten Holz und Metall mit einem Knall den Asphalt. Die Kollisions-Notfall-Routine – kurz KNR – zerlegte Steuerknüppel und Displays in ihre Atome. Den freigewordenen Platz nahm rosafarbener Rettungsschaumstoff ein. Im richtigen Moment fing er ihren Kopf auf, der Rettungsgurt riss sie zurück in ihren Sitz und nur ein dezenter Geruch von Erdbeere – ihr Lieblingsgeschmack – erinnerte noch an den Aufprall.
Funkensprühend kam der Schweber zum Stillstand. Die KNR schaltete den Motor ab und mit einem Ruck stellte die Schwerkraft auch für das Heck natürliche Bedingungen her. Nach einer Überprüfung der Fahrerseite löste die KNR den Gurt, sprengte die Fahrertür auf und Wave taumelte durch den Nebel der Sprengkapseln nach draußen.
Den Mittelstreifen zierte eine Reihe schulterhoher Betonpfosten, an denen sie keuchend Halt fand. Ihr Herzschlag pochte stechend in ihren Ohren. Jeder Schweber, der hupend an ihr vorbeizog oder rücksichtslos über sie hinweg sauste, ließ sie schmerzhaft zusammenzucken. Dann ebbte der Lärm ab, Stille hüllte sie ein und ihr wurde schwindelig.
»Biowerte«, hauchte sie und ein Querschnitt ihres Körpers erschien vor ihren Augen. Direkt vom Biochip auf die Kontaktlinsen projiziert. Nach und nach färbten sich einzelne Körperteile grün. Das war gut. Bis der Kopf an der Reihe war. Keine gebrochene Nase, auch wenn sich ihr Gesicht so anfühlte, als könnte es jeden Moment in Flammen aufgehen. Auch keine Gehirnerschütterung. Es waren die Ohren, die sich schließlich rot färbten. Diagnose: Geplatztes Trommelfell. Automatisch sandte ihr Biochip ein Signal an die Medizinische Abteilung raus und ein weiteres an die Versicherung.
Wave rutschte am Pfosten hinunter in die Hocke und schlang die Arme um die Knie. Sie schaute zum Trümmerhaufen ihres Schwebers und fühlte sich mies. Richtig mies. Nun könnte man sagen, dass es nicht jeden Tag vorkam, dass ein Schreibtisch vom Himmel stürzte und einem den Motorblock zertrümmerte. Außer man glaubte ihrem alten Fahrlehrer. Ein unendliches Meer an prähistorischem Dschungel umschloss die Zitadellenstadt und wenn es nach ihm ging, konnte es jederzeit passieren, dass eine Vetianische Riesenechse die Stadtmauer durchbrach oder ein Greifvogel versuchte, den Panzer einer Mammut-Schildkröte auf dem harten Asphalt zu knacken. Damals hatte sie darüber gelacht – heute hätte sie so etwas beinahe gekillt. Ein größerer Fallwinkel, ein bisschen mehr Geschwindigkeit oder eine andere Kleinigkeit und dann? Dann wäre es vorbei gewesen.
Sie fuhr sich zitternd durch die Haare, wischte Schweiß und eine Handvoll blau-schwarzer Strähnen beiseite und sah nach oben. Gebäudekomplexe wuchsen um sie herum in die Höhe, verbunden durch Bürosegmente, Einkaufszentren und vereinzelte, dazwischen gequetschte Wohnungen. Sie suchte nach einem Loch in der Fassade oder einer zersplitterten Fensterfront. Stattdessen fand sie nur ein Spiegelbild der Wolken, die unberührt über den blauen Himmel zogen. Deren Bewegung löste ein erneutes Schwindelgefühl aus und Wave wandte den Blick ab, schaute wieder auf die Mitleid erregenden Überreste ihres Schwebers.
»Schrott!«, fluchte sie. Ihre Stimme hörte sich unnatürlich gedämpft an. Die Umrisse von Schreibtisch und Fahrzeug flackerten gelb auf, der schwarze Schriftzug »Schrott« erschien auf einer virtuellen Plakette und heftete sich an den Umriss an. Die Kontaktlinsen hatten ein Bild des Unfalls aufgenommen, markiert und in das Netzwerk der Stadt hochgeladen. Jetzt konnten ihre Freunde, Kollegen und der Rest der Welt darüber herziehen.
Klasse, dachte sie, diesmal ungehört von den verräterischen Sensoren. Das Adrenalin ließ nach, ihre Hände beruhigten sich – sie hatte den ersten Schock überwunden. Immerhin konnte sie sich schon wieder über solche Dinge ärgern.
Die Personen in ihrer Kontaktliste, die sie tatsächlich für ihre Freunde hielt, bildeten einen überschaubaren Kreis. Sie drückte Zeigefinger und Daumen gegeneinander und gab den Befehl »Freunde«. Sie rieb die beiden Finger aneinander und die kurze Liste scrollte vor ihrem Auge einmal nach unten und dann wieder nach oben, bis sie sich entschieden hatte, wen sie um eine Mitfahrgelegenheit anbetteln würde. Zu Fuß wäre sie sonst noch gute zwei Stunden unterwegs.
»Hallo Wave«, meldete sich Hammer. »Hast du Sehnsucht nach deinem Boss?«
Sie verdrehte die Augen. Hammer war nicht wirklich ihr Boss, auch wenn er ihr kleines Arena-Team anführte. Und – bei der Spitze der Zitadelle –, eigentlich nuschelte er doch sonst nicht so. Nein, er konnte ja nichts dafür. Es lag an ihr und ihrem blöden Trommelfell, dass sie ihn nicht verstand. Also aktivierte sie die Untertitel.
»Hey Hammer. Du hast es vielleicht schon gesehen. Wenn nicht, mein Schweber ist im Eimer.«
»Hast versucht, einen Möbeltransporter abzudrängen?«
»Witzig«, gab sie – nur minimal genervt – zurück. »Das Teil ist einfach vom Himmel gefallen. Irgendwo aus dem Hochhaus neben mir.«
»Klar.«
»Ist mir egal, ob du mir glaubst oder nicht. Gleich müssten die Meds auftauchen. Kannst du mich danach nach Hause fahren?«
»Die Meds kommen? Hat’s dich erwischt?«
»Trommelfell ist geplatzt.«
»Scheiße.«
»Hey, ich hab schon Schlimmeres überlebt.« Dort draußen, außerhalb der Stadt, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Hmm. Ich würd dich echt gern mitnehmen, das weißt du. Aber ich komme noch nicht von der Arbeit weg. Und mein Boss schielt schon ganz fies rüber«.
»Cool.« Wave seufzte. Gar nicht cool. »Wir sehn uns später, wenn du ihm entkommen bist?«
»Sicher. Bis dann.« Damit trennte er die Verbindung.
»Brontokacke!«, fluchte sie. Wen sollte sie als Nächstes fragen? Alle anderen aus dem Team hatten weder Schweber noch voreiszeitliche Fossilkarren, geschweige denn Jobs, um sie zu bezahlen. Oder sie waren noch zu jung.In der Hinsicht war sie besser dran. Mit vierundzwanzig hatte sie bereits seit ein paar Jahren einen Job als Beraterin bei der Agentur für Städtische Expansion. Auch wenn das ein Wunder war. Ihre Adoptiveltern hatten sie ihre ganze Kindheit und den Großteil ihrer Jugend über durch die Außenwelt geschleift. Eigentlich hätte sie den Job nicht mal gebraucht – Ihre Eltern hatten ihr genug hinterlassen. Doch das Geld würde sie sicher nicht anfassen. Nicht nach dem, was sie getan hatten. Nicht, nachdem sie ohne ein Wort des Abschieds verschwunden waren.
Während sie weiter grimmig durch die Kontaktliste scrollte, schwebte mit Sirenen und Blaulicht das perlweiße Einsatzfahrzeug der Meds heran. Überdramatisch, sie lag ja nicht im Sterben. Vibrierend hielt der Rettungsschweber hinter dem traurigen Rest ihres eigenen an. Standfüße durchstießen die Haut des Fahrzeugs und zischend sank es zu Boden. Der Med auf der Fahrerseite warf die Tür auf und rutschte träge von seinem Sitz auf die Fahrbahn. Seine blonden Haare waren zu einer jugendlichen Frisur hochgestylt, aber die schwarzen Ringe unter seinen Augen sprachen von vielen Nachtschichten und machten ihn um Jahre älter.
»Bürgerin 8479884«, ratterte er ihre ID herunter und sie erschien auf der Anzeige ihrer Linse. »Anna –«
»Wave«, unterbrach sie ihn, bevor er ihren Namen komplett genannt hatte. Die Leute neigten zu diesem angewiderten Gesichtsausdruck, wenn ihnen dämmerte, wen sie da vor sich hatten. Das wollte sie sich ersparen. Ein weiteres Vermächtnis ihrer Eltern, auf das sie liebend gern verzichtet hätte. Ihr war es lieber, wenn sie mit ihrem Arena-Namen angesprochen wurde.
»Wave«, bestätigte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ihr Biochip hat einen Bericht gesendet. Ich werde einen zweiten Scan durchführen, um die Ergebnisse zu bestätigen.«
Wave nickte.
»Wenn Sie bitte einsteigen würden.« Der Med zog eine Schiebetür an der Seite des Schwebers auf, kletterte voraus und reichte ihr die Hand, um ihr hinein zu helfen. »Setzen Sie sich bitte.« Er zeigte auf eine schlichte, weiße Pritsche, die genauso unbequem war, wie sie aussah. »Nicht erschrecken, die Sensoren sind kalt.« Mit geübtem Handgriff platzierte er einige Metallplättchen an ihren Schläfen.
Aus einer Nische schoss eine handtellergroße Drohne heraus und Wave zuckte instinktiv zurück. Wenn man so lange in der Außenwelt gelebt hatte, betrachtete man alles, was flog, mit einer gebührenden Portion Respekt. Doch die Drohne erwies sich als harmlos und schwebte nur einige Male vor ihr auf und ab.
»Alles klar«, schloss der Med seine Untersuchung ab. »Keine weiteren Schäden. Nur ein geplatztes Trommelfell. Laut Versicherung steht Ihnen ein Hörgerät KA-0X1 zu, bis Ihr Körper die selbständige Regeneration abgeschlossen hat.«
»Ein Hörgerät?«, hakte Wave nach und zog die Silben ungläubig in die Länge. »Ich glaube, meine Untertitel spinnen. Das sollte doch im MedCenter in ein paar Sekunden erledigt sein. Selbst in der Außenwelt hatten wir Ausrüstung dabei, mit der wir Wunden in Null-Komma-Nichts heilen konnten. Und die waren viel ernster.«
»Das stimmt«, gab der Med zu. »Die Kanter-Gruppe distanziert sich momentan von biologischen Eingriffen und verfeinert alternative Heilungsmethoden. Die Änderungsklausel haben Sie bereits unterschrieben. Hier. Sehen Sie selbst.«
Ein roter Punkt am Rand ihres linken Auges begann zu blinken, schwoll mit steigender Frequenz zu aufdringlicher Größe an.
»Ist ja gut.« Sie legte ihre Finger aufeinander und befahl: »Öffnen«. Ein Dokument erschien, öffnete sich und sprang direkt zu der besagten Klausel. Ja, die hatte sie tatsächlich bestätigt. »So eine Sauerei.« Wave verzog die Mundwinkel. »Diese Dinger kommen immer früh morgens, direkt beim Aufstehen. Wenn ich sie nicht sofort beantworte, raubt mir das Geblinke echt den letzten Nerv.«
»Ein Tipp.« Der Med senkte die Stimme. »Fordern Sie einfach trotzdem eine Behandlung an. Abtrittsklausel unterschreiben, dann ist das Ganze in ein oder zwei Tagen per Schnell-OP erledigt.«
Wave seufzte. Und so lang war sie ein Testobjekt für das Hörgerät der Kanter-Gruppe.
»Besser als zwei Wochen auf Heilung zu warten«, sagte der Med schulterzuckend und startete den Synth. »KA-0X1. Einmal«, befahl er. Nun lud sich der Synth alle Informationen aus der medizinischen Datenbank runter und begann, das Hörgerät zu drucken. Synths waren geiler Scheiß. Wer einen in der Wildnis dabei hatte, konnte aus einem Stück Holz und ein bisschen Dreck, die er oben hineinsteckte, unten ein Fünf-Gänge-Menü herauszaubern. Wie das möglich war? Alien-Technik, die den Verstand eines Menschen einfach überforderte. Zumindest ihren.
»Kontaktlinse?«, fragte der Med.
Wave nickte. Die Kontaktlinse, oder einfach nur Linse, war ihre Steuerungsschnittstelle mit der Stadt. Ältere Modelle gab es als Brillen, hin und wieder sah man auch noch jemanden, der mit einem antiken Implantat herumlief, das ein ganzes Auge ersetzt hatte. Die ganz Verrückten oder die Wohlhabenden ließen sich die Schnittstelle gleich in den Kopf einpflanzen. Steuerung allein mit den Gedanken klang verlockend, ohne die richtige Disziplin konnte das auch mal nach hinten losgehen. Dass einem der Kopf qualmte, war heutzutage nicht umsonst keine reine Redewendung mehr.
»Sie können das Hörgerät mit Ihrer Linse synchronisieren.« Er überreichte ihr eine durchsichtige Folie, die von kaum wahrnehmbaren Silberfäden durchzogen war. »Hier die Anleitung.« Erneutes Blinken im Augenwinkel. Ein Piktogramm, das ihr zeigte, wie man die Folie anzubringen hatte.
Sie hielt die Folie an ihre Ohrmuschel. Das war nicht das erste Mal, dass ihr eine Spinne über das Ohr krabbelte. Es gab dort draußen sogar Sorten, die ihre Eier im Gehörgang ablegten. Dieses Kribbeln war jedoch eins der harmlosen Sorte. Die Folie haftete sich an und danach war sie nicht mehr zu spüren. Mit einem sanften Übergang erhöhte sich die Umgebungslautstärke wieder auf das gewohnte Maß.
»Synchronisation«, befahl sie. Es erschien eine lange Liste mit den Geräten in der Umgebung, die noch mit keiner Schnittstelle verbunden waren. Das Hörgerät war nicht dabei. »Komisch, taucht nicht in der Liste auf.«
»Vielleicht probieren Sie es daheim«, empfahl der Med. »Hier gibt es sicher zu viele Störsignale. In dieser Gegend gibt es haufenweise Cyberläden, dort oben ein paar Sendestudios der Kanäle, außerdem ...«
Eine große Drohne surrte direkt an der Tür des Schwebers vorbei und der Rest des Satzes ging im Lärm der Rotoren unter. Blaue Farbe, mit dem gelben Logo der Kanter-Gruppe. Sie umflog das Wrack und die nächste Nachricht erschien. Die Versicherung hatte die Unfallstelle untersucht und würde sich um den Rest kümmern. Zeit bis ein Service-Team die zerstörten Teile per Synth nachgebaut und ausgetauscht haben würde: 2 Tage, 5 Stunden, 32 Minuten und 4 Sekunden. 3, 2, 1. Das war eindeutig zu lange. Hatte sie Anspruch auf ein Ersatzfahrzeug? Natürlich nicht.
Wave setzte das überzeugendste Lächeln auf, zu dem sie in der Lage war. »Sie haben nicht zufällig Lust, mich nach Hause zu fahren?«
Der Med lachte. Ja, Männer um den kleinen Finger zu wickeln, das war eigentlich nicht ihre Stärke. Doch hier hatte sie einen mit gutem Kern erwischt. »Klettern Sie nach vorne, zur Not denke ich mir einen Grund aus und setze es der Versicherung mit auf die Rechnung.«
Nun lächelte sie wirklich.
Als sie es sich im großen Sitz des Schwebers bequem gemacht hatte, drang Musik aus den Boxen der Soundanlage. Das nahm dem Fahrzeug seine Sterilität und auch der letzte Rest Anspannung fiel von ihr ab.
»CCR begleitet Sie in den Feierabend,« empfing sie die wohlklingende Stimme ihres Lieblingsmoderators. »Mein Name ist Aki und dieser Song ist für alle, die noch immer dort draußen sind, auf dem Weg nach Hause.« Also genau für sie.
»Ist es verrückt, sich in die Stimme eines Menschen zu verlieben, ohne zu wissen, wer es wirklich ist?«, fragte sie, mehr sich selbst, als irgendwen sonst.
»Nun, meine Kollegen würden es verrückt finden, wenn ich sowas über irgendeinen Kerl im Radio sagen würde.« Er zwinkerte ihr zu, setzte den Blinker und beschleunigte.
Im Rückspiegel sah sie einen anderen Schweber heranfliegen. Schwarz war er und er verringerte seine Geschwindigkeit, bis er das Wrack erreicht hatte.
»Die Hypothermieabteilung«, stellte der Med fest und fuhr mit gestellt ernster Stimme fort: »Sie haben doch nicht etwa eine tiefgefrorene Leiche im Kofferraum, oder?«
Wave schrak zusammen. Das hatte sie kalt erwischt. Die Hypothermieabteilung kam nur dann, wenn es für die Meds zu spät war, aber für einen Leichenwagen zu früh. Sie legten Menschen auf Eis, um sie später zu retten – irgendwann, wenn die Medizin mal dazu in der Lage war.
»Nein«, entgegnete sie, ohne Humor in ihrer Stimme.
Denn sie erkannte, weswegen sie gekommen waren.
Unter dem Wrack ihres Schwebers ragte, kaum sichtbar, der Arm eines Menschen hervor.